Erinnerungen an das Leben in der Sowjetunion
Sharon Adler: Du hast die ersten elf Jahre deines Lebens in Leningrad verbracht, das seit 1991 wieder Sankt Petersburg heißt. Wo habt ihr gelebt, wie habt ihr gelebt?
Lena Gorelik: Es gab in der Sowjetunion nicht nur gleichförmige Hochhäuser, sondern auch das Leben ähnelte sich. Alle hatten dasselbe, alle arbeiteten dasselbe. Meine Eltern waren beide Ingenieure, und ich ging zur Schule. Es war ein relativ normales Leben einer Sowjetbürger-Familie. Wir gehörten nicht zu bestimmten Intelligenzia-Kreisen, und alles war so normal, wie es eben in der Sowjetunion ging.
„Mein Vater wollte vor allem nicht nach Deutschland“
Sharon Adler: Wann habt ihr euch für die Emigration entschlossen und was waren die Gründe dafür?
Lena Gorelik: Die Emigration stand im Raum, als die Sowjetunion zusammenbrach und der Antisemitismus anstieg, aber Deutschland war für meinen Vater lange Zeit ein No-Go. Er ist 1940 geboren, und seine ersten Erinnerungen sind die aus dem Krieg. Sein Vater und ganz viele Verwandte sind umgekommen.
Antisemitismus in der UdSSR
Sharon Adler: Kannst Du etwas zum persönlich erfahrenen Antisemitismus erzählen?
Lena Gorelik: Offen ausgelebten, auch staatlichen Antisemitismus, mit Quoten für diejenigen, die studieren durften, gab es in der Sowjetunion schon immer. Das war alles kein Geheimnis und wurde auch nicht hinter vorgehaltener Hand geflüstert, sondern war sehr offensichtlich. Die Menschen lebten damit und nahmen es so hin. Das stieg dann aber an. Vor allem der Antisemitismus auf der Straße, wo man als Jude beschimpft wurde. Und dann erlebte mein Vater selbst offenen Antisemitismus. Er fuhr in der Metro von der Datscha zurück nach Hause, als ein Mann seinen Gummistiefel auf das Knie meines Vaters legte und sagte: „Hey, Du Drecksjude, geh doch zurück nach Israel.“ Und er hörte nicht auf damit. Noch schockierender als dieser Mann war für meinen Vater, dass niemand etwas sagte, obwohl die Metro voll war. Alle guckten betreten weg und mein Vater nahm das als Zustimmung. Danach hat er gesagt, dass es in Deutschland auch nicht schlimmer werden kann.
Sharon Adler: Wie hat sich deine Familie in Russland auf die Emigration vorbereitet und mit welchen Erwartungen war das verknüpft? Welche Träume und Vorstellungen hattet ihr über das Leben in Deutschland?
Lena Gorelik: So wie heutzutage, wo wir für eine einwöchige Reise drei, vier Reiseführer besorgen, konnte man sich damals gar nicht vorbereiten. Man konnte nicht in einen Buchladen gehen und sagen, dass man ein Buch über Deutschland lesen wolle. Es gab außerdem kein Internet, und weil wir zu den ersten Auswander:innen gehörten, kannten wir niemanden, der schon in Deutschland war. Was man über Deutschland wusste, war nur ein bisschen Hörensagen. Wir haben geraten, was man brauchen würde. Meine Eltern haben noch versucht, Deutschunterricht zu nehmen. Jede/r zehn Stunden, um das Gröbste zu können. Das war es dann auch schon mit der Vorbereitung. Man war dann einfach nicht so vorbereitet, wie man dachte, dass man es am besten brauchen würde.
BEIGE
Sharon Adler: In deinem aktuellen Buch „Wer wir sind“ schreibst du darüber, wie ihr in Russland Kleidung „für dort“ organisiert habt, für Deutschland, und du dann "dort" in der Schule mit der bitteren Wahrheit konfrontiert wurdest, dass der beigefarbene Parka kein sehr angesagtes Kleidungsstück war.
Lena Gorelik: In der Sowjetunion gab es zu der Zeit nichts zu kaufen. Weil sie und damit das System der Fünf-Jahres-Pläne zusammengebrochen war. Das heißt, die Läden waren leergefegt. Es gab damals aber alte „Burda“-Zeitschriften, und meine Eltern haben nach den Schnitten eine Jacke für mich nähen lassen. Die Schneiderin meinte, dass man das so im Westen tragen würde. Ich war ganz stolz auf diese angeblich westliche Jacke, die natürlich überhaupt nicht kindgerecht war und keiner Modevorstellung entsprach, denn die Schnitte und Mode aus der Burda hinkten zwei Jahre hinterher. In Russland durfte ich sie noch nicht tragen, weil die „guten“ Sachen ja für Deutschland waren. Und in Deutschland wurde ich dann regelmäßig für diese sowjetisch-russischen Gegenstände ausgelacht.
Das Leben als jüdische „Kontingentsflüchtlinge“ hinter und vor dem Stacheldrahtzaun
Sharon Adler: Wie haben du und deine Familie die Ankunft und die eineinhalb Jahre in der Flüchtlingsunterkunft im schwäbischen Ludwigsburg erlebt, bevor ihr in eine eigene Wohnung ziehen konntet?
Lena Gorelik: Ich glaube, wir waren alle schockiert. Wir wussten ja auch vorher nicht, wie wir untergebracht werden würden. Wir kamen in diese braunen Holzbaracken hinter Stacheldraht, am Rand der Stadt, wohin die Geflüchteten von der Stadtverwaltung so weit wie möglich aussortiert wurden. Eine No-Go-Area. Da war kein Supermarkt in der Nähe, da gab es nichts. Unsere Familie war zu fünft, und wir hatten ein Zimmer. Die Küche haben sich sechzig Leute geteilt, die Dusche ebenfalls. Die Wände waren so dünn, dass man jedes Wort von nebenan hören konnte. Die Heizungen funktionierten teilweise nicht. Es war menschenunwürdig. Und darauf waren wir nicht vorbereitet... Meine Großmutter wollte sofort nach Russland zurück, meine Mutter hat geweint. Man versucht ja immer, seinen Kindern – egal, wie schlecht die Dinge stehen – das Gefühl zu vermitteln, dass alles in Ordnung ist. Das hat da keiner geschafft. Ich konnte spüren, dass die Erwachsenen vollkommen überfordert waren. Sowohl emotional wie auch sonst mit allem, dem Alltag. Weil man ja auch gar nichts vom Land wusste. Meine Eltern hatten auch keine Ahnung, ob sie Anspruch auf irgendwelche Gelder hatten. Es gab keinerlei Hilfestellung. Sie mussten sich alles selbst erobern und waren gleichzeitig an diesem Ort, der sich so gar nicht nach Zuhause anfühlen wollte.
Schulzeit und Ausgrenzung. Identität und „Anderssein“
Sharon Adler: Warst du in der Schule das einzige jüdische Mädchen, das einzige Kind aus der ehemaligen Sowjetunion, das einzige Flüchtlingskind?
Lena Gorelik: Ich war das einzige jüdische Mädchen und auch die einzige aus der ehemaligen Sowjetunion. Meine Klassenlehrerin war vollkommen überfordert. Ich weiß noch, dass sie, pädagogisch nicht besonders wertvoll, die anderen Kinder dazu gezwungen hat, sich um mich zu kümmern. Aber die hatten keine Lust, und auch wenn ich noch nicht viel Deutsch verstanden habe, so habe ich verstanden, dass die anderen nicht wollten. Deswegen fühlt es sich bis heute sehr unangenehm an, wenn sich jemand um mich kümmern muss.
Sharon Adler: Gibt es auch Beispiele von gelungener Integration?
Lena Gorelik: Die ersten paar Monate war ich tatsächlich komplett alleine. Ich konnte ja auch die Sprache nicht, was es natürlich noch schwieriger gemacht hat. Und meine Eltern waren mir keine Hilfe. Nicht, weil sie nicht wollten, sondern weil sie nicht in der Lage dazu waren. Nach den Sommerferien, wo ich ein bisschen Deutsch gelernt habe, weil ich mir in der Stadtbibliothek Bücher wie „Pippi Langstrumpf“ und „Karlsson vom Dach“ ausgeliehen habe, musste ich natürlich die Klasse wiederholen. Aber ich bekam dann einen anderen Lehrer, der ein ganz tolles Feingefühl dafür hatte, wie man mit Kindern, die sich fremd fühlen, umgeht. Der hat das ganz grandios gemacht und sehr unauffällig und auf eine unglaublich kluge Weise dafür gesorgt, dass ich in der Klasse ankam.
Sharon Adler: Deine Mutter sorgte auch dafür, dass du nicht in die Klasse kamst, in der vor allem Ausländer:innen waren.
Lena Gorelik: Meine Mutter hat relativ schnell verstanden, dass man in diesen Förderklassen, in denen man nur mit denen zusammen ist, die auch kein Deutsch können, kein Deutsch lernt. Die sind ja oft Abstellgleise. Heute bin ich natürlich sehr dankbar, aber damals war es mir unglaublich peinlich. Sie hat tatsächlich die Schuldirektorin angebettelt, dass ich in eine normale Klasse gehen konnte.
Sharon Adler: Du hast dann sogar sehr bald eine Klasse übersprungen und dadurch eine andere Art von Ausgrenzung erfahren, weil du ab dann in der Schule als Streberin galtst…
Lena Gorelik: …Gute Noten zu schreiben und eine Klasse zu überspringen, ist natürlich unter Gleichaltrigen so ziemlich das Schlimmste, was man machen kann. Ich habe am Anfang versucht, die Erwartungen meiner Eltern zu erfüllen und war gut in der Schule. Damit fühlte ich mich aber derart allein, dass ich mit Absicht leere Klassenarbeiten abgegeben habe, damit ich nicht als die Streberin auffalle. Ich habe dann dafür gesorgt, das problematische Kind in der Schule zu sein.
Die Schriftstellerin, Essayistin und Journalistin Lena Gorelik am 22. September 2021 auf der Dachterrasse des Monbijou Hotels in Berlin, kurz vor der Berliner Buchpremiere ihres aktuellen Buchs „Wer wir sind“ im Pfefferberg Theater im Rahmen des Festjahrs „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Die Schriftstellerin, Essayistin und Journalistin Lena Gorelik am 22. September 2021 auf der Dachterrasse des Monbijou Hotels in Berlin, kurz vor der Berliner Buchpremiere ihres aktuellen Buchs „Wer wir sind“ im Pfefferberg Theater im Rahmen des Festjahrs „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Sharon Adler: Später, als du dein Abitur mit einem Notenschnitt von 1,1 bestanden hast, wollte dein Vater wissen, warum du nicht 1,0 erreicht hättest. Welchen Stellenwert hatte deine Bildung für deine Eltern? Welche Erwartungen musstest du ihnen gegenüber erfüllen?
Lena Gorelik: Es war natürlich klar, dass meine Eltern wegen mir und meinem Bruder nach Deutschland gekommen waren. Deswegen waren Erfolg und schnell die Sprache zu lernen die Erwartungshaltungen. Ich glaube, dass die Definition von Glück oder Erfolg teilweise sehr unterschiedlich ist. Für meine Eltern bestand klassischer Erfolg im sowjetischen Sinne – wobei ich glaube, dass das auch eine Generationenfrage ist – darin, dass man einen festen Job hat, Geld verdient, in den Urlaub fahren kann und ein Haus hat. All diese klassischen Dinge im herkömmlichen Sinne hätten sie sich für mich gewünscht.
"Verstaubte Diplome“
Sharon Adler: Wie würdest du die Situation und Stimmung aufgrund der Nicht-Anerkennung von Schul-, Ausbildungs- und Universitätsabschlüssen der jüdischen Einwander:innen aus der ehemaligen UdSSR in deinem familiären Umfeld beschreiben? Wie wurde dieser soziale Abstieg empfunden?
Lena Gorelik: In der Sowjetunion war mein Vater Diplomingenieur, meine Mutter war Ingenieurin, und meine Großmutter hat eine Abteilung einer Textilfabrik geleitet. In Deutschland hat meine Mutter vor ihrer Umschulung zur Buchhalterin erstmal nur geputzt. So richtig darüber geredet hat sie nicht. Es steht mir fern, mit Begriffen wie Depression und mit selbst gestellten Diagnosen um mich zu werfen, aber ich weiß noch, dass mein Vater unglaublich oft gereizt war und viel geschrien hat. Ich erinnere mich kaum daran, dass er geredet hat. Das, was er in der Sowjetunion als Ingenieur getan hat, also geplant und gezeichnet, musste er nun an einem Fließband ausführen. Er hat sehr oft erzählt, wie demütigend es für ihn war, wenn er von Menschen, die weniger ausgebildet waren als er, Anweisungen bekam, wie er eine Arbeit auszuführen habe. Meine Mutter hat auch trübe geschwiegen. Diese Schwierigkeiten und Demütigungen sind ja auch nichts, was man seinem Kind erzählt. Heute sprechen sie immer mal wieder darüber, dass es sehr demütigend und natürlich auch körperlich unglaublich anstrengend war. Mein Vater war über fünfzig, als er nach Deutschland kam. Meine Großmutter sprach Jiddisch und hat immer gesagt, dass Schwäbisch ein wenig wie Jiddisch klingt. Damit ist sie ein bisschen durchgekommen.
30. Jahrestag der Einwanderung jüdischer „Kontingentflüchtlinge“ aus der ehemaligen Sowjetunion
Sharon Adler: Siehst du das Jubiläum
Lena Gorelik: Das kann man nicht so eindeutig sagen, und wie bei allem gibt es Vor- und Nachteile. Wenn man das große Gesellschaftliche anguckt, ist das natürlich ein Jahr zum Feiern, weil es jüdisches Leben in Deutschland ohne die Zuwanderung kaum noch geben würde. Es ist vielfältig, es ist divers, und es ist bereichert worden. Es gibt einfach eine lebendige jüdische Kultur auf sehr vielen Ebenen, von religiös bis kulturell. Das merkt man auch an den Diskussionen, die geführt werden, und daran, dass es viele verschiedene Positionen gibt. Für die Einzelnen war es mit Sicherheit ein Erfolg und für die jungen Generationen sogar in den meisten Fällen. Gerade für die erste Einwanderergeneration, wie die meiner Eltern, ist es schön und beruhigend, ihre Kinder so stabil im Leben zu sehen. Sie haben es nie bereut, hierhergekommen zu sein, obwohl es mit vielen Demütigungen einhergegangen ist.
Sharon Adler: Du hast Erfolg, hast zahlreiche wichtige Auszeichnungen bekommen, bist als Mitglied bei der Bayerischen Akademie der Schönen Künste
Lena Gorelik: Nein. Es taucht immer wieder auf. Natürlich ist es nicht die ganze Zeit da, aber wenn mich etwas triggert, dann ist es immer wieder da. Meine Therapeutin sagt, dass es dazugehört und immer so bleiben wird. Und ich soll nicht so sehr dagegen ankämpfen, weil das ein Teil von mir ist. Es gibt so Trigger, wenn ich mich nicht zugehörig fühle oder wenn ich Ausgrenzungsmechanismen fühle, die mir das Gefühl geben, aus irgendeinem Grund nicht dazuzugehören, dann ist dieses Mädchen wieder da. Nicht immer, und natürlich ist mir bewusst, dass viel Anteil davon Trigger ist, aber trotzdem sind das, glaube ich, Erfahrungen, die in einem festgebrannt sind. Vielleicht ist es auch beim Schreiben da. Ich wehre mich häufig dagegen. Diese Grunderfahrungen, von der Heimat entrissen zu werden, immer wieder ausgegrenzt zu werden, immer wieder als fremd markiert zu werden, sind ja auch wichtige Erfahrungen.
Sharon Adler: Kann Schreiben als Prozess oder Therapie dem Verlust von Heimat und Muttersprache etwas entgegensetzen?
Lena Gorelik: Schreiben ist keine Therapie. Schreiben ist ein Verstehen. Therapie hat ja zum Ziel, wenn sie funktioniert, dass sich die Dinge ändern. Beim Schreiben kann ich verstehen, beim Schreiben ändere ich nichts. Beim Schreiben suche ich aus, wie ich etwas erzähle, und dadurch nehme ich wahr, was es für verschiedene Möglichkeiten, Perspektiven gibt, eine Geschichte, oder in dem Fall meine Geschichte, zu erzählen, aber das Schreiben heilt nicht. Es hält fest, und es hilft verstehen. Es ist nicht so, dass, wenn ich einen schamhaften Moment aufgeschrieben habe, die Scham dann verschwindet. Wenn man sich die Werke von Künstler:innen aller Sparten anguckt, ziehen sich ja auch meist bestimmte Themen durch die Werke. Was zeigt, dass die Themen bleiben. Es ist zum Beispiel nicht so, dass Frida Kahlo ein Bild gemalt hat und sich dann anderen Themen ihres Inneren zuwenden konnte.
Die Bedeutung des Jüdischen zwischen Zuschreibung und emotionaler Dimension
Sharon Adler: Jüdische Identität wird in Deutschland anders als in Russland gelesen. Was verstehst Du unter jüdischer Identität? Und wie bist du damit umgegangen, wenn ein Geschichtslehrer dich gebeten hat, „der Klasse den Nahostkonflikt zu erklären“?
Lena Gorelik: Es ist individuell sehr unterschiedlich, wie man das definiert und wie man das begreift. Für mich war das, als ich aufwuchs, eine Volkszugehörigkeit. Es stand ja auch so im Pass: „jüdisch“. So wie bei anderen georgisch, russisch, mongolisch, ukrainisch stand, stand bei uns jüdisch. Das heißt, für mich hatte das Jüdische, bis ich nach Deutschland kam, keine kulturelle und nur eine sehr geringe religiöse Dimension. Für mich war das einfach etwas, was ich war. Ich wurde dann in Deutschland mit den Erwartungshaltungen konfrontiert, die hier damit einhergehen. Das fing damit an, dass alle gedacht haben, dass ich koscher essen würde. Ich wusste gar nicht, was koscher ist. Oder die jüdischen Feiertage. Man wurde einfach mit vielen Zuschreibungen konfrontiert. Und dazwischen musste ich mich eben zurechtfinden. Das war nicht immer einfach.
Sharon Adler: Die Frage nach Herkunft und Identität spielt in all deinen Werken eine zentrale Rolle. Welchen Stellenwert hat heute das Jüdische in deinem Leben, wie hast du selber es „erlernt“, und wie lebst du es mit den Kindern? Lena Gorelik: Wir leben überhaupt nicht religiös. Für die Kinder ist es eine Identität, eine von vielen. Sie würden sagen, dass sie Juden sind, es aber vermutlich nicht definieren können. Manchmal gehen wir an Rosch ha-Schana, an Chanukka und Purim, weil man sich da verkleiden kann, in die Liberale Gemeinde. Aber wenn es nicht in den Terminkalender passt, gehen wir auch nicht. Das Jüdische spielt aber als Zuschreibung eine ständige Rolle. Wenn es antisemitische Angriffe gibt oder Debatten, wie kürzlich um Max Czollek und Maxim Biller,
Worte und Sprache(n). Russisch, Jiddisch, Deutsch (Schwäbisch).
Sharon Adler: In deinem Buch „Wer wir sind“ rückst du auch das Nachdenken über Sprache, die Bedeutung von Sprache (und Sprachen) in den Fokus. Welche Bedeutung hat Sprache im Kontext von Identität und Zugehörigkeit für dich heute? Was bedeutet es für dich, wenn du sagst, „die russische Sprache liebe ich wie ein Kind“ oder wenn du über deine Söhne sagst „Wir haben keine gemeinsame Muttersprache“?
Lena Gorelik: Da Sprache mein Beruf ist, ist es etwas, was mich definiert. Es ist zwar auch ein Mittel zur Kommunikation, aber es ist auch etwas, was ich sehr viel genauer und feinfühliger wahrnehme als andere. Ich achte sehr darauf, wie Menschen sprechen und was zwischen den Zeilen gesagt wird. Für mich macht Sprache Geborgenheit aus. Ich liebe es, dass ich zu den verschiedenen Sprachen in meinem Leben unterschiedliche Gefühle habe, dass sie sich jederzeit ändern und verwandeln können, und dass all das nicht auf einer intellektuellen Ebene stattfindet. Das gilt sowohl für die deutsche als auch für die russische Sprache. Sprachen lösen bestimmte Gefühle aus. Auch Lücken in den Sprachen lösen Gefühle aus. Das ist etwas, worüber ich viel nachdenke, und etwas, was viel von der Art, wie ich das Leben wahrnehme, ausmacht. Meine Kinder verstehen Russisch relativ problemlos, aber ihr aktives Russisch ist überhaupt nicht gut. Natürlich habe ich ihnen auch russische Bücher vorgelesen und trotzdem wird das, was ihre Kindheit ausmachen wird, vermutlich eher die deutsche Sprache sein. Das heißt, dass wir bestimmte Dinge nicht teilen. Das ist aber immer so. Alle Eltern versuchen ihren Kindern Dinge aus der eigenen Kindheit mitzugeben, die aber für die Kinder nicht den gleichen Stellenwert haben. Da meine Kinder aber ein Gefühl für die russische Sprache haben, habe ich ihnen das Wichtigste daran mitgegeben.
Sharon Adler: Gibt es Wörter, die sich nicht aus dem Russischen ins Deutsche übersetzen lassen?
Lena Gorelik: Ja, ganz viele… тоска (Toska), ist irgendetwas zwischen Melancholie, Sehnsucht, Träumerei, ein ganz tiefes Gefühl. пошлость (Poshlost’) ist ein grobes, vielleicht etwas freches, auf jeden Fall ein unfaires Verhalten. подвиг (Podwig) ist eigentlich eine Heldentat, aber ein Begriff, der im Alltag verwendet wird, wenn jemand etwas Großes tut.
Berufswunsch: Schriftstellerin und Journalistin und die Liebe zur Literatur
Sharon Adler: Du schreibst, dass du schon in deiner Schulzeit heimlich unter deinem Pult geschrieben hast. Wann und wodurch entstand der Wunsch danach, Schriftstellerin und Journalistin zu werden?
Lena Gorelik: Den hatte ich schon immer. Ich habe früh lesen gelernt. Ich war immer eines der Kinder, das auf dem Spielplatz auf der Bank lesend neben den Omas saß, anstatt irgendwo rumzuklettern. Ich habe schon als Kind Geschichten geschrieben, schon in Russland, sobald ich schreiben konnte. Deutsch habe ich quasi lesend und schreibend gelernt. Dieser tolle Grundschullehrer, von dem ich schon erzählt habe, hat mich danach gefragt, was ich gerne mache. Als ich geantwortet habe, dass ich gerne lese und schreibe, bat er mich darum, eine Geschichte zu schreiben.
Sharon Adler: Deinen literarischen Durchbruch hattest du 2004 mit deinem ersten Roman, „Meine weißen Nächte”, der 2005 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur ausgezeichnet wurde. Was hat sich seitdem verändert hinsichtlich Sichtbarkeit und Akzeptanz von jüdischen russischen Schriftsteller:innen in Deutschland?
Lena Gorelik: Die Sichtbarkeit ist unglaublich angewachsen. Ich habe erst vor kurzem darüber nachgedacht, dass es ja vor allem Frauen sind. Wenn ich es richtig sehe, dann ist Dmitrij Kapitelman der einzige Mann. Dafür, dass die Migrant:innengruppe an sich relativ klein ist, ist deren Anteil an der deutschen zeitgenössischen Literatur unglaublich hoch. Jeder oder jedem, die oder der den Buchmarkt verfolgt, würden bestimmt spontan die Namen von vier bis fünf russisch-jüdischen Autor:innen einfallen.
Sharon Adler: Hast du anfangs mit den russisch-jüdischen Themen bei den Verlagen offene Türen eingerannt?
Lena Gorelik: Ich hatte das Glück, dass ich quasi von einer Verlegerin entdeckt worden bin. Ich habe gar nicht bewusst nach einem Verlag gesucht. Ich hatte mich für ein Schreibseminar vom Literaturhaus München und der LMU München beworben und da meine erste Verlegerin kennengelernt. Sie hat Texte von mir gelesen und spornte mich daraufhin an, ein Buch zu schreiben. Es war in meinem Fall nicht der klassische Weg, wo man ganz viele Verlage anruft.
Sharon Adler: Du bist für Die Zeit mit deinen Kindern auf den Spuren deiner Lieblingsautorin Astrid Lindgren durch Schweden gereist. Lindgren war ja nicht nur die Schöpferin von „Die Kinder von Bullerbü“ oder „Pippi Langstrumpf“, sondern sie war auch Pazifistin und hat in ihren „Tagebüchern 1939-1945“
Lena Gorelik: Als Autorin hänge ich gerne dem Glauben nach, dass Literatur die Welt verändern kann, dass sie Empathie weckt, dass sie Fluchtort und Tor zur Welt zur selben Zeit sein kann. Das gilt für Kinderliteratur insbesondere: in einer Zeit, in der das Denken noch frei ist, in der Phantasie das Fliegen erlaubt. Ich erinnere mich daran, in Astrid Lindgrens Büchern „gelebt“ zu haben. Ich war da, in Lönneberga, habe mit Kalle Blomquist im Verlies gezittert, hab' mit Pippi Langstrumpf und Annika und Tom Pfannkuchen gegessen, bin – trotz des Eisernen Vorhangs – mit Karlsson auf den Dächern Stockholms herumspaziert, und am Häufigsten war ich auf der Fähre, die in Saltkrokan anlegt. Das ist, was Kinderliteratur vermag, das sind nicht nur Geschichten, das sind Welten.
Antisemitismus in Russland, Antisemitismus in Deutschland
Sharon Adler: Deine Familie hat die Sowjetunion aufgrund des wachsenden Antisemitismus verlassen. Heute lebst du in München. Externer Link: Der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern wurden 2020 insgesamt 239 antisemitische Vorfälle gemeldet. Das entspricht einer Zunahme von knapp 30 Prozent gegenüber 184 Fällen aus dem Vorjahr. Was muss passieren, um Antisemitismus dauerhaft und in allen Bereichen erfolgreich zu bekämpfen – oder ist das ein Kampf gegen Windmühlen?
Lena Gorelik: Für mich ist das vor allem ein Kampf, der nicht geführt wird. Ein Kampf, der von Politiker:innen immer wieder gepredigt wird, die dann ganz groß verkünden, dass es keinen Raum für Antisemitismus geben darf. Aber das ist abstrus, denn wenn es keinen Raum geben dürfte, gäbe es keinen Antisemitismus. Das ist eine leere Floskel. Es wurde zwar die Stelle eines Bundesbeauftragten für Antisemitismus eingerichtet, aber ich glaube, dass man viel früher anfangen muss. Ich glaube, dass Antisemitismus nicht alleine daherkommt, der geht mit Rassismus und Antifeminismus einher. Das sind so Hierarchie-Vorstellungen davon, dass irgendjemand besser ist als die anderen, und dass deswegen jemand mehr Anrecht hat, in Deutschland zu leben als andere. Da reicht es nicht, den einen festzunehmen, der einen Anschlag geplant hat. Ohne den Anschlag kleinreden zu wollen. Es geht darum, dass sich in der Haltung der Menschen etwas ändert. Und darauf wird, finde ich, zu wenig hingearbeitet. Ich glaube, man kann all diese Ismen bekämpfen, aber es reicht nicht, darüber zu reden, dass wir das nicht haben wollen. Es ist ein bisschen so, als würde ich dasitzen und einfach nur wollen und bekräftigen, dass mein Zimmer aufgeräumt wird. Aber solange ich nicht anfange, es aufzuräumen, wird es nicht passieren. Veränderungen funktionieren nur, wenn sie gesamtgesellschaftlich funktionieren, und nicht, wenn man ankündigt, dass man ein Projekt in einer Schulklasse von einer Schule in einer Stadt macht. What for? Das ist rausgeschmissenes Geld, wenn Du mich fragst.
Zitierweise: "Lena Gorelik: „Schreiben ist ein Verstehen“", Interview mit Lena Gorelik, in: Deutschland Archiv, 15.12.2021, Link: www.bpb.de/344845