Sharon Adler: Die Liberale Jüdische Gemeinde Hannover
Rebecca Seidler: Die drei Frauen waren alle zuvor Mitglieder in der orthodox geprägten Einheitsgemeinde. Diese Einheitsgemeinde hatte jedoch einen Landesrabbiner, der sich mit dem Reformjudentum verbunden fühlte. Rabbiner Dr. Henry Brandt war es damals, der sich dafür einsetzte, dass auch Mädchen lernen und folglich zur Tora aufgerufen werden durften, um ihre Bat Mitzwah zu feiern. Diese progressiven Impulse beeindruckten die drei Frauen, aber auch weitere Gemeindemitglieder, sodass der Wunsch entstand, das Reformjudentum wieder aufleben zu lassen. Vor über 200 Jahren entstand die progressive Strömung in Seesen, unweit von Hannover, doch durch die Shoah wurde auch diese Entwicklung völlig zerstört. Mitte der 1990er-Jahre wuchsen die Gemeinden durch den Zuzug der jüdischen Migrant*innen aus der ehemaligen Sowjetunion, und hierdurch kam in den Einheitsgemeinden einiges in Bewegung. Aus dieser Situation heraus gründeten die drei Frauen mit weiteren Engagierten die neue jüdische Gemeinde, die folglich in Liberale Jüdische Gemeinde Hannover umbenannt wurde. Anfänglich mussten sie viel um Akzeptanz kämpfen, doch heute ist das Reformjudentum fest in Deutschland verankert – was ohne diese drei Frauen sicher nicht so erfolgt wäre.
Sharon Adler: Heute ist die Liberale Jüdische Gemeinde Hannover nicht nur Mitglied der World Union for Progressive Judaism, sondern auch die größte Reformgemeinde in Deutschland.
Rebecca Seidler: Die Liberale Jüdische Gemeinde Hannover ist in den letzten 26 Jahren stets gewachsen – zu Beginn mussten wir unsere Feiertage in einem Jugendhaus feiern, da wir über keine eigenen Räume verfügten. Nun haben wir ein großes Gemeindezentrum mit jüdischem Kindergarten, einem Jugendzentrum, einer wunderschönen Synagoge, einem großen Veranstaltungsraum für Kulturveranstaltungen sowie einer Sozial- und Migrationsberatungsstelle, die unter anderem in Zusammenarbeit mit der Claims Conference unsere Holocaustüberlebenden betreut. Wir sind ein lebendiges und aktives Gemeindezentrum für alle Generationen und ein Ort, an dem jüdisches Leben stattfindet – mit all seinen Facetten! Als Vorsitzende im Ehrenamt ist es daher wichtig, ein starkes Team an der Seite zu haben, und das habe ich – sowohl mein Vorstand als auch unsere Mitarbeiter*innen und unsere zahlreichen Ehrenamtlichen tragen gemeinsam dazu bei, dass unsere Gemeinde lebt, wächst und ein jüdisches Zuhause für unsere Gemeindemitglieder ist!
Sharon Adler: Viele Menschen kennen den Unterschied zwischen den Aufgaben der Vorsitzenden von Jüdischen Gemeinden und denen einer Rabbinerin/eines Rabbiners nicht. Kannst du bitte einmal erläutern, worin die Unterschiede bestehen und was die Gemeindearbeit ausmacht?
Rebecca Seidler: Die Aufgaben zwischen der Vorsitzenden und der Rabbinerin sind grundverschieden, aber es ist wichtig, eng zusammenzuarbeiten. Unsere Rabbinerin, Jasmin Andriani, und unser Senior Rabbiner, Gábor Lengyel, begleiten unsere Gemeinde, sie sind jederzeit ansprechbar für unsere Gemeindemitglieder. Sie sind unsere Lehrer*innen und Ratgeber*innen. Der Vorstand ist ein gewähltes Gremium, welches für die Führung der Gemeinde zuständig ist – das heißt, zu unseren Aufgaben gehören die Personalführung, Finanzplanung, Organisation der religiösen und kulturellen Veranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit. Letztlich funktioniert aber eine so lebendige und aktive Gemeinde nur durch Teamwork und gegenseitige Unterstützung – und das steht bei uns im Vordergrund! Niemand ist wichtiger als der andere – sondern wir ziehen an einem Strang!
Sharon Adler: Auf der Webseite der LJG heißt es: „Die Liberale Jüdische Gemeinde Hannover steht für ein weltoffenes und dynamisches Judentum, das in der Überlieferung verwurzelt ist. Wir lehren und praktizieren ein modernes Judentum, das an die Tradition des aufgeklärten liberalen Judentums in Deutschland anknüpft.“ Welche Anknüpfungspunkte sind das? Was bedeutet die Einbeziehung dieser Tradition für deine/eure Arbeit heute?
Rebecca Seidler: Das rabbinische Judentum war immer pluralistisch und die Diskussion, der Disput, gehört zu seinem Wesenszug. Der jüdische Reformer Martin Buber sagte bereits: „Alle Menschen haben einen Zugang zu G’tt, aber jeder einen anderen.“ Die Tora ist für alle Jüdinnen und Juden ein heiliges Buch. Es enthält die religiöse Inspiration unserer kulturellen und geschichtlichen Anfänge, die auf uns abstrahlt und die wir aufnehmen, in Studium und religiöser Praxis. Doch das progressive Judentum glaubt nicht an die Göttlichkeit jedes einzelnen Buchstabens der Tora. Wir betonen die ethischen und moralischen Gebote der Tora als verbindlich – doch die rituellen Gebote der Tora wurden nach Auffassung des Reformjudentums durch Menschen in einer bestimmten historischen Epoche aufgestellt und sind daher nicht göttlichen Ursprungs. Jüdische Rituale sind daher von Generation zu Generation zu hinterfragen und gegebenenfalls anzupassen. Durch das Streben nach einer verantwortungsvollen und zeitgemäßen Auslegung des Judentums verbindet sich die Tradition mit der Moderne.
Bei der Suche nach einem sinnvollen Umgang mit religiösen Ritualen und nach zeitgemäßen Antworten auf Lebensfragen ziehen wir das Studium der rabbinischen Quellen wie den Talmud zu Rate. Der Reformrabbiner Salomon Freehof sieht in der Halacha – dem jüdischen Religionsgesetz – etwa einen sinnvollen Ratgeber, eine Anleitung und Orientierungshilfe für jüdisches Leben, von der man sich aber nicht beherrschen lassen soll. Wir erkennen an, dass mehrere Interpretationen der Traditionsschriften möglich sind, und verzichten auf die Behauptung eines alleinigen Wahrheitsanspruchs.
Ein markantes Merkmal des progressiven Judentums ist auch die Gleichberechtigung zwischen allen Geschlechtern. Bereits bei der Entstehung des Reformjudentums vor über 200 Jahren versuchten liberale Rabbiner, die nachteilige rechtliche Stellung der Frau im Judentum, insbesondere im Eherecht, zu verbessern. Im Zuge dieser Entwicklung wurde 1936 Regina Jonas in Deutschland als erste Rabbinerin weltweit ordiniert – ihr Lebensweg endete 1944 in Auschwitz. Seit den 1970er- Jahren ist in den USA und in Israel die Ordination von Frauen als Rabbinerinnen und Kantorinnen selbstverständlich. Seit 1999 können auch wieder in Deutschland, am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam, liberale Rabbinerinnen und Rabbiner sowie Kantorinnen und Kantoren ausgebildet werden. Auch unser neuer Kantor hat unter anderem dort gelernt.
Als Kernelement des Reformjudentums gilt auch die aktive Beteiligung am interkulturellen und interreligiösen Dialog. Wir engagieren uns für soziale Gerechtigkeit und Freiheit aller Menschen, unabhängig von ihrer Religion, ethnischen Zugehörigkeit oder sexuellen Orientierung. Wir setzen uns für die Wahrung der Bürgerrechte ein sowie für die Trennung von Staat und Religion. Hierbei möchte ich betonen: Für uns steht das jeweilige Landesgesetz, also hier das Bürgerliche Gesetzbuch, über dem Religionsgesetz. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich unsere Gemeindemitglieder ehrenamtlich in diversen Gremien der Stadt Hannover einbringen. Auch bei der Organisation von Demonstrationen zu gesamtgesellschaftlichen Fragen wie Klimaschutz und gegen Rassismus sind Gemeindemitglieder aktiv dabei. In politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen, darunter die Amadeu Antonio Stiftung und im Haus der Religionen, wirken wir engagiert zur Stärkung der Demokratie und der pluralen Gesellschaft mit.
Sharon Adler: Der Leitgedanke der Liberalen Jüdische Gemeinde Hannover lautet: „Mehr Tora, mehr Leben – Mehr Gerechtigkeit, mehr Frieden“. Wie und wodurch tragt ihr diese Philosophie an die Gemeindemitglieder heran?
Rebecca Seidler: Dieser Leitgedanke zieht sich durch unser gesamtes Handeln innerhalb und außerhalb der Gemeinde. Für uns steht die Tora sinnbildlich für das Lernen – miteinander und voneinander lernen stärkt das Zusammenleben. Zudem sind ein gerechtes Handeln und ein gleichberechtigter, wertschätzender Umgang die Grundlage für ein friedvolles Miteinander. Daher sollen wir stets danach streben, uns für diese Werte einzusetzen, sie in die Tat umzusetzen und sie nicht als bloße Worthülsen vor uns hertragen. Im Judentum steht die Tat im Vordergrund – wir sind aufgefordert zu handeln, um für das Wohl der jüdischen Gemeinde, aber auch für das der gesamten Gesellschaft zu sorgen.
30. Jahrestag der Zuwanderung jüdischer „Kontingentflüchtlinge“
Sharon Adler: Was waren (und sind) die größten Herausforderungen in der Gemeindearbeit hinsichtlich der Integration der aus der ehemaligen Sowjetunion zugewanderten Menschen?
Rebecca Seidler: Zu Beginn des Zuzugs der jüdischen Migrant*innen aus der ehemaligen Sowjetunion war vor allem eine doppelte Integrationsleistung erforderlich – einerseits in die jüdische Gemeinde selbst, denn viele der Zugewanderten hatten bis dahin ihr Judentum nur versteckt oder gar nicht gelebt, und zum anderen in die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Ersteres wurde durch die aktive Einbeziehung in das jüdische Gemeindeleben erreicht. Und um die Integration in die deutsche Gesellschaft zu fördern, war der Schlüssel das Erlernen der deutschen Sprache. Es wurden Deutschkurse angeboten und Workshops zu praktischen Alltagsthemen wie dem Abschließen von Mietverträgen, der Suche nach einer Arbeitsstelle und vielem anderen mehr Die jüdischen Gemeinden haben eine großartige Leistung erbracht und maßgeblich dazu beigetragen, dass zugewanderte Jüdinnen und Juden hier gut ankommen und sich einleben konnten.
Heute bestehen weniger Herausforderungen, denn die nachfolgenden Generationen sind voll integriert, sie sprechen fließend die Sprache, sind beruflich und privat etabliert und haben hier ihr Zuhause gefunden. Zudem übernehmen sie jetzt auch zunehmend Führungsverantwortung in den Gemeinden – in meinem Vorstand sind zum Beispiel mehrheitlich zugewanderte Jüdinnen und Juden vertreten, und das ist gut und wichtig.
Sharon Adler: Zu der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hannover gehören heute Menschen aus 15 Nationen. Wie können sie vor Diskriminierungen – als Menschen mit Migrationsgeschichte und als Jüdinnen und Juden – geschützt werden, wie können sie gleichzeitig ein positiv gelebtes Judentum und ein jüdisches Selbstbewusstsein entwickeln?
Rebecca Seidler: Unsere Gemeindearbeit basiert auf zwei Säulen im Umgang mit Antisemitismus und Diskriminierung. Die erste Säule ist Empowermentarbeit. Empowerment (Selbstermächtigung) bedeutet hier, Jüdinnen und Juden, die Diskriminierungen und Verunsicherungen erlebt haben, durch gezielte Bildungs- und Beratungsangebote darin zu stärken, eigene Handlungsstrategien zu entwickeln. Sie werden zudem in ihrer jüdischen Identität gefestigt, um für sich selbst einen positiven Zugang zu ihrem Judentum zu entwickeln, Mut und Selbstbewusstsein auszustrahlen und auch die Bereitschaft zu erlangen, sich aktiv und selbstbewusst in die Dialogarbeit mit der Mehrheitsgesellschaft einzubringen. Die Gemeinde bietet zudem einen geschützten und sicheren Ort, um über Erlebtes zu sprechen und an dem sie auf Empathie und Solidarität vertrauen zu können. Wir lassen niemanden allein mit seinen Erfahrungen, sondern begleiten, beraten und unterstützen aktiv. Die zweite Säule ist eine aktive Dialogarbeit als Beitrag zur Prävention von Antisemitismus.Wir schulen Bündnispartner*innen, um heute gemeinsam Begegnungsräume zur Sensibilisierung für jüdisches Leben und Antisemitismus zu schaffen. So werden Bildungsseminare, Workshops, Diskussionsrunden und Synagogenbesuche für diverse Zielgruppen angeboten, unter anderem für pädagogische Fachkräfte (Kita, Schule, offene Kinder- und Jugendarbeit), muslimische und christliche Vertreter*innen, Schulklassen und Jugendgruppen, Gewerkschaften, Sozialverbände und zivilgesellschaftliche Organisationen sowie auch für staatliche Behörden wie die Polizei und das Landeskriminalamt.
Zu dieser Dialogarbeit gehört auch der Aufbau und die Ausweitung des Netzwerks, nicht nur in Niedersachsen, sondern auch darüber hinaus. So gibt es zum Beispiel eine enge Zusammenarbeit mit dem Kompetenzzentrum der Zentralwohlfahrtsstelle in Deutschland, der Union Progressiver Juden in Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland.
Diese beiden Säulen helfen im Umgang mit Antisemitismus und Diskriminierung – präventiv und intervenierend, und beides ist unerlässlich.
Wichtigkeit eines Generationenwechsels in den Gemeinden.
Sharon Adler: Nach der Phase der Zuwanderung und Integration sind die Gemeinden heute mit wiederkehrenden Herausforderungen mit Blick auf die Altersstrukturen der Gemeindemitglieder
Rebecca Seidler: Unsere Gemeinde legt den Fokus insbesondere auf eine starke Kinder- und Jugendarbeit und auf Angebote für die Zielgruppe der Young Professionals. Wir haben zum einen generationsübergreifende Veranstaltungen und Angebote, aber auch zielgruppenspezifische. Dies ist wichtig, um auch die jüngere Generation für das Gemeindeleben zu gewinnen, sie müssen sich wohlfühlen, sich zugehörig und vertreten fühlen – dies gelingt durch eine aktive Partizipation und persönliche Ansprache. Darum erachte ich es auch für unerlässlich, die jüngere Generation mit in die Führungsverantwortung zu nehmen. Viele Gemeindevorstände bestehen meist aus über 60-Jährigen – dies sollte sich ändern, damit auch die jüngeren Generationen eine aktive Mitgestaltung und auch Verantwortung übernehmen können.
Die Stellung der Frauen
Sharon Adler: Wie beurteilst du den Anteil, die Stellung und die Rolle der Frauen im Landesverband beziehungsweise in den Vorständen der Jüdischen Gemeinden in Deutschland? Unterrepräsentiert oder gleichberechtigt?
Rebecca Seidler: Der Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen, zu dem wir und fünf weitere liberale Gemeinden in Niedersachsen gehören, wird durch starke Frauen geführt – auch unser Gemeindevorstand besteht überwiegend aus Frauen. Dies spiegelt auch den bundesweiten Trend in den liberalen jüdischen Gemeinden wider – hier sind Frauen gleichberechtigt und von daher auch selbstverständlich in der Führungsverantwortung. Doch in orthodox geprägten Gemeinden dominieren Männer nach wie vor die Vorstandsetagen, während meist die Frauen die aktive Gemeindearbeit übernehmen. Hier würde ich mir mehr Gleichberechtigung auch in der Führungsebene wünschen.
Bildung und Vermittlung von Werten
Sharon Adler: 2012 hast Du das Buch „Frühkindliche jüdische Erziehung: eine progressive Perspektive – ein Beitrag zur interreligiösen und interkulturellen Pädagogik“
Rebecca Seidler: Als ich mit meiner Doktorarbeit begonnen hatte, war ich mit einer Projektgruppe dabei, einen jüdisch-progressiven Kindergarten im Rahmen der Liberalen Jüdischen Gemeinde zu gründen. Aus diesem Grund beschäftigte ich mich fundiert mit jüdischer Bildung und Erziehung und musste feststellen, dass es hierzu in Deutschland keinerlei Literatur gab. Daher habe ich mich in meinem Forschungsprojekt der frühkindlichen jüdischen Erziehung gewidmet und im Rahmen dessen einen Vergleich zu US-amerikanischen, jüdisch-progressiven Bildungskonzepten vorgenommen. Ein wesentliches Element der jüdisch-progressiven Bildungsarbeit ist die interkulturelle und interreligiöse Pädagogik. Dieser Ansatz verdeutlicht die Notwendigkeit, dass ein gelungenes interreligiöses und interkulturelles Lernen nur dann gelingen kann, wenn man sich seiner eigenen religiösen und kulturellen Identität bewusst ist. Das heißt, eine starke Verwurzelung in der eigenen Religion und Kultur ermöglicht es erst, aufrichtig, offen und neugierig auf andere zuzugehen, ohne Sorge vor einer eigenen Identitätsaufgabe. Im pädagogischen Kontext bedeutet dies konkret: Jeder Mensch bringt seine eigenen religiösen und kulturellen Prägungen mit und kann diese selbstbewusst vertreten und gleichzeitig anderen auf dialogischer Ebene begegnen. Es gibt keinen Wahrheitsanspruch und keine Missionierungstendenzen. Es werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten wertfrei wahrgenommen, respektiert und geschätzt als Diversität des Daseins.
Sharon Adler: Du hast 2007 die jüdische Kindertagesstätte Tamar
Rebecca Seidler: Die jüdische Kita Tamar ist ein Ort lebendigen jüdischen Lebens für jüdische und nichtjüdische Kinder gleichermaßen. Jüdische Kinder erfahren hier täglich ihr Judentum und werden in ihrer jüdischen Identität gestärkt. Für nichtjüdische Kinder ist es eine Chance, das liberale Judentum authentisch mitzuerleben.
Als Grundlage steht hier der Ansatz der Gleichberechtigung aller Geschlechter, das heißt, es gibt zum Beispiel keine religiösen Riten, die geschlechtsspezifisch ausgerichtet sind. Zudem steht das Erlernen der jüdischen Ethik wie Gerechtigkeit und Wohltätigkeit im Vordergrund der pädagogischen Praxis. Im Rahmen eines wöchentlichen Debattierklubs erlernen die Kinder von klein auf, ihren Standpunkt zu vertreten, auszuhandeln und auch Gegenpositionen auszuhalten – eine wichtige soziale und kommunikative Kompetenz. Die Diskussionsfreude ist zugleich ein Wesenszug des Judentums, welches somit kindgerecht geschult wird.
Grundsätzlich ist es für uns wichtig, dass jüdische Kultur und Religion in den Lebensalltag der Kinder selbstverständlich einfließen – in unserer Puppenecke haben wir auch Spielutensilien zu jüdischen Feiertagen, sodass die Kinder beispielsweise mit den Puppen einen Shabbatabend nachspielen können. In unserer großen Bücherecke haben wir bewusst auch jüdische Kinderbücher, zum Beispiel „Ein Pferd zu Chanukka“ – sodass sich die Kinder spielerisch mit jüdischen Themen auseinandersetzen können. Vor jeder Mahlzeit wird auf Hebräisch ein Segensspruch als Dank gesungen, und freitags gibt es eine Einstimmung in den kommenden Shabbat mit Backen der Challa, einer kleinen Shabbatzeremonie und einer kreativen Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thoraabschnitt.
Sharon Adler: Du setzt dich seit vielen Jahren für den interreligiösen und gesellschaftlichen Dialog ein. Dazu engagierst du dich in verschiedenen Projekten zu antisemitismuskritischer Bildungsarbeit für mehr Toleranz. Warum ist die Vermittlung von interreligiösen Kompetenzen deiner Meinung nach so wichtig?
Rebecca Seidler: Durch meine Tätigkeiten wird mir immer wieder bewusst, wie wenig Menschen von der Kultur und Religion des anderen wissen. Manch einer betont auch, dass diese Hintergründe „egal“ seien, da es auf den Menschen selbst ankomme. Diese Perspektive hinkt jedoch nach meinem Verständnis. Denn Kultur und Religion prägen den Menschen maßgeblich, das ist nicht getrennt voneinander zu betrachten, sondern ergibt oftmals eine Einheit im Menschen selbst.
Nehmen wir mich als Beispiel: Ich bin durch mein Judentum geprägt, meine Familiengeschichte ist ohne Berücksichtigung der jüdischen Geschichte nicht zu verstehen, mein Denken und Handeln Stützt sich auf die Werte, die ich durch meine jüdische Familie und somit durch jüdische Erziehung und Bildung erfahren habe. Es ist nicht möglich, mich getrennt von meiner jüdischen Kultur und Religion kennenzulernen, sondern ich bin, wie ich bin – auch eben durch mein Judentum. Ich persönlich bin immer sehr neugierig auf religiöse und kulturelle Prägungen von Menschen, damit ich sie als Mensch ganzheitlich erfassen kann. Die Vermittlung interreligiöser Kompetenz kann somit dazu beitragen, mein Gegenüber als Menschen wahrzunehmen, wertzuschätzen – mit all den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu meiner eigenen Person.
Engagement gegen Antisemitismus
Sharon Adler: Du bist Gründungsmitglied vom Bundesverband RIAS e.V. und seit dem Jahr 2003 Bildungsreferentin im Kampf gegen Antisemitismus. Worin siehst du die größten Herausforderungen, und welchen Auftrag in der Arbeit der Schulen und der Bildungsinstitutionen? Was kann nachhaltig wirken, und wo siehst du die größten Defizite und den dringendsten Handlungsbedarf?
Rebecca Seidler: Eine der größten Herausforderungen ist die Debatte darum, was denn nun antisemitisch ist und was nicht. Leider werden nach wie vor Betroffene zu wenig gehört oder es wird ihnen eine Übersensibilität attestiert. Dieser Umstand ist für Betroffene doppelt belastend: Sie erleben nicht nur Antisemitismus, sondern werden dann häufig damit allein gelassen. Das muss sich dringend ändern. Es gibt langsam Schritte, um die Perspektive der Betroffenen aufzuzeigen, zum Beispiel durch das Werk „Antisemitismus im Kontext Schule“ von Julia Bernstein – hier gilt es anzuknüpfen. Noch allzu oft wird Jüdinnen und Juden von außen erklärt, was denn Antisemitismus wirklich sei und was eben nicht. Angefangen mit „das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen…“ bis zu vermeintlicher Kritik am Staat Israel, wo antisemitische Aussagen verpackt werden. Zudem wird Antisemitismus zunehmend offener und auch gewaltbereiter, wodurch sich Grenzen des Sagbaren verschieben und die Lebenssituation für Jüdinnen und Juden belastender und auch bedrohlicher wird. Nun stehen wir vor der Herausforderung, was dagegen getan werden kann. Grundsätzlich sollten in Deutschland die zivilgesellschaftlichen Organisationsstrukturen im Kampf gegen Antisemitismus und zur Förderung der Demokratie langfristig gesichert werden.
Allzu oft hängt diese wichtige politische Bildungsarbeit an Projektstellen, deren Finanzierung befristet ist und die dann meist ausläuft. Das verhindert, dass sich feste Strukturen und Netzwerke aufbauen, was jedoch für ein konsequentes und nachhaltiges Agieren unerlässlich ist. Um Debatten zu beenden, was Antisemitismus ist, sollte zudem die Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA)
Auch zwei Jahre nach Halle sind zum Beispiel in Niedersachsen noch nicht die zugesicherten Gelder geflossen, sodass die jüdischen Gemeinden bis heute die baulich und technisch erforderlichen Schutzmaßnahmen nicht erhöhen konnten. Dieser Umstand bringt die Vertreter*innen der jüdischen Gemeinden in eine Bittstellerposition, und dies ist unerträglich. Wenn jüdisches Leben hier eine Zukunft haben soll, dann muss endlich gehandelt werden – die Zeit für bloße Worthülsen muss aufhören!
Zur Vita von Rebecca Seidler >>