Eine Beziehung besonderer Art
Die westdeutschen Bundeskanzler Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl und die Ostdeutschen 1970-1989
Hermann Wentker
/ 28 Minuten zu lesen
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Wie entwickelte sich das Verhältnis der drei Bundeskanzler Brandt, Schmidt und Kohl zu den Ostdeutschen und zur Deutschen Einheit zwischen 1970 und 1989? Alle drei bauten eine besondere Beziehung in die DDR auf.
Als Bundeskanzler Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 kurz vor Gesprächen mit DDR-Ministerpräsident Hans Modrow in Dresden vor der Frauenkirche öffentlich auftrat, jubelten ihm zahlreiche Menschen begeistert zu. Kohl befand sich auf einem schmalen Grat, da er die nationale Begeisterung nicht allzu sehr dämpfen, aber auch nicht eskalieren lassen wollte. Daher beschränkte er sich auf die Worte: „Mein Ziel bleibt – wenn die geschichtliche Stunde es zulässt – die Einheit unserer Nation.“
Dennoch sah Kohl in seinem Auftritt in Dresden und dem öffentlichen Zuspruch „ein Schlüsselerlebnis im Prozess der Wiedervereinigung“: Denn nun war ihm klar, dass die Situation – im Unterschied zum 28. November 1989, als er im Bundestag sein deutschlandpolitisches Zehn-Punkte-Programm vorgelegt hatte, in dem von „konföderativen Strukturen“ die Rede war – ein sehr viel schnelleres Vorgehen auf dem Weg zur Einheit ermöglichte und erforderte.
Vor den für den 18. März 1990 angesetzten Interner Link: Volkskammerwahlen sagten die meisten Umfragen einen überwältigenden Sieg für die Ost-SPD voraus. Anders das Allensbach-Institut, das sich nicht, wie die anderen Institute, auf Telefonumfragen verließ, die angesichts der geringen Anzahl von Telefonanschlüssen in der DDR ein verzerrtes Bild boten. Daher kann davon ausgegangen werden, dass, trotz der ermittelten schlechten Umfragewerte auch für Kohl persönlich, die breite Masse anders dachte.
Es ist zwar naheliegend, von einem „Zweckbündnis zwischen ostdeutscher Bevölkerung und Kohl aufgrund des Versagens der Bürgerrechtsbewegung in der Frage der deutschen Einheit“ zu sprechen. Diese Charakterisierung greift indes zu kurz, vernachlässigt sie doch die Beziehung besonderer Art, die seit dem ersten Auftritt Willy Brandts am 19. März 1970 in der DDR zwischen den Bundeskanzlern und den Ostdeutschen geknüpft worden war und die dazu beigetragen hatte, dass sich letztere „ein hohes Bewusstsein der Zusammengehörigkeit mit dem anderen Teil Deutschlands bewahrt“ hatten.
Worauf beruhte diese Beziehung, wie drückte sie sich aus, welche Wirkungen hatte sie? Diesen Fragen wird im Folgenden anhand der Bemühungen um menschliche Erleichterungen von Seiten der Bundeskanzler Willy Brandt (SPD), Helmut Schmidt (SPD) und Helmut Kohl (CDU), ihren Auftritten in der DDR und den Reaktionen aus der ostdeutschen Bevölkerung nachgegangen.
I. Willy Brandt
Bereits als Willy Brandt 1966 Außenminister in der Großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger wurde, notierte er sich für die Regierungserklärung: „Diesseits völkerrechtlicher Anerkennung der ‚DDR‘: energisches Bemühen um innerdeutsche Beziehungen im Interesse der Menschen.“ Damit stimmte er grundsätzlich mit Kiesinger überein, der zwar weiterhin an der Nichtanerkennung der DDR festhielt, aber auch „die menschlichen, wirtschaftlichen und geistigen Beziehungen mit unseren Landsleuten im anderen Teil Deutschlands mit allen Kräften fördern“ wollte.
Da dies unter Umgehung der DDR-Regierung unrealistisch war, und da Moskau damals Bonn nicht entgegenkommen wollte, ergaben sich erst nach dem Regierungswechsel von 1969 realistische Möglichkeiten, hier weiterzukommen. Brandt wollte „ein weiteres Auseinanderleben der deutschen Nation verhindern, also versuchen, über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen.“ Wenn aber die Einheit der Nation im Bewusstsein der Deutschen erhalten bleiben sollte, mussten Ost- und Westdeutsche wieder mehr Kontakt- und Besuchsmöglichkeiten bekommen. Brandt ging fest davon aus, dass die Menschen in beiden Teilen Deutschlands von einem Erfolg seiner Politik profitieren würden. Nach einem offenen Briefwechsel zwischen Brandt und DDR-Ministerpräsident Willi Stoph wurde nach einigem Hin und Her eine Zusammenkunft der beiden Regierungschefs in Erfurt am 19. März 1970 vereinbart. Dieses Treffen wirkte elektrisierend auf die ostdeutsche Bevölkerung.
Laut einem Stasi-Bericht stand das Treffen 1970 schon im Vorfeld „im Mittelpunkt aller politischen Diskussionen“ – nicht nur in Erfurt. Die Bevölkerung machte sich dabei nicht die Forderung der DDR-Führung nach völkerrechtlicher Anerkennung zu eigen, sondern forderte von dieser mehr Kompromissbereitschaft. Die Ostdeutschen verbanden höchst unterschiedliche Wünsche mit dem Treffen, die von Reiseerleichterungen über die Öffnung der Grenzen „bis zur Wiedervereinigung“ reichten.
Die Stasi fing Briefe mit ganz ähnlichen Forderungen ab, darunter auch eine Postkarte mit dem Text: „Alle Hoffnungen unserer Bürger liegen bei Ihnen Herr Brandt. Wir möchten Reisen [sic]!“ Und in zwei anonymen Briefen betonten die Absender ihre Hoffnung, dass mit den von Brandt begonnenen Lockerungen und Verhandlungen letztlich ein Weg zur Wiedervereinigung gefunden werden könne.
Nachdem Brandts Sonderzug die innerdeutsche Grenze passiert hatte und sich in den Morgenstunden des 19. März über Eisenach und Gotha Erfurt näherte, wurde der Bundeskanzler trotz Abschirmung der Bahnstrecke durch die Volkspolizei von zahlreichen winkenden Menschen begrüßt, was auf ihn nicht ohne Wirkung blieb. Nach dem Treffen mit Stoph auf dem Erfurter Bahnhof skandierten die hinter den Sperrketten Versammelten: „Willy, Willy“ und dann: „Willy Brandt“. Als die beiden sich auf den kurzen Weg über den Bahnhofsvorplatz zum Hotel begaben, durchbrach die Menge die Absperrungen. 2.000 Menschen stürmten den Platz, sodass die Delegationen nur mit Mühe in den „Erfurter Hof“ hineinkamen. Jetzt forderte die Menge: „Willy Brandt ans Fenster!“ Nach Aufforderung durch seinen Pressechef Conny Ahlers zeigte er sich. Brandt selbst schildert die bekannte Szene wie folgt:
„Ich war bewegt. Doch ich hatte das Geschick dieser Menschen zu bedenken: Ich würde anderntags wieder in Bonn sein, sie nicht … So mahnte ich durch Bewegung meiner Hände zur Zurückhaltung. Man hat mich verstanden. Die Menge wurde stumm. Ich wandte mich schweren Herzens ab. Mancher meiner Mitarbeiter hatte Tränen in den Augen.“
Nun konnten die Ordner den Platz räumen. Aber bundesdeutsche Journalisten notierten, dass die Menschen unter anderem Reisefreiheit, Meinungsfreiheit und freie Wahlen forderten und fragten, warum es denn falsch sein solle zu sagen, „ Eine weitere Begegnung mit Ostdeutschen gab es am Nachmittag desselben Tages, als Brandts Wagenkolonne von der Gedenkstätte Buchenwald nach Erfurt zurückkehrte. Wieder säumten „viele Tausend Bürger ohne Aufforderung die Straßen“ und winkten ihm zu.
Nach seiner Rückkehr nach Bonn erklärte Brandt im Bundestag, seine Reise nach Erfurt sei „gewiß ein starkes menschliches Erlebnis [gewesen]. Dies gilt besonders für die Begegnung mit den Landsleuten, die in der DDR leben.“
Es wäre zu weitgehend, in den Äußerungen der Ostdeutschen Demonstrationen für die deutsche Einheit zu sehen, auch wenn diese Forderung immer wieder auftauchte. Unübersehbar aber war, dass Brandt eine Welle der Sympathie entgegenschlug. Denn den ihm zujubelnden Menschen war bewusst, dass er ihr Schicksal erleichtern und ihnen Kontakte zu ihren Landsleuten in der Bundesrepublik ermöglichen wollte. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) hielt im Anschluss an den Besuch fest, wie beeindruckt die Menschen von ihm gewesen seien; es registrierte in der ganzen DDR Anzeichen, die auf eine „Aufwertung der Person Brandts und der SPD als Regierungspartei schließen“ ließen. Da Brandt „von Mensch zu Mensch“ gesprochen habe, müsse dies der ermittelten „öffentlichen Meinung“ zufolge durch „entsprechendes Entgegenkommen“ von der DDR „honoriert“ werden. Dem MfS zufolge verlangten die Menschen weitere Fortschritte auf dem Weg der innerdeutschen Entspannung.
Brandt selbst war gerührt durch die Bekundungen ehrlicher Zuneigung. Er erkannte einerseits, worum es den Ostdeutschen ging; andererseits wollte er ihnen keine übertriebenen Hoffnungen machen, da er wusste, dass mit seiner Politik eine Wiedervereinigung allenfalls auf lange Sicht zu erreichen war. Schon gar nicht wollte er sie zu unbedachten Handlungen verleiten, die ihnen Repressionen einbringen konnten. Gleichwohl war zwischen dem Bundeskanzler und den Ostdeutschen eine besondere Beziehung entstanden: DDR-Bürgerinnen und -Bürger setzten ihre Hoffnungen auf ihn, und Brandt fühlte sich durch ihren Zuspruch ermutigt, den begonnenen Weg fortzusetzen.
Auch nach dem Besuch blieb diese Beziehung intakt. So registrierte das MfS große Zustimmung zum Interner Link: Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 , wobei der sowjetischen Führung größere Klugheit als der dogmatischen ostdeutschen attestiert wurde. Letztere müsse nach Auffassung vieler Menschen die „Primärforderung“ nach völkerrechtlicher Anerkennung aufgeben; der Regierung Brandt vertraute man hingegen, da diese Fortschritte „in der Deutschlandpolitik und in der Annäherung zwischen beiden deutschen Staaten erreichen“ könne.
Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Brandt und das überstandene Misstrauensvotum veranlasste Ostdeutsche zu Gratulationsschreiben; nach dem Wahlsieg vom 19. November 1972 erreichten ihn zahlreiche Glückwunschbriefe und -telegramme aus der DDR. Darin machte sich auch Wunschdenken breit: So erhofften sich viele nicht nur weitere menschliche Erleichterungen, sondern auch die „baldige […] Wiedervereinigung Deutschlands“. Diese Hoffnung sollte sich zwar nicht erfüllen. Dafür unterzeichneten aber der westdeutsche Unterhändler Egon Bahr und sein ostdeutsches Pendant Michael Kohl am 21. Dezember 1972 den Grundlagenvertrag.
Brandt verlor die Ostdeutschen auch danach nicht aus den Augen. In seiner Regierungserklärung vom 18. Januar 1973 stellte er fest:
„Millionen unserer Landsleute haben in den vergangenen Wochen erfahren, daß Berlin-Abkommen, Verkehrsvertrag und Grundvertrag […] insgesamt Ergebnisse einer Politik sind, die dem Menschen dienen will und die ihm auch konkret dient. Daß Familien und Freunde aus alten Tagen wieder zueinander finden, zählt viel für die Zusammengehörigkeit der Deutschen, die auch unter den Existenzbedingungen zweier entgegengesetzter Gesellschaftssysteme ein Volk bleiben wollen.“
Doch die DDR setzte nun wieder auf eine strikte Abgrenzungspolitik. Das bedeutete nicht nur, dass sie jeglicher Wiedervereinigungsrhetorik eine strikte Absage erteilte und zahlreiche Institutionen und Organisationen umbenannte, um das Wort „deutsch“ oder „Deutschland“ zu streichen und, wenn möglich, durch „DDR“ zu ersetzen. Da sie auch die nun ermöglichten, vermehrten Kontakte von West- und Ostdeutschen erheblich reduzieren wollte, verdoppelte sie per Anordnung vom 5. November 1973 den Zwangsumtausch bei DDR-Besuchen von 10 D-Mark auf 20 D-Mark pro Tag – und bezog Rentner hier ausdrücklich mit ein. Dies empfand der Bundeskanzler als regelrechten Schlag ins Gesicht. Denn die damit verbundene Halbierung der Besucherzahlen traf Brandt zufolge „unsere Politik im Kern“. Er bat sogar Breschnew, „diesem Problem [seine] Aufmerksamkeit [zu] widmen“ – eine kaum verklausulierte Aufforderung, die DDR zur Zurücknahme der Erhöhung zu bewegen. Der Vorstoß war indes erfolglos.
Als Brandt am 6. Mai 1974 nach Aufdeckung des in seinem engsten Umfeld tätigen Stasi-Spions Günter Guillaume zurücktrat, stieß dies, wie die Stasi berichtete, auf „sehr starkes Interesse“ in der ganzen DDR-Bevölkerung. Die meisten waren offensichtlich bestürzt; einige äußerten den Verdacht, die DDR-Führung habe den Sturz Brandts herbeigeführt, „damit in Zukunft eine CDU-geführte Bundesregierung in Westdeutschland regieren könne“ und Ost-Berlin seine Abgrenzungspolitik erleichtert werde. Bei einem späteren Besuch Brandts in der DDR traf sich dieser am 19. September 1985 mit Erich Honecker. Während der ganzen Reise gelang es dem MfS, mit Hilfe von Stasi-Mitarbeitern dem Interesse Brandts nach Treffen mit DDR-Bürgern entgegenzukommen, ohne dass die Öffentlichkeit involviert war. Ein Eklat wie 1970 in Erfurt konnte damit zwar vermieden werden; an dem weiterhin großen Zuspruch für Brandt änderte dies jedoch nichts.
II. Helmut Schmidt
In der Amtszeit von Brandts Nachfolger glaubten Klaus Bölling zufolge manche DDR-Bürger, „daß Helmut Schmidt anders als Willy Brandt an der DDR nicht sonderlich interessiert sei, daß sich der Hamburger schwertue, eine emotionale Beziehung zu ihnen zu finden, kurzum, daß er das Thema schleifen lasse“.
Auch wenn Schmidt tatsächlich weniger Emotionen zeigte als Brandt, besteht an seinem Engagement für die Ostdeutschen kein Zweifel. Denn er fühlte sich, wie er es gegenüber dem SED-Politbüromitglied Günter Mittag ausdrückte, „mitverantwortlich […] für das Schicksal der Deutschen in der DDR und Berlin, auch wenn er das nicht öffentlich sage“. Und er fügte hinzu, er sehe „seine Aufgabe darin, den Zusammenhalt der Deutschen in diesen schwierigen Zeiten zu wahren.“
Um „den Willen des ganzen Volkes zur nationalen Einheit aufrechtzuerhalten“, kam es ihm darauf an, „die Verbindungen zwischen beiden Teilen soweit wie nur irgend möglich zu stärken“. Dabei stand für ihn fest, dass die Ostdeutschen die Adressaten westdeutscher Hilfe sein mussten und dass dies Geld kosten würde, das die Bundesrepublik selbstverständlich aufbringen werde.
In seiner pragmatischen Politik gegenüber der DDR erreichte Schmidt, dass diese die 1973 erhöhten Zwangsumtauschsätze Ende 1974 von 25 auf 13 DM pro Tag senkte und Rentner völlig vom Zwangsumtausch befreite. Im Gegenzug wurde der von der Bundesrepublik gewährte Swing – ein zinsloser Überziehungskredit im innerdeutschen Handel – zwischen 1976 und 1981 auf eine Summe von 850 Millionen D-Mark erhöht. Außerdem brachte er Verhandlungen über den Ausbau und die Verbesserung der Verkehrswege nach Berlin auf den Weg. Dabei blieb es jedoch, da Ostberlin zwar die Entspannungspolitik zu einer verstärkten Kreditaufnahme und einer engeren wirtschaftlichen Kooperation mit dem Westen nutzen wollte, sich gleichzeitig aber aufgrund der zunehmenden Kontakte zwischen Ost- und Westdeutschen zu einer stärkeren Abgrenzung von der Bundesrepublik genötigt sah.
Dennoch konnten bis 1980 drei größere Verkehrsprojekte mit der DDR realisiert beziehungsweise vereinbart werden. Schmidt nutzte überdies zahlreiche Auftritte im Bundestag, um immer wieder sein deutschlandpolitisches Credo darzulegen: So müssten die Gespräche und Vereinbarungen zwischen der Bundesregierung und der DDR-Führung „die menschlichen, wirtschaftlichen und geistigen Beziehungen zwischen den Deutschen bessern […], welche verhindern sollen, daß das deutsche Volk sich von Jahr zu Jahr auseinanderlebt“.
Die Bundesregierung jedenfalls werde sich bemühen, „die Kontakte zwischen den Deutschen zu vermehren, die politischen Gegensätze zu dämpfen und die Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten auszubauen“. Im Einzelnen führte er den Ausbau der Telefonleitungen, den massiven Anstieg der Reisen in die DDR, von der Bundesrepublik ermöglichte Ausreisen und den Freikauf von Häftlingen an. Auf der anderen Seite bedauerte er, dass die DDR immer wieder das Reisen behindere: Das betreffe einerseits Westdeutsche, die in die DDR einreisen wollten, und andererseits Ostdeutsche, von denen lediglich 40.000 pro Jahr unterhalb des Rentenalters in die Bundesrepublik fahren dürften. Vor diesem Hintergrund stellte er fest:
„Für die Einheit der Nation und für die Menschen, die ihr angehören, weiter nach Wegen der Öffnung zu suchen, ist ein Prozeß, der Beharrlichkeit verlangt, der Tapferkeit nach Rückschlägen verlangt, und viel, viel Geduld erfordert.“
Das Thema „Westreisen“ war, wie Schmidt vom Bundesnachrichtendienst (BND) wusste, eines der wichtigsten Anliegen von Ostdeutschen. DDR-Bürgerinnen und Bürger versprachen sich daher von dem für August 1980 vorgesehenen Arbeitsbesuch des Bundeskanzlers bei Honecker „überwiegend ‚Erleichterungen im Reiseverkehr zwischen der DDR und der BRD‘ und eine mögliche ‚Herabsetzung der Altersgrenzen für Reisen von DDR-Bürgern in die BRD‘“. Ostdeutsche projizierten noch weitere Wünsche auf den Besuch, die zum einen um Reisen und Ausreisen in die Bundesrepublik, zum anderen um eine verbesserte wirtschaftliche Versorgung mit hochwertigen Konsumgütern kreisten. Mit Blick auf Helmut Schmidt registrierte das MfS vor allem folgendes:
„Im Zusammenhang mit den Diskussionen vorgenannter inhaltlicher Fragen werden teilweise Auffassungen deutlich, die die Rolle Schmidts im Entspannungsprozeß überbewerten und insbesondere seiner Person alle bisher auf verschiedenen Gebieten erzielten Fortschritte der Beziehungen beider deutscher Staaten zuzuschreiben versuchten.“
Schmidts Politik war folglich auch unter Ostdeutschen „angekommen“: Zu Recht sahen sie in ihm denjenigen, der sie bisher am nachhaltigsten in ihren zentralen Anliegen unterstützt hatte. Und ihnen war dem MfS zufolge auch klar, dass der von Dierhagen an der Ostsee zum abgelegenen Jagdschloss Hubertusstock verlegte Begegnungsort gewählt worden war, um „eine Wiederholung von ‚Sympathiekundgebungen‘ analog des Brandt-Besuchs in Erfurt, die Übergabe schriftlicher Forderungen/Petitionen an Schmidt, den Auflauf einer größeren Menschenmenge sowie Kontakte Schmidts zur DDR-Bevölkerung generell [zu] verhindern“. Das bedeutete umgekehrt, dass solche Sympathien vorhanden waren, die die Menschen auch zeigen wollten.
Da die SED-Führung angesichts der von Danzig ausgegangenen Streikbewegung in Polen gleichzeitig mit der Verlegung des Treffens auch den ursprünglich geplanten Besuch Rostocks gestrichen hatte, blieb Schmidt keine andere Wahl, als das Treffen zu verschieben. Darüber hatte dieser in größerer Runde ausführlich beraten und anschließend Honecker die Entscheidung telefonisch mitgeteilt. Bölling hielt rückblickend fest, dass die ganze Runde nach dem Telefonat bedrückt gewesen sei:
„Wir wußten ja, wie viele Deutsche in der DDR auf ein Zeichen der Zusammengehörigkeit warteten. Durch Besucher aus der DDR war uns berichtet worden, daß ein Besuch von Helmut Schmidt von den Bürgern nicht als Verbeugung vor der Staats- und Parteiführung verstanden würde, sondern als Indiz für ein aufrichtiges Interesse des Bundeskanzlers an einer verbesserten Kooperation, vor allem aber als ein Beweis seiner inneren Zuwendung zu den Deutschen in diesem Staat.“
Doch Schmidt blieb gesprächsbereit. Nach der Bundestagswahl am 5. Oktober 1980, die die sozial-liberale Koalition bestätigt hatte, bekannte er sich gegenüber Honecker zu einem weiteren Ausbau der bilateralen Beziehungen. Die DDR-Führung jedoch erhöhte am 9. Oktober den Zwangsumtausch wieder von 13 auf 25 D-Mark pro Besuchstag und nahm auch Rentnerinnen und Rentner nicht mehr davon aus. Für Kinder zwischen sechs und 15 Jahren mussten erstmals 7,50 D-Mark pro Tag umgetauscht werden. Am 13. Oktober belastete Honecker durch die sogenannten Geraer Forderungen das innerdeutsche Klima weiter: Die Bundesrepublik sollte die DDR-Staatsbürgerschaft anerkennen, die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter auflösen, die Ständigen Vertretungen in Botschaften umwandeln und dem Grenzverlauf auf der Elbe nach internationalem Recht – also in der Mitte des Talwegs – zustimmen. Hintergrund des verschärften Abgrenzungskurses war die prekäre Situation der DDR zwischen dem zunehmend instabilen Polen auf der einen und der permanenten Herausforderung durch die Bundesrepublik auf der anderen Seite.
Das war ein schwerer Schlag für Helmut Schmidt. Doch trotz seiner Kritik im Bundestag forderte er die Westdeutschen auf, auch künftig in die DDR zu reisen. Denn beide Seiten müssten „einander gegenseitig […] begreifen“, und die Ostdeutschen müssten „im Gespräch unsere Zuneigung spüren können“.
Trotz seiner Abgrenzungssignale wollte Honecker die Fäden zur Bundesrepublik nicht abreißen lassen, sodass er an der Einladung Schmidts in die DDR festhielt. Dabei traf er auf dessen ungebrochenen Willen, sich zum Nutzen der Ostdeutschen mit ihm zu treffen. Der Bundeskanzler wollte damit zum einen „das Selbstwertgefühl Honeckers“ heben, um „zu einer wachsenden Souveränität und Großzügigkeit der DDR-Regierung im Umgang mit den von ihr regierten Bürgern beizutragen“; zum anderen wollte er Letzteren zeigen, „daß wir keine Krokodilstränen weinten, sondern mit Engagement und unter Inkaufnahme manchen Risikos uns für ihre Interessen einsetzten.“ Und er fügte hinzu: „Ich wußte, die große Mehrheit der DDR-Bürger blickte mit Zustimmung und mit Hoffnung auf dieses Treffen.“
Als Bölling, inzwischen „Ständiger Vertreter“ der Bundesrepublik in Ostberlin, Schmidt von seinen Besuchen im nördlichen Brandenburg berichtete, spürte er, „wie wichtig dem Hamburger die bevorstehende Reise in diese deutsche Region geworden war“. Schmidt handelte folglich nicht nur aus rationalem Kalkül, sondern sah aufgrund seines genuinen Interesses an Land und Landsleuten dem Besuch auch mit Vorfreude entgegen.
Die Visite vom 11. bis zum 13. Dezember brachte inhaltlich allerdings keine Fortschritte. Der Ertrag lag im Atmosphärischen: Dass die führenden Politiker beider Staaten miteinander redeten – trotz der seit 1979 zunehmenden weltpolitischen Spannungen –, wurde von beiden als Gewinn angesehen. Den Kontrapunkt zu der Spitzenbegegnung im Jagdschloss Hubertusstock setzte der Besuch in Güstrow, bei dem der Bundeskanzler zum Entsetzen der bundesdeutschen Delegation mit einem Großaufgebot von Sicherheitskräften mit und ohne Uniform von den Bürgern der Stadt abgeschirmt wurde. Im Anschluss an das Treffen schilderte Bölling Schmidt die Reaktion der DDR-Bürger, deren Mehrheit glaube,
„durch das Werbellin-Treffen eine neue Phase der Beziehungen eingeleitet zu sehen, in deren Verlauf etwas grundsätzlich zu ihren Gunsten verändert werden kann. Die Mehrheit versteht Ihren Besuch als Nachweis der Fürsorgepflicht, die dem Regierungschef des freien Deutschland in besonderem Maße aufgegeben ist. Und diese Mehrheit mahnt uns, Honecker, was seine Andeutungen zum zweiseitigen Verhältnis anlangt, nicht aus dem Obligo zu lassen.“
Die beklemmenden Stunden in Güstrow empfanden viele Ostdeutsche Bölling zufolge „als ein aufrüttelndes Signal, als unübertreffliche Dokumentation jenes Widerspruchs zwischen Schein und Wirklichkeit, unter der die Deutschen hier häufig mehr leiden als unter ökonomischen Schwierigkeiten“. Die DDR-Bürger hatten also die Motivation, aus der Schmidt heraus gehandelt hatte, voll und ganz verstanden – und aus diesem Verständnis erwuchs die Mahnung an diesen, bei Honecker weiter auf Reiseerleichterungen zu insistieren.
Schmidts Besuch hatte die SED-Führung überdies gezwungen, ihre diktatorische Seite nach außen zu kehren: Denn anders als diese behauptete, standen viele Ostdeutsche eben nicht hinter ihr, sondern hätten dem Bundeskanzler gern zugejubelt. Böllings Fazit lautete: „Jedenfalls ist das Gefühl der Zusammengehörigkeit durch Ihre Reise gestärkt worden.“ Als Schmidt dies las, wünschte er sich, „dieser Satz möge wahr sein“. Wenngleich die Ostdeutschen und Schmidt – anders als die Ostdeutschen und Brandt elf Jahre zuvor – sich 1980/81 nicht begegneten, zeigen diese Zeugnisse, dass auch zwischen ihnen eine besondere Beziehung bestand.
Schmidts anhaltendes Interesse an den Ostdeutschen wird auch daran deutlich, dass er nach Ausscheiden aus seinem Amt fast jedes Jahr privat in die DDR fuhr. Jetzt erst kam er in Kontakt mit DDR-Bürgern. Auf seiner ersten Reise Anfang September 1983 auf Einladung von Konsistorialpräsident Manfred Stolpe und Altbischof Albrecht Schönherr besuchte er einen Gottesdienst in Wittenberg, hielt einen Vortrag vor etwa 100 Zuhörern im Potsdamer Oberlin-Haus und traf abschließend Honecker.
Die zweite Reise, Mitte Februar 1985, führte ihn nach Dresden zur Wiedereröffnung der Semperoper und erneut nach Ost-Berlin zu Honecker. Im Oktober 1986 sprach Schmidt vor 1.400 Menschen in der Potsdamer Nikolaikirche. Er sprach über die besondere Verantwortung der Deutschen für den Frieden, äußerte sich aber auch zur deutschen Frage: Einerseits müssten die Deutschen lernen, „mit der Teilung zu leben“, deren Dauer man nicht kenne, andererseits dürften sie „das Ziel einer schrittweisen Überbrückung der Grenzen, einer schrittweisen Herstellung eines gemeinsamen Daches nicht aus den Augen verlieren“. Stolpe dankte ihm brieflich für die „Ermutigung zum Glauben und zum Deutschsein“; der ehemalige Bundeskanzler sei überdies so populär, dass „in Potsdam wieder der Handel mit Schmidt-Fotos“ blühe.
Am 18. Juni 1988 trat Schmidt auf dem Kirchentag in Rostock auf. Obwohl sein Besuch streng geheim gehalten worden war, drängten sich drei- bis viertausend Besucher in der Marienkirche. Er sprach über das Thema „Brücken bauen“ und mahnte die DDR-Führung, Grenzen nicht zu perpetuieren, sondern zu überwinden. Außerdem machte er unter starkem Beifall den Ostdeutschen Mut, indem er auf Michail Gorbatschow verwies, der in seinem Buch „Perestroika“ die Zukunft Deutschlands offengelassen habe: „Jeder von uns darf an der Hoffnung auf ein gemeinsames Dach über der deutschen Nation festhalten.“
III. Helmut Kohl
Als Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 vom Deutschen Bundestag in einem konstruktiven Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt zum Bundeskanzler gewählt wurde, wirkte sich dies auch auf die Deutschlandpolitik aus, allerdings in einem geringeren Ausmaß als erwartet. Der neue Bundeskanzler wollte keineswegs zu einer konfrontativen Linie gegenüber der DDR zurückkehren.
Kohl beharrte allerdings deutlicher als seine beiden Amtsvorgänger auf bestimmten deutschlandpolitischen Prinzipien. So hob er bereits in seiner Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 die weiterhin bestehende Einheit der deutschen Nation hervor, erinnerte an den Auftrag des Grundgesetzes, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“ und bestand darauf, dass „Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl […] nicht das letzte Wort zwischen Ost und West sein“ dürften. Sieben Monate später betonte er: „Wir Deutsche finden uns mit der Teilung unseres Vaterlandes nicht ab.“
Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) empfängt den SED-Generalsekretär Erich Honecker aus Ostberlin am 7. Juli 1987 in Bonn.
Trotz dieser Hervorhebung der normativen Distanz zur DDR bekannte er sich zur Fortführung der Deutschlandpolitik auf der Grundlage der geschlossenen Verträge zum Nutzen der Menschen in beiden Staaten. Daher hielt Kohl auch die von Schmidt am Werbellinsee ausgesprochene Einladung an den SED-Generalsekretär aufrecht und ließ diesem mitteilen, dass er „auf Kontinuität und Dialog Wert lege“. In dieser Spannung zwischen Pragmatismus und normativer Distanz bewegte sich die Deutschlandpolitik Kohls in den 1980er-Jahren.
Zur Kontinuität gehörte auch sein Bemühen um den Ausbau der Begegnungen von Ost- und Westdeutschen. Wie Schmidt tat er dies „in mitmenschlicher Verantwortung für die Deutschen in der DDR, die unsere Nächsten, also mehr als unsere Nachbarn sind“. Neben dem humanitären Aspekt spielte dabei für ihn die Wahrung der Einheit der Nation eine zentrale Rolle: Dazu müsse die Bundesregierung „das Menschenmögliche […] tun, damit Menschen zueinander kommen“. Dass die Deutschen aus Ost und West „zueinander kommen“ müssten, wurde fortan zu Kohls Mantra; daraus ergab sich die ständig wiederholte Forderung an die DDR-Führung, die Schikanen beim Reiseverkehr zu unterlassen und die Erhöhung des Zwangsumtauschs rückgängig zu machen.
Kohl wollte den Reiseverkehr in beiden Richtungen intensiviert sehen. In die DDR sollten vor allem junge Menschen, auch ganze Schulklassen, reisen, da „in deutschen Schulen die Entfremdung vom anderen Teil Deutschlands immer weiter vonstatten geht". [sic] Genauso wichtig waren ihm Reisen von Ostdeutschen unterhalb des Rentenalters in die Bundesrepublik. Seit 1986 kam die DDR, die auf die westdeutsche Unterstützung immer mehr angewiesen war, diesen Forderungen entgegen, sodass in diesem Jahr bereits 244.000 (gegenüber gut 66.000 1985) und 1987 bereits 1.290.000 Menschen unterhalb des Rentenalters die Bundesrepublik besuchen durften. Kohl sah das äußerst positiv:
„Wenn über zwei Millionen Menschen aus der DDR zu uns zu Besuch kommen, zum ersten Mal viele Hunderttausende, die noch nie hier waren, unterhalb des Pensionsalters, dann bringt das jedes Mal neue Bindungen, neue Beziehungen mit sich und, wie mir ein führender Funktionär aus der DDR gesagt hat, für viele aus der DDR zum erstenmal ein wirkliches Bild von der Bundesrepublik.“
Im September 1988 rechnete er mit fünf Millionen Besucherinnenund Besuchern für das laufende Jahr und schätzte, dass es bis zur Bundestagswahl Ende 1990 fast 20 Millionen würden. Wenn man die abzöge, die nicht fahren könnten und wollten, käme man, da viele auch mehrfach führen, immer noch auf zehn Millionen Ostdeutsche, die Westdeutschland besucht hätten, und er fügte hinzu: „Das hat enorme Wirkungen auf das psychologische Klima.“ Außerdem betonte er gegenüber dem US-amerikanischen stellvertretenden Außenminister John Whitehead, dass „unsere D-Mark zunehmend zur Zweitwährung der DDR“ würde. Auch das trage zum Zusammengehörigkeitsgefühl bei, da sich die Ostdeutschen nicht als DDR-Bürger, sondern als Deutsche fühlten.
Wie gelangte Kohl zu dieser Einschätzung? Zum einen war sie auf die systematischen Befragungen des BND seit 1986 unter DDR-Bewohnern zurückzuführen, zu denen dieser im Westen Zugang besaß. Dem damaligen BND-Präsidenten Hans-Georg Wieck zufolge ergaben diese Untersuchungen, „dass sich zwischen 72 und 78 Prozent aller Befragten die Vereinigung wünschten“. Zum anderen berief er sich vor dem CDU-Parteivorstand im Januar 1986 auf interne Umfragen in der DDR, wobei er unklar ließ, worauf er sich genau stützte. Dieses Umfrageinstitut, von dessen Seriosität er ausging, sei Ende 1984 „zu dem Ergebnis gekommen, daß unsere Meinung in der Frage der Staatsbürgerschaft der DDR eine Mehrheit hatte und daß auch in der Frage der Einheit der Nation […] ein über 50prozentiges Votum vorlag“. Im Februar 1989 war Kohl zufolge nach diesen Umfragen die Zahl derer in der DDR, die einer DDR-Staatsbürgerschaft das Wort redeten, „auf unter 20 Prozent abgesunken“. In der DDR sei folglich „die Idee der Einheit der Nation lebendig geworden“, was „ein Ergebnis unserer Politik“ sei.
Die Perzeption von Kohls Politik durch die Ostdeutschen ist weniger gut greifbar als bei Schmidt und Brandt. Aber auch der CDU-Bundeskanzler berichtete, dass Besucher aus der DDR seine Frau und ihn „ansprachen und erzählten, wie glücklich sie waren, mit ihren Familien und Freunden in Westdeutschland zusammenkommen zu können“. Und vor dem Parteivorstand erwähnte er im September 1984, dass er durch „die enorme Reaktion in vielen persönlichen Botschaften und Ermunterungen, die ich aus der DDR empfangen habe“, zusätzlich motiviert worden sei, seinen deutschlandpolitischen Kurs beizubehalten.
In direkten Kontakt mit Ostdeutschen kam er vor dem 19. Dezember 1989, als er mit DDR-Ministerpräsident Modrow Dresden besuchte, lediglich auf einer kurzen Privatreise vom 23. bis zum 25. Oktober 1987. Bereits 1976 war er vom 29. bis zum 31. Oktober mit seiner Familie nach Sachsen und Weimar gereist, insbesondere, um die Kindheitsstätten seiner Frau Hannelore in Leipzig aufzusuchen.
Immer wieder versuchte er bei seinen Berlin-Besuchen, in den Ostteil der Stadt zu gelangen, bis ihm im Januar 1978 die Einreise verweigert wurde. Ihm war dies freilich ein Anliegen, sodass er sich vor dem Parteivorstand 1983 beklagte, „jetzt nicht mehr hinüberfahren“ zu können. Das sollte sich ändern, als Honecker Kohl bei seinem Besuch in Bonn 1987 zu einem offiziellen Gegenbesuch in die DDR einlud, ihm aber auch die Option eines Privatbesuchs anbot. Nun sah Kohl die Chance gekommen, ein zweites Mal privat in die DDR zu fahren. Seinen Forderungen, seine Route selbst festzulegen, keine offiziellen Gespräche führen und auch keine arrangierten Termine mit ausgewählten DDR-Bürgern wahrnehmen zu müssen, wurde entsprochen. Er wollte sich „ein eigenes Bild von den vielgepriesenen Errungenschaften des SED-Staates […] verschaffen“ und die Bundesbürger animieren, ebenfalls in die DDR zu reisen.
Die Reise führte ihn, zusammen mit seiner Frau Hannelore, seinem Sohn Peter, Regierungssprecher Friedhelm Ost, Abteilungsleiter Wolfgang Bergsdorf vom Bundeskanzleramt und zwei Fahrern, unter den argwöhnischen Augen der Stasi über Gotha, Erfurt, Weimar, Dresden nach Saalfeld und wieder zurück. Sehenswürdigkeiten standen nicht im Mittelpunkt; Kohl wollte vielmehr den Alltag in der DDR in Augenschein nehmen und in Kontakt mit den Ostdeutschen kommen. Zahlreiche Passanten sprachen den Bundeskanzler an und baten um Autogramme; einige steckten ihm Zettel mit ihrem Namen und ihrem Ausreisewunsch zu. Einer der Höhepunkte war sein Besuch eines Fußballspiels in Dresden. Als er hier die Frage stellte: „Wer wird Europameister?“, erhielt er zur Antwort: „Deutschland.“ Kohl interpretierte das „als ein unmissverständliches Zeichen, dass entgegen aller staatlichen Doktrin der Einheitsgedanke in der DDR-Bevölkerung lebendig war“.
Auch beim Besuch der Semperoper kam es zu Sympathiebekundungen; danach bildete sich auf dem Platz davor eine Menschentraube um Kohl. Das Gleiche passierte nach dem Besuch des Sonntagsgottesdienstes in der Dresdner Hofkirche. Hier wurde ihm zugerufen: „Herr Bundeskanzler, wir danken Ihnen dafür, daß wir vor zwei Wochen unsere Verwandten im Westen besuchen konnten.“, „Halten Sie an der Politik der deutschen Einheit fest!“, „Seien Sie standhaft!“, und „Sie sind unsere Hoffnung!“ Bereits in Gotha hatten ihn Passanten beschworen: „Herr Bundeskanzler, halten Sie an Ihrer Politik fest, vertreten Sie weiter unsere Interessen! Machen Sie uns weiter Hoffnung, wir gehören weiter zusammen!“ Diese in den Erinnerungen Kohls überlieferten Äußerungen widersprechen zwar den Berichten des MfS, das seinem Dienstherrn suggerieren wollte, dass Kohls Besuch völlig unauffällig abgelaufen sei, waren aber wohl authentisch. Kohl sagte im Anschluss gegenüber der westdeutschen Presse:
„Es war eine der bewegendsten Reisen, die meine Frau und ich in unserem Leben gemacht haben. So etwas gräbt sich tief ins Bewußtsein ein. Wer jemals Zweifel hatte, daß wir Deutschen zusammengehören, eine Nation sind, der sollte in die DDR fahren. Das empfehle ich übrigens jedem.“
DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger entwickelten folglich vor dem Hintergrund seiner an sie adressierten Politik auch zu Kohl eine Beziehung. Sie vertrauten ihm und hofften darauf, dass auch dieser Bundeskanzler ihr Los erleichtern könnte.
Insgesamt gelang es Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl, eine Beziehung besonderer Art zu den Ostdeutschen herzustellen. Diese beruhte, erstens, auf der Beharrlichkeit der Bundeskanzler im Einfordern von Kontakt- und Besuchsmöglichkeiten für Ost- und Westdeutsche.
Hinzu kam, zweitens, ihre Glaubwürdigkeit. Denn sie erhoben diese Forderungen nicht nur zu besonderen Anlässen, sondern in den unterschiedlichsten Zusammenhängen, waren bereit, sich diese Kontakte etwas kosten zu lassen, und dokumentierten durch ihre Reisen in die DDR und ihre Begegnungen mit deren Bürgern ein genuines Interesse an ihren Landsleuten.
Das wurde, drittens, von vielen Ostdeutschen registriert, denen zwar bewusst war, dass die Einforderung menschlicher Kontakte zu den deutschlandpolitischen Aufgaben der westdeutschen Regierungschefs gehörten, die aber diesen vertrauten. Die Ostdeutschen, denen es in besonderer Weise um Reisen, teilweise auch um das Ausreisen in den Westen Deutschlands ging, setzten ihre Hoffnungen bei der Verwirklichung dieses Kernanliegens auf die Bundeskanzler.
Inwieweit diese Beziehungen auch eine emotionale Qualität hatten, war von Fall zu Fall unterschiedlich. Insbesondere bei den Begegnungen von Brandt und Erfurter Bürgerinnen und Bürgern 1970 waren sehr viele Emotionen involviert: Rührung bei Ersterem und Vertrauen und Begeisterung bei Letzteren. Den Hanseaten Schmidt motivierten weniger Emotionen, sondern ein tiefsitzendes Verantwortungsgefühl für die Ostdeutschen, das mit dem Bewusstsein der engen Verbundenheit mit den Menschen und den Landschaften in der DDR zusammenhing.
Kohl schließlich sah die Beziehungen zu den Ostdeutschen vielleicht am stärksten unter politischen Vorzeichen. Immer wieder hob er hervor, wie wichtig ihm eine Vermehrung der Kontakte und dabei insbesondere die Besuche von Menschen aus der DDR in der Bundesrepublik waren, um die Bindungen der Deutschen untereinander zu kräftigen. Und nicht zuletzt die intensivierten Kontakte verstärkten die Magnetwirkung der Bundesrepublik auf Ostdeutsche in den 1980er-Jahren. All dies trug dazu bei, dass sich viele Ostdeutsche – mehr als die Westdeutschen – ein Zusammengehörigkeitsgefühl bewahrten, das sie nach dem Mauerfall binnen kurzer Zeit die Wiedervereinigung Deutschlands fordern ließ.
Zitierweise: Hermann Wentker, „Eine Beziehung besonderer Art. Die westdeutschen Bundeskanzler Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl und die Ostdeutschen 1970-1989“, in: Deutschland Archiv, 23.12.2021, Link: www.bpb.de/345318. Weitere Beiträge zu diesem Thema werden nach und nach folgen. Es sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Der Historiker Prof. Dr. Hermann Wentker leitet die Forschungsabteilung Berlin des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam, u.a. mit den Forschungsschwerpunkten Staat und Kirche in der DDR; Geschichte der Ost-CDU; Geschichte der Justiz in der SBZ/DDR und Außenpolitik der DDR.
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