„Ihr Lebensweg ist eine Ermunterung“, heißt es in der Einleitung zu der im Dezember 2020 erschienenen Broschüre
Jeanette Wolff hatte jedoch früh zu kämpfen gelernt: 1904 trat sie, noch während ihrer Ausbildung zur Kindergärtnerin in Brüssel, als 17-Jährige in die SPD ein. Sie war eine der ersten Frauen, die in der Partei für Gleichberechtigung stritten und dies mit scharfer Zunge. „Die meisten hängen, wenn sie abends nach Hause zur Frau und zur Familie kommen, ihre sozialdemokratische Gesinnung zusammen mit ihrer Mütze an der Garderobe auf.“
Jeanette Wolff erinnert sich: „Ich entstamme einem sozialistischen Elternhaus. Mein Vater war religiöser Jude, und er war Sozialdemokrat seit 1875. […] Wir wohnten im sogenannten ´übrigen Viertel´. Hier wohnten nur Arbeiter, Spinner, Färber und Bleicher.“
Ein Jahr später, 1909 in Brüssel, bestand Jeanette Wolff ihr Abitur mit „gut“. Sie stürzte sich in die Parteiarbeit und engagierte sich für Themen wie das Frauenwahlrecht, die Wohlfahrtspflege oder Verhütung und Gesundheit. Sie schrieb in der sozialistischen Zeitung „Le Peuple“ und gehörte zu den ersten Frauen, die aktiv in der SPD mitwirkten. Dann traf sie Hermann Wolff, einen Juden aus Bocholt, genauso alt wie sie, der eine kleine Textilfabrik besaß, die er mit seinem Bruder Leo leitete. Am Abend vor der Hochzeit im Jahr 1911 trat er ebenfalls in die SPD ein, „aus Liebe zu ihr“, wie es heißt. Das Paar ging nach Bocholt und bekam drei Töchter, die nach freiheitlichen Prinzipien erzogen wurden. Neben ihrer politischen Arbeit erledigte sie die Büroarbeit in der Fabrik. Dort führte sie als eine der ersten den Achtstundentag für die Fabrikarbeiter*innen ein. Und sie machte „gute Erfahrungen“
Bereits kurz nach der Machtergreifung der NSDAP wurde Jeanette Wolff wegen ihres politischen Engagements in „Schutzhaft“ genommen. Als sie nach zweijähriger Haft 1935 entlassen wurde, betrieb sie eine Pension für Juden
Schriftliche Erinnerungen an den NS-Terror
Bald nach ihrer Ankunft in Berlin, 1946, schrieb Jeanette Wolff ihre persönlichen Erinnerungen an die Zeit in den Ghettos und Konzentrationslagern sowie deren Außenkommandos nieder, um „das deutsche Volk“ über die Verbrechen der Nazis aufzuklären. Ihre Aufzeichnungen erschienen 1947 unter dem Titel „Sadismus oder Wahnsinn. Erlebnisse in den deutschen Konzentrationslagern im Osten“ im Sachsenverlag Dresden im Vertrieb von Greiz in Thüringen als Broschüre. Darin beschrieb sie detailliert die Grausamkeiten der SS, deren Menschenverachtung, deren bestialische Sprache und Taten, die unmenschlichen Zustände in den Lagern, das Leid, das Morden, den verzweifelten Kampf der Menschen ums Überleben und auch die Solidarität der Häftlinge untereinander. In den 1970er-Jahren stellte Jeanette Wolff diese um ihre Biographie vor 1942 ergänzten Aufzeichnungen aus dem Jahr 1947 unter dem Titel „Autobiographische Skizzen“
Aussagen gegen NS-Verbrecher*innen und Engagement für die Opfer
Schon bei ihrer Ankunft in Berlin 1946 reaktivierte Jeanette Wolff ihre Kontakte zur SPD. Von 1946 bis 1951 wurde sie Stadtverordnete der SPD in (West-)Berlin und von 1952 bis 1961 Bundestagsabgeordnete. Unter anderem auf Anregung des Sozialdemokraten Paul Löbe wurde sie als Mitglied einer Spruchkammer zur Entnazifizierung
Wie werden wir hier leben?
1946, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und ihrer Rückkehr, ist sie eine der ersten, die die Jüdische Gemeinde in Berlin aufbauen will. Für viele andere ist Berlin nur eine Zwischenstation während des Wartens auf Visa nach Amerika, Australien, Kanada oder Israel. Die meisten sind sich zu dem Zeitpunkt nicht sicher, ob sie in Deutschland bleiben wollen. Jeanette Wolff lehnte 1946 eine Stelle in New York ab, die ihr von Dorothy Thomsen von der Illustrierten „Life“ angeboten wurde. Sie entgegnete – wie ihre Tochter – in Berlin gebraucht zu werden.
Inge Marcus engagierte sich wie Wolff in der Frauengruppe der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und im Jüdischen Frauenbund, den beide Frauen mit anderen 1953 wieder ins Leben gerufen hatten.
„Und doch war da die Frage, wie werden wir hier leben?“, gibt Marguerite Marcus die Situation ihrer Eltern und der Generation von Überlebenden wieder. „Jeanette Wolff war eine große Hilfe. Sie hatte eine Tochter im Alter meiner Mutter. Und sie wusste, hier müssen wir uns ein Standing schaffen im Bereich der Jüdischen Gemeinde und der Sozialdemokratie.“ Marguerite Marcus, damals noch klein, erinnert unter den Frauen des Jüdischen Frauenbundes auch andere im Alter von Jeanette Wolff. „Und die freuten sich immer, wenn ein kleines fröhliches Kind kam. Aber Jeanette Wolff, die ja selber Kinder hatte, interessierte sich nicht dafür. Sie gehörte nicht zu den Strickomas.“
Der Zentralrat der Juden in Deutschland feiert am 27.11.1960 im Festsaal des Gemeindehauses der Jüdischen Gemeinde in Berlin sein zehnjähriges Bestehen. (R-l) Der Präsident des Zentralrates der Juden, Heinz Galinski, die SPD-Politikerin und stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats, Jeanette Wolff, der Generalsekretär Dr. H.G. van Dam und seine Gattin, der Berliner Innensenator Joachim Lipschitz (SPD), und der Kommandant des französischen Sektors, General Jean Lacomme. (© picture-alliance/dpa)
Der Zentralrat der Juden in Deutschland feiert am 27.11.1960 im Festsaal des Gemeindehauses der Jüdischen Gemeinde in Berlin sein zehnjähriges Bestehen. (R-l) Der Präsident des Zentralrates der Juden, Heinz Galinski, die SPD-Politikerin und stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats, Jeanette Wolff, der Generalsekretär Dr. H.G. van Dam und seine Gattin, der Berliner Innensenator Joachim Lipschitz (SPD), und der Kommandant des französischen Sektors, General Jean Lacomme. (© picture-alliance/dpa)
Weiterkämpfen um zu überleben in Berlin
Seit 1948 führte Jeanette Wolff an der Seite von Heinz Galinski und Inge Marcus die Repräsentanten-Versammlung der Gemeinde an, setzte ihre kämpferischen Fähigkeiten in weiteren Ämtern ein. Von 1952 bis 1961 war sie Vorsitzende der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und von 1965 bis 1975 stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, als einzige Frau bis dato. Auch in der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft hatte sie als engagierte Streiterin bald einen Namen. Sie war Mitglied des Landesverbandes und Berliner Delegierte im Hauptvorstand und war für die Trennung von SPD und Gewerkschaft, „ohne die politischen Gemeinsamkeiten zu leugnen“.
Gegen alle Widerstände – bis zuletzt
Wolffs Kampf gegen den Rechtsradikalismus war nach dem Krieg, im Deutschen Bundestag, noch engagierter als vor 1933. Immer wieder kritisierte sie die fehlende Strafverfolgung von NS-Verbrecher*innen, oder dass ehemalige Nationalsozialisten sich nach wie vor im bundesdeutschen Staatsdienst befanden: „Der Herr Kollege von der Deutschen Partei sagte, wir sollen nicht mit Kanonen nach Spatzen schießen. So habe ich das auch im Jahr 1924 gehört. Man sagte, da schießen die Sozialdemokraten nach Spatzen. Vielleicht wäre es besser, ein Mittel zu erfinden, nach den Spatzenhirnen zu schießen … .“
Jeanette Wolff kämpfte trotz zahlreicher Widerstände zeitlebens - im Kaiserreich, der Weimarer Republik, während des NS-Terrors, im geteilten Berlin und in der Bundesrepublik für Gerechtigkeit. Für eine bessere Verständigung zwischen den Religionen gründete sie schon 1949 die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit mit, die sie als eine „Gesellschaft zur allgemeinen, menschlichen Verständigung“ ansah. Bis 1970 war sie deren stellvertretende jüdische Vorsitzende und von 1970 bis 1976 die jüdische Vorsitzende.1975 wurde Jeanette Wolff mit dem Leo-Baeck-Preis des Zentralrats der Juden in Deutschland ausgezeichnet.
Zitierweise: Charlotte Misselwitz, "Jeanette Wolff – Kämpferin für Gerechtigkeit und gegen das Vergessen“, in: Deutschland Archiv, 20.12.2021, Link: www.bpb.de/345047