Sigrid Brinkmann: Sie sind in den 1960er-Jahren zur Schule gegangen, und obwohl die Kapitulation Deutschlands 20 Jahre zurück lag, war es bestimmt nicht opportun, die Sprache eines Landes zu lernen, das in zwei Weltkriegen so viel Leid über Menschen gebracht hat. Auch der 1963 geschlossene Élysée-Vertrag
Cécile Wajsbrot: Ich habe mich nicht dafür entschieden. Es war der Wunsch meiner Großmutter. Sie dachte, wenn ich Deutsche lerne, würde ich verstehen, was sie mir auf Jiddisch sagen möchte. Jemandem Jiddisch beizubringen, das war in jener Zeit undenkbar. Es war ja noch gar nicht so lange her, dass es gefährlich gewesen war, Jiddisch zu sprechen. Es war eine verbotene Sprache. Meine Großmutter wollte Jiddisch wie eine Geheimsprache mit mir nutzen. In den 1960er-Jahren war es üblich, zuerst Englisch zu lernen, dann Deutsch. Die Schüler, die Deutsch als erste Fremdsprache wählten, waren ein bisschen verdächtig. Waren die Eltern etwa Kollaborateure gewesen? Es war selten, dass jüdische Kinder in Frankreich Deutsch lernten. Die Kinder meines Onkels sprechen Spanisch. Meine Mutter wurde in Frankreich eingeschult. Sie ist mit der französischen Sprache aufgewachsen, während meine Großmutter und mein Vater Französisch nur vom Hörensagen gelernt haben. Sie haben es mit einem starken Akzent gesprochen, sich aber sowieso meist auf Jiddisch unterhalten. Ich hatte Jiddisch immer im Ohr. Die Lieder, die sie mir vorgesungen haben, kannte ich alle auswendig. Einmal war ich mit meinem Vater unterwegs und habe in der Métro Lieder von Yves Montand und jiddische Lieder gesungen. Ich war noch ein Kind und habe diese Szene vergessen, aber mein Vater hat sich damals sehr dafür geschämt. Das hat er mir viel später, als ich schon erwachsen war, erzählt. Obwohl es mir durch den Klang des Jiddischen vertraut war, blieb Deutsch für mich lange die Sprache des Feindes. Es war immer so, als würden sich beim Sprechen Schleusen öffnen und wieder schließen. Im Englischen fühlte ich mich frei. Die deutsche Sprache hat mir das nie gegeben. Selbst heute noch nicht.
Sigrid Brinkmann: Wo sind Sie aufgewachsen?
Cécile Wajsbrot: Ich bin in Neuilly, einem westlichen Vorort von Paris, aufgewachsen. Das ist eine sehr bürgerliche Gegend, deren Bevölkerung damals aber noch gemischter war als heute. Im Kindergarten habe ich die sozialen Unterschiede nicht gespürt, auch in der Grundschule fiel das noch nicht so ins Gewicht, aber in die oberen Klassen des Gymnasiums schafften es fast nur Bürgerkinder. Dort habe ich die Kluft zwischen mir und den anderen klar wahrgenommen.
Sigrid Brinkmann: Die Zeit der Kollaboration des Vichy-Staates mit Nazideutschland war ja kaum vorbei, als Frankreich im September 1945 Kolonialtruppen nach Indochina schickte. Und 1954 zogen Berufssoldaten von dort aus nach Algerien weiter, wo eine große Armee acht Jahre einen nicht zu gewinnenden Krieg führte. Frankreich befand sich mehr als zwei Jahrzehnte im Krieg. Wurde damals über diese Kontinuität gesprochen
Cécile Wajsbrot: Meine erste politische Erinnerung ist mit dem Wort OAS verknüpft. Die OAS war eine paramilitärische Geheimorganisation von Rechtsextremisten, die verhindern wollte, dass Algerien unabhängig wurde. Sie haben Anschläge verübt, auch in Paris, und Angst verbreitet. Es herrschte eine sehr angespannte Stimmung. An Diskussionen über den Algerienkrieg kann ich mich nicht erinnern, über den Zweiten Weltkrieg schon.
Sigrid Brinkmann: Hat Ihre Mutter Ihnen erzählt, dass sie 1942 in Paris einer Massenfestnahme
Cécile Wajsbrot: Meine Mutter hat mir zum ersten Mal etwas erzählt, nachdem meine Großmutter gestorben war. Meine Großmutter hatte in der Familie das Sagen gehabt und bestimmt, wie viel ich wissen durfte. Zu meinem Vater hatte ich keinen engen Kontakt. Wir haben wenig miteinander gesprochen. Als meine Schwester 1960 geboren wurde, habe ich vier Wochen mit meiner Großmutter auf der Île de Ré verbracht. Von dieser Reise ist mir nur das Bild von einem Trauerzug schwarz gekleideter Menschen in Erinnerung geblieben. Weil sie nicht wollte, dass ich Angst vor dem Tod bekomme, sagte sie, dass der Mensch gestorben sei, weil er böse war. Und daraufhin soll ich gesagt haben, dann war er ein Deutscher. Was ja doch beweist, dass ich als Sechsjährige schon vom Krieg gehört haben muss. Aber die Urszene - wie meine Großmutter mir erzählte, dass mein Großvater deportiert und in Auschwitz ermordet wurde - ist in meinem Gedächtnis ausgelöscht.
Sigrid Brinkmann: Wann sind Sie das erste Mal nach Deutschland gereist?
Cécile Wajsbrot: Das war 1974, ich war 20 Jahre alt. Damals hatte ich das Gefühl, eine Schwelle zu überschreiten. Es hat geholfen, nicht allein zu sein. Eine Tante väterlicherseits und eine Cousine sind mit mir gereist. Wir waren nur ein paar Tage unterwegs, zuerst in Basel, dann in Freiburg. Übernachtet haben wir auf Campingplätzen. Wirklich lebendig in meiner Erinnerung ist eine skurrile Szene. Meiner Tante gehörte ein Elektroladen. Einmal hatte ein deutscher Kunde sie gebeten, mit D-Mark zahlen zu dürfen, denn er hatte nicht genügend französisches Geld bei sich. Als sie nun in Freiburg an einer Tankstelle aus ihrem Portemonnaie einen Geldschein zog, auf dem der Kopf von Karl Marx geprägt war, dachte ich, da stimmt was nicht. Der Tankwart hat so dermaßen verblüfft geguckt. Es waren hundert Ostmark. Natürlich hat er die nicht angenommen. Drei Jahre später bin ich zusammen mit französischen Freundinnen durch Deutschland gereist. Mit Gleichaltrigen unterwegs zu sein, von Koblenz, durchs Rheintal nach Bayern und Salzburg, mit einem 2CV, das war toll. Ein Gefühl von Freiheit. Selbst Neuschwanstein haben wir mitgenommen. Die Stimmung war gut. Die Freundinnen waren nicht jüdisch. Von meiner Familiengeschichte wussten sie nichts. Ich konnte sie damals mit niemandem teilen, der nicht zur Familie gehörte. Es gab kein kollektives Gedenken für die Opfer der Shoah. Es braucht auch, wie der Soziologe Maurice Halbwachs
Sigrid Brinkmann: Und wann haben Sie Berlin für sich entdeckt? Cécile Wajsbrot: Erst 1995. Ich hatte eine deutsche Freundin, die ich immer wieder in Bonn und Hamburg besucht habe, aber nach Berlin konnte ich einfach nicht. Für mich war dort alles mit dem Dritten Reich verbunden. Selbst der Name Berlin klang in meinen Ohren unheimlich. Als die Mauer fiel, war es, als ob auch in mir eine Mauer einriss. Es hat dann doch noch ein paar Jahre gedauert bis zur ersten Reise nach Berlin. Fünf Tage lang sind mein Mann, ein Sohn und ich in der Stadt herumgezogen. Als wir dann mit dem Zug nach Litauen weiterfuhren, wusste ich, dass ich mich gern länger in Berlin aufhalten würde. Auch zum Schreiben. Im Jahr 2000 habe ich dann sechs Wochen in der Stadt verbracht. Ich hatte ein DAAD-Stipendium für mein Romanprojekt Mann und Frau den Mond betrachtend
Cécile Wajsbrot
Cécile Wajsbrot
gehört, 3sat geschaut, deutsche Zeitungen und Bücher gelesen. Mein Vater war in jener Zeit bereits seit drei Jahren an Alzheimer erkrankt und brauchte intensive Pflege. Um die Hilfe zu koordinieren, musste ich in Paris täglich mehrere Telefonate führen, und natürlich habe ich ihn auch besucht. Das war sehr kräftezehrend. In Berlin war ich zum ersten Mal frei von diesen Aufgaben.
Sigrid Brinkmann: Sie haben in einem Vortrag erwähnt
Cécile Wajsbrot: Meiner deutschen Freundin hatte ich in den Siebzigerjahren meine Familiengeschichte erzählt, den französischen Freundinnen nicht. Wir, die Nachgeborenen, haben – obwohl wir nicht auf derselben Seite stehen - ein gemeinsames Problem mit der Vergangenheit. Wir sind keine direkten Zeugen, aber wir können miteinander ins Gespräch kommen. Es hat mich geprägt, dass in meiner Kindheit und auch in meiner Jugend kaum über die Kollaboration des französischen Staates gesprochen wurde. Natürlich wurde uns im Gymnasium Alain Resnais‘ Dokumentarfilm Nacht und Nebel
Sigrid Brinkmann: Sie pendeln seit vielen Jahren zwischen Paris und Berlin. Einige Bücher sind in Berlin entstanden: Mann und Frau den Mond betrachtend haben Sie erwähnt. Fugue
Cécile Wajsbrot: Ich habe das Gefühl, dass ich anders und besser schreibe, seitdem ich auch in Berlin lebe. Ich habe keine Erklärung dafür, aber die Stadt hat mein Schreiben verändert. Die Resonanz auf mein erstes Buch in Deutschland war gut. Ich fand, dass die Kritik es umfassender interpretiert hat als in Frankreich, und ich denke, ich habe mich hier literarisch stärker entwickeln können. In Frankreich hatte ich lange das Gefühl, zu allererst ein Mitglied meiner Familie zu sein. Hier bin ich einfach und vor allem eine Schriftstellerin.
Sigrid Brinkmann: Die Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und in die Akademie der Künste Berlin sind große Auszeichnungen. Wie können Sie sich dort einbringen als Grenzgängerin zwischen Frankreich und Deutschland?
Cécile Wajsbrot: Natürlich hat es mich sehr berührt, dass ich in die Akademie in Darmstadt gewählt wurde. Als ich davon erfuhr, hatte ich aber auch einen irgendwie selbstredenden Traum. Jemand sagte zu mir: „Naja, also Dichtung schreiben Sie schon, aber die Sprache …“. Also, ich habe schon das Gefühl, dass ich nicht ganz legitim bin wegen der Fehler, die ich beim Sprechen mache. Und ich habe auch immer ein wenig Angst, dass ich die anderen nicht völlig verstehe oder ich mich nicht ausreichend ausdrücken und verständlich machen kann. Aber ich bringe mich natürlich gern ein, ob es nun um Themen geht, die Frankreich und Deutschland betreffen oder andere.
Sigrid Brinkmann: Für Ihr literarisches Werk sind die Musik und die Malerei als formgebende Elemente immer wichtiger geworden. Konstant beschäftigen Sie sich in ihren Büchern mit dem, was die Geschichte des 20. Jahrhunderts angerichtet hat - mit Gesellschaften und im Leben einzelner. In Deutschland und Frankreich sitzen nationalistisch denkende und agierende Politiker:innen in Parlamenten. Hat sich für Sie das gesellschaftliche Klima in Deutschland spürbar verändert?
Cécile Wajsbrot: Das ist schwer zu sagen, weil ich in der Pandemiezeit nicht so oft wie sonst in Deutschland war. Aber ich habe schon das Gefühl, dass etwas Verdrängtes sichtbar wird, und zwar in allen Milieus. Ich muss an eine Äußerung von Hannah Arendt denken, die sie 1964 in dem berühmten Interview mit Günter Gaus gemacht hat.
Sigrid Brinkmann: In Deutschland bleiben nach dem NSU-Verfahren viele Fragen offen. Es gab die antisemitischen Anschläge von Halle und die Morde in Hanau, es gibt kruden Judenhass im Netz. Es ist erdrückend. Stört es Sie, dass nach antisemitisch und rassistisch motivierten Attentaten jüdische Intellektuelle wie Sie um Einschätzungen gebeten werden?
Cécile Wajsbrot (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Cécile Wajsbrot (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Cécile Wajsbrot: Wenn es um Antisemitismus geht, stört mich das nicht, obwohl er natürlich ein Problem für alle sein sollte. Was mich wirklich stört, ist, dass ich als Französin, die in Berlin lebt, als Autorin aus einer jüdischen Familie, zur Situation in Israel befragt werde. Ich bin nicht in Israel geboren. Ich bin einmal dorthin gereist, aber es ist für mich ein Land wie Korea oder Griechenland. Ich habe keine besondere Beziehung zu Israel. Die jüdische Kultur, die ich kenne, ist in Europa beheimatet, in der Diaspora. Und dass Leute in Deutschland alles vermischen und, wenn es um mich geht, immer die jüdische Herkunft betonen, das stört mich. Schlimm ist es, wenn von „der Jüdin“ gesprochen wird: das hat etwas Nazihaftes. Die Politik Israels kann ich verteidigen oder ablehnen, aber das tue ich als Bürgerin.
Sigrid Brinkmann: Marina Weisband, die als Kind 1994 mit ihren Eltern als sogenannter Kontingentflüchtling aus der Ukraine nach Deutschland kam, ist Publizistin und Mitglied der Partei Die Grünen. In einem Interview
Cécile Wajsbrot: Ja, ich würde sogar noch weiter gehen. Es gibt eine Art von Philosemitismus, der antisemitisch ist. Es geht nicht, Menschen auf eine Identität zu reduzieren. Wenn Marina Weisband oder ich zuerst oder vor allem als jüdisch betrachtet werden, dann läuft etwas schief, selbst wenn es positiv gemeint ist. Es ist ein schmaler Grat und die Feststellung kippt ins Negative. Ich stimme ihrer Einschätzung völlig zu.
Sigrid Brinkmann: Ihre Mutter ist hoch betagt. Sie hat Sie in Berlin schon mehrmals besucht, Sie sind zusammen im Land gereist. Was fällt ihr an den Deutschen auf?
Cécile Wajsbrot: Sie hat sich inzwischen ein wenig an das Land gewöhnt. Sie besucht mich ja seit gut 15 Jahren. Aber ich kann mich noch erinnern, wie es war, als ich 1994, kurz nach dem Tod ihrer Mutter, eine kleine Reise mit ihr ins Elsass gemacht habe. Als wir durch Straßburg spazierten, habe ich ihr vorgeschlagen, über die Grenze nach Deutschland zu fahren, und sie hat zugestimmt. Aber sie hat sich wirklich bemüht, kein Wort Deutsch zu sprechen, obwohl sie vieles verstand. Die Leute waren nett zu uns, aber natürlich haben wir beide uns bei Leuten eines gewissen Alters immer gefragt, was die wohl in der NS-Zeit gemacht haben. Sie war angespannt, und ich war es auch. Als sie das erste Mal zu mir nach Berlin kam, war es ähnlich, aber ich habe ihr die Gedenktafeln an Häusern und die Stolpersteine gezeigt. Ihr gefiel diese Art, die Erinnerung wachzuhalten. Da ist man in Deutschland weiter als in Frankreich. Die einzigen Städte, die sie nicht mochte, sind Dresden und Görlitz. In der Rezeption unseres Hotels in Görlitz hing ein Stadtplan aus den 1930er-Jahren an der Wand. Wir übernachteten in der ehemaligen Adolf-Hitler-Straße. Auf die Frage, warum so etwas aufgehängt wird, hieß es nur, ach, der Sohn hat den Plan auf dem Dachboden gefunden.
Sigrid Brinkmann: Was bedeutet es für Sie, jüdisch zu sein?
Cécile Wajsbrot: Eine religiöse Erziehung habe ich nicht bekommen, und ich habe mich auch als Erwachsene nicht der Religion zugewendet. Ich weiß Grundlegendes, das wurde mir schon vermittelt. In den frühen 1980er-Jahren, als viele freie Radiokanäle gegründet wurden, habe ich zwei Jahre bei einem jüdischen Sender in Paris gearbeitet. In der Zeit habe ich viel über die jüdische Kultur gelernt. Ich empfinde mein Jüdischsein im Wesentlichen als Schicksalsgemeinschaft. Als jemand, der zu einer Minderheit gehört, bin ich gegen identitäre Zuschreibungen. Ich denke, dass ich andere Minderheiten gut verstehe, denn ich teile deren Erfahrung.
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Zitierweise: „Cécile Wajsbrot: Zuhause in der Literatur“, Interview mit Cécile Wajsbrot, in: Deutschland Archiv, (Datum), 20.12.2021, Link: www.bpb.de/345100