Die Frage, wer sich um die Älteren kümmert, wenn sie einmal auf Fürsorgeleistungen angewiesen sein würden, hat die Sozialpolitik seit der Gründung der DDR beschäftigt. Vorschläge für eine "Betreuungskartei für Bürger im Rentenalter", kurz eine Rentnerkartei, lassen sich von den 1960er-Jahren bis zur Deutschen Einheit nachverfolgen.
Im Zeichen der Kriegsfolgen: vom Leistungsprinzip zum Versorgungsprinzip
Schon kurz nach der Gründung der DDR sprach Jenny Matern, stellvertretende Gesundheitsministerin (und Ehefrau des SED-Politikers Hermann Matern), von einem "anormal großen Rentnerkreis".
Aus einem Briefwechsel mit dem MfGe geht hervor, dass Versorgung im Alter zudem eine Ermessensfrage war, bei der "die Entscheidung des Arztes […] nicht selten mehr oder weniger willkürlich [war]".
Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) verstand sich als eine Staatsführung mit ausgeprägtem Fürsorgeanspruch gegenüber der Bevölkerung. Auch ältere Menschen mit ihren individuellen Pflegebedürfnissen waren daher schon früh Gegenstand offizieller Rhetorik. Zwar deklarierte die SED Rentnerinnen und Rentner zu sogenannten "Veteranen der Arbeit", die ihren Anteil am Aufbau des Sozialismus schon geleistet hätten und nun im Alter entweder vom Staat oder von ihren Mitmenschen versorgt werden sollten.
In dieser Verfassungsänderung spiegelte sich ein Charakteristikum sozialistischer Sozialpolitik, das nun explizit die Gruppe der Älteren einschloss: Neben dem Staat sollte die Gesellschaft im Sinne einer "gesamtgesellschaftlichen Verantwortung" für soziale Probleme und deren Bewältigung zuständig sein. Im Frühjahr 1960 hatte der damalige Gesundheitsminister Max Sefrin eine Anweisung hierzu herausgegeben, in der er verkündete, "niemand soll im Alter oder bei Gebrechlichkeit das Gefühl haben, vereinsamt und sich selbst überlassen zu sein".
Eine Betreuungskartei für Bürger im Rentenalter
In den 1960er-Jahren kümmerten sich ganz im Sinne dieser "gesamtgesellschaftlichen Verantwortung" daher meistens Familienangehörige, Nachbarn, Hauswirtschaftspflegerinnen der Volkssolidarität sowie Gemeindeschwestern um pflegebedürftige Ältere. Gemeinsam organisierten sie im jeweiligen Wohnbezirk die notwendige Unterstützung im Alltag und wo möglich auch häusliche Altenpflege. Jedoch gab es unterschiedliche Einschätzungen darüber, wie gut die Versorgung der Älteren auf diesem Weg erfüllt werden konnte. Anfang der 1960er-Jahre noch bestätigte ein Kreisvorsitzender der Volkssolidarität, also derjenigen Organisation, die sich in der DDR auf die Pflege älterer Menschen spezialisiert hatte, "dass ein Teil der Rentner noch von Angehörigen unterstützt wird, sodass wir nicht unmittelbar eingreifen müssen".
Vermutlich ging es zu diesem Zeitpunkt vor allem um ein politisches Signal, da die Versorgung Älterer durch selbstorganisierte Helferinnen und Helfer unangenehm auf die geringe Beteiligung des angeblichen Fürsorgestaates an der Altenfürsorge aufmerksam machte. Zugleich waren von den seinerzeit knapp 17 Millionen Einwohnern der DDR über drei Millionen im Rentenalter.
Trotz dieser Bemühungen "von oben" wurden nur vereinzelt Schritte zur Umsetzung der Betreuungskartei unternommen. In Nordwestmecklenburg beispielsweise befragten die Räte einiger Gemeinden ortsansässige Personen im Rentenalter zu ihrer Lebenssituation. Das MfGe stellte dafür einen "Leitfaden für die Gesprächsführung" zur Verfügung.
Die Idee, Daten über Rentnerinnen und Rentner in einer Kartei zu erfassen, passte durchaus in die Zeit. In der DDR war gerade mit dem Aufbau einer zentralen Personendatenbank begonnen worden, für die individuelle Personenkennzahlen (kurz PKZ) vergeben wurden. Vorübergehend schien so auch die Rentnerkartei ein vielversprechendes Vorhaben zu sein. Das MfGe stellte im Folgenden aber keine zusätzlichen Mittel in Aussicht, etwa für weitere Heimplätze, Rentnertreffs oder Hauswirtschaftspflegerinnen, weswegen das Projekt schließlich auf wenig Begeisterung bei den lokalen Akteurinnen und Akteuren stieß. Diese pflegten oftmals eigene Listen und sahen vermutlich keinen praktischen Nutzen in einer zusätzlichen Kartei.
Allerdings hätte die Rentnerkartei insbesondere auf lokaler Ebene zu mehr Klarheit führen können, zum Beispiel in der Frage, wer denn eigentlich im Rentenalter war. Als "im Rentenalter" definierte das Institut für Soziologie und Sozialpolitik Mitte der 1970er-Jahre Frauen ab 60 Jahren und Männer ab 65 Jahren.
Der vom MfGe erstellte Leitfaden für die Rentnerkartei fragte gezielt ab, in welchem Umfang jemand noch dazu in der Lage war, den eigenen Alltag zu bewältigen. Es ging unter anderem um die Reinigung der Wohnung, Besorgungen und Einkäufe, Reinigung der Wäsche, die Versorgung mit Mittagessen sowie um Fragen der Körperpflege, etwaige medizinische Betreuung oder Hauskrankenpflege. Dazu wurde ermittelt, ob eine Person allein lebte und ob sie bereits an altersspezifischen Angeboten in ihrem Wohnviertel teilnahm.
In den Beispielfällen Nordwestmecklenburg und Kamenz blieben die Ergebnisse solcher Befragungen entweder handschriftliche Notizen oder wurden auf Karteikarten aus Papier übertragen. Sie hatten allem Anschein nach zunächst keine praktischen Auswirkungen darauf, wer Hilfe bekam beziehungsweise wer Hilfe leistete. Mit dem Amtsantritt Erich Honeckers, der im Jahr 1971 Walter Ulbricht als Generalsekretär der SED ablöste, begann zwar die sogenannte Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, die der Bevölkerung höhere Lebensstandards und bessere Versorgung versprach.
Berlin-Mitte, Blick auf das Haus der Statistik der DDR am Alexanderplatz (Foto von 1970) (© Bundesarchiv, Bild DH 2 Bild-A-07852, Brückner)
Berlin-Mitte, Blick auf das Haus der Statistik der DDR am Alexanderplatz (Foto von 1970) (© Bundesarchiv, Bild DH 2 Bild-A-07852, Brückner)
Von der Rentnerkartei zum "Computer-Projekt"
In den 1980er-Jahren setzten in der DDR viele Bezirks- und Stadträte auf sogenannte Komplexvereinbarungen, in denen sie sich Sorgearbeit mit der Nationalen Front, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) und Organisationen wie der Volkssolidarität, dem Deutschen Roten Kreuz der DDR und dem DFD aufteilten. In einer solchen Vereinbarung erklärten beispielsweise die Beteiligten in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), "für die Veteranen adäquate Arbeits-, Wohn- und Lebensbedingungen in sozialer Sicherheit und Geborgenheit zu gestalten".
Um dennoch einen Überblick über die Anzahl, die Lebenssituation und den Gesundheitszustand der älteren Menschen zu gewinnen, unternahm das MfGe gemeinsam mit der Staatlichen Verwaltung für Statistik (SZS) Mitte der 1980er-Jahre erneut den Versuch, eine zentrale Rentnerkartei einzuführen. Zu diesem Zeitpunkt hatten Computer erstmals eine ganze Reihe personenbezogener Massenspeicher in der DDR möglich gemacht, etwa den Einwohnerdatenspeicher (EDS), einen Datenspeicher Gesellschaftliches Arbeitsvermögen (GAV), einen zentralen Kaderdatenspeicher (ZKDS), verschiedene zentrale Arbeitskräftedatenspeicher sowie einen territorialen Datenspeicher Wohnungspolitik (WOPOL).
An den Vorbereitungen für die Rentnerkartei beteiligten sich neben dem MfGe und der SZS nun auch das Institut für medizinische Statistik und Datenverarbeitung (ISD) und das Institut für Verwaltungsorganisation und Bürotechnik (IVB).
Die Vision, Betreuungsleistungen zentral koordinieren und kontrollieren zu können, fiel in sich zusammen. Ebenso die Vorstellung, die Versorgung mit altersgerechten Wohnungen sowie Plätzen in Feierabend- und Pflegeheimen EDV-gestützt zu gestalten. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass die SZS dem Einsatz von Computern in den Staatsorganen und im Gesundheits- und Sozialwesen der DDR schon seit Beginn der 1980er-Jahre entgegengefiebert hatte. Datenspeicher galten als moderne Errungenschaften, die den Umgang mit Informationen revolutionierten. Auch das IVB erhoffte sich, durch PC-Anwendungen "Arbeitszeit einzusparen und den Verwaltungsaufwand insgesamt zu senken".
Mitten in der "Wende" kamen zudem erste Datenschutzbedenken auf. Im Frühjahr 1990 entschieden die Projektbeteiligten, dass "Unbefugte […] keinen Zugang zur Datenbank haben [dürfen]",
Care-Arbeit zwischen Privatsache und staatlicher Aufgabe
Die Situation älterer Menschen warf auch in der DDR typische Fragen moderner Sozialstaatlichkeit auf: Was brauchen wir im Alter? Wer kümmert sich in unserer Gesellschaft um die Älteren? Was kann jeder Einzelne zu ihrer Fürsorge beitragen und was der Staat? Die Rentnerkartei ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr die Staatsführung der DDR diese Fragen auf dem Wege der Verwaltung zu lösen hoffte. Unabhängig davon, wie effizient die Erfassung von Menschen in der Rentnerkartei vorangetrieben wurde, verblieb Care-Arbeit zumeist als "gesamtgesellschaftliche Verantwortung" bei Helferinnen und Helfern vor Ort. Die Reichweite des sogenannten Fürsorgestaates war in Hinblick auf die ältere Bevölkerung sehr begrenzt. Mit der "Wende" verschwanden nicht nur die staatlichen Einrichtungen, die sich zuvor mit der Rentnerkartei befasst hatten. Gleichzeitig erfuhr der Bereich der Altenpflege einen umfassenden Wandel, indem Care-Arbeit zwischen Privatsache und staatlicher Aufgabe neu verhandelt wurde. Somit endeten im Sommer 1990 schließlich auch die Bemühungen um die Rentnerkartei.
Abschließend ist festzuhalten, dass die Rentnerkartei vermutlich schon lange vor der "Wende” zum Scheitern verurteilt war. Ihr fehlte die Unterstützung lokaler Akteurinnen und Akteure, die in ihr nur eine unnötige Bürokratie ohne Auswirkungen auf die Altenfürsorge sahen. Hier verpassten alle Beteiligten die große Chance, Hilfeleistende und Hilfebedürftige sozialpolitisch zusammenzubringen. Im Rahmen der Leitfadenbefragungen in den 1970er-Jahren sowie bei den Datenerhebungen in den 1980er-Jahren fanden umfangreiche Gespräche mit Menschen im Rentenalter, mit ihren Ärztinnen und Ärzten sowie ihren Angehörigen und Haushaltshilfen statt. Die Gelegenheit, anlässlich der Rentnerkartei "von oben" soziale Inklusion "von unten" zu verhandeln, verstrich jedoch ungenutzt.
Zitierweise: Maren Hachmeister, "Der Plan einer Rentnerkartei in der DDR – Care-Arbeit zwischen Privatsache und staatlicher ", in: Deutschland Archiv, 12.11.2021, Link: