Sharon Adler: Sie waren drei Monate alt, als Hitler an die Macht kam, sechs Jahre, als am 9. November 1938 die Ohel-Jakob-Synagoge brannte, und sieben, als die Wehrmacht in Polen einmarschiert ist. Welche Erinnerungen haben Sie an die Ausgrenzung, die Sie und Ihre Familie erfahren haben?
Charlotte Knobloch: Ich wurde als das einzige Kind in ein gutbürgerliches Haus hinein geboren. Es gab nur noch eine Cousine, die bis 1936 in Nürnberg aufgewachsen ist. Mein Vater
Zuhause tröstete mich meine Großmutter, die meinen Weg durchs Fenster beobachtet hatte. Sie hat damals schon viel bei uns gelebt, 1939 ist sie dann endgültig zu uns gezogen. Meine Mutter hatte uns vorher verlassen: Sie hat dem Druck nicht standgehalten, dem sie durch Konversion und Ehe mit einem Juden ausgesetzt war.
Ich fragte meine Großmutter, warum ich nicht mit den Kindern spielen durfte und was das Wort „Jude“ bedeutet. Wir begingen zwar die jüdischen Feiertage und mein Vater und meine Großmutter nahmen mich immer in die Synagoge mit, aber das Wort „Jude“ war für mich kein Begriff. Auch sie war erst zu bestürzt, um die richtigen Worte zu finden. Um es für mich kindgerecht zu erklären, hat sie die Kirchen als solche zur Grundlage genommen: „Es gibt Menschen, die in die Kirche gehen, Menschen, die in die Synagoge gehen, das sind wir, und es gibt auch Menschen aus beiden Bereichen, die sich nicht so gerne haben.“
Ich habe das trotzdem noch nicht so richtig verstanden, das kam erst etwa ein halbes Jahr später. Meine Großeltern väterlicherseits waren Wagnerianer und sehr musikalisch. Deshalb bekam ich Klavierstunden, was mir sehr gut gefallen hat. Ich habe auch schnell Fortschritte gemacht. Bis uns eines Tages jemand aus dem Haus bei der Gestapo denunziert hat und der Klavierlehrerin erklärt wurde, sie dürfte kein jüdisches Kind unterrichten: Man hat ihr gedroht, dass sie ansonsten die Probleme bekäme, die „für die Juden vorbereitet“ seien.
Raub
Regelmäßig morgens um vier oder fünf Uhr in der Früh haben die Nazis Sturm bei uns geläutet. Sie sind dann wie selbstverständlich durch unsere Wohnung gegangen und zeigten systematisch auf verschiedene Sachen: Porzellan, Besteck, Bilder, Antiquitäten, Leuchter. Diese wurden auf den Tisch gestellt, und es wurde eine Liste erstellt, die wir unterschreiben mussten. Später kam auch das Telefon dazu. Sie bedienten sich nach Belieben und quittierten, ganz akkurat. Das waren Schreckenssekunden und -minuten, man wusste ja nie, was sie noch weiter aussuchen würden. Ich stand immer im Bademantel dabei.
Ich kann mich an mehrere solche Überfälle erinnern. Einmal, da war ich schon etwas älter, war es noch schlimmer. Da sind sie am Tag gekommen. Mein Vater, der ahnte, es könnte etwas mit ihm zu tun haben, ist schnell über den zweiten Aufgang ins Parterre gelaufen. Die Nazis durchsuchten die Wohnung nach Gegenständen und nach meinem Vater. Als sie mich fragten, wo er sei und ich antwortete, ich wisse es nicht, bekam ich eine Ohrfeige, die ich heute noch spüre. Ich habe natürlich geweint, denn das hatte wehgetan, aber auf die Frage „Aber jetzt weißt du's?“ habe ich wieder behauptet „Nein, ich weiß es nicht“. Da haben sie mir anscheinend doch geglaubt und sind gegangen. Das war nicht nur bei uns so, sondern bei allen jüdischen Familien, die zu der Zeit noch da waren. Die Auswanderung hat ja da schon begonnen. Damals noch mit Erfolg, aber dann haben immer weniger Länder Juden aufgenommen. Und zu damaliger Zeit mussten die Juden sehr viel Geld mitbringen, damit man sie überhaupt ins Land gelassen hat.
Ausgrenzung und Berufsverbot jüdischer Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen
Inzwischen hatte man meinem Vater seine Zulassung als Rechtsanwalt
Es kamen viele Menschen mit der Deportationsaufforderung in den Händen zu meinem Papa. Sie weinten, schrien, flehten, sie waren in einem furchtbaren Zustand, das waren Menschen, die noch irgendeinen Ausweg gesucht haben, sich der Deportation zu entziehen. Ich kann das bis heute nicht vergessen. Am Ende traf es auch unsere Familie, über die nicht mehr existierende Jüdische Gemeinde. Die hatte auf Befehl der Gestapo einen jüdischen Mitarbeiter abgestellt, der ihr die Namen der Menschen für Transporte nennen musste. Auf den Transportlisten waren alte Menschen, Kinder, jüdische Münchner jeden Alters.
Der 9. November 1938
Mein Vater erhielt an diesem Tag eine Warnung, es sei etwas gegen die Juden im Gange, und wir sollten auf die Straße gehen. Das haben wir gemacht. Mein Vater, mit mir an der Hand und auf der Straße, hat dann in seinem Büro angerufen, von einer Telefonzelle aus, und nach sich selbst gefragt. Es hieß „Nein, der ist gerade nicht da, wir warten auch auf ihn“. Da hat er gewusst, um was es geht. Er ahnte, dass sie auch unsere Wohnung durchsuchen würden, was auch der Fall war. Um dem zu entgehen, sind wir gemeinsam durch die Straßen geirrt und haben dabei auch den Rauch gesehen, der aus den Fenstern der Ohel-Jakob-Synagoge qualmte. Wir haben die zerstörten Schaufenster der jüdischen Geschäfte gesehen. Wir haben Menschen gesehen, die Sachen herausgetragen haben. Wir haben gesehen, wie die SS einen älteren Herren auf die Straße zerrte, Justizrat Rothschild – für mich damals „Opa Rothschild“. Er hatte eine blutdurchtränkte Binde am Kopf, und man hat ihn mit Füßen in den Polizeiwagen hineingetreten.
Das sind die Momente, die mich aus dieser Zeit immer noch bewegen, wenn ich darüber spreche. Das sind meine Eindrücke aus dieser schlimmen Zeit.
Abschied von der Großmutter, Albertine Neuland
Nach dem 9. November war mein Vater zur Auswanderung bereit. Meinem Onkel in Amerika gelang es, zwei der erforderlichen Bürgschaften zu organisieren, aber meine Großmutter
"Ich werde Lotte Hummel“: Überleben im Versteck.
Sharon Adler: 1942 hat Ihr Vater Sie in ein Dorf in Franken zum (katholischen) ehemaligen Dienstmädchen
Charlotte Knobloch: Mein Vater hat natürlich nach einer Möglichkeit gesucht, mich wegzubringen, wenigstens für einige Zeit. Er hat sich an die Hausangestellte meines Onkels erinnert, die nach dessen Emigration nach Amerika zu ihrer Familie in ihr Heimatdorf zurückgegangen war. Die hat er gesucht und gefunden. Als er sie gefragt hat, ob sie mich für einige Zeit aufnehmen könnte, hat er den wahren Grund nicht genannt. Auf unserer Fahrt dorthin mussten wir unsere Kennzeichen, den gelben Stern, abnehmen, weil Juden ja keine Verkehrsmittel mehr nutzen durften. Der Zug wurde G'tt sei Dank nicht kontrolliert.
Als wir endlich dort ankamen, mussten wir noch zweieinhalb Stunden laufen, bis wir in das Dorf kamen. Mein Vater hat dann den zwei Schwestern und ihrem Vater – die zwei Brüder waren bei der Wehrmacht – die Wahrheit gesagt. Nachdem sie sich beraten hatten, war die Antwort: Sie nehmen mich, aber sie können nicht sagen, wie lange. Wenigstens meine Anwesenheit ließ sich unerwartet leicht erklären, als dann die Dorfbewohner angefangen haben, über diese sehr fromme Frau und ihr „außereheliches Kind“ zu reden. Sie war nicht glücklich über diese Schmach. Außer ihr kannte nur der Pfarrer meine Identität, aber er hat uns nicht verraten. Offiziell war ich Lotte Hummel. Natürlich war das nicht einfach für mich, ich war ein Stadtkind, musste mich an eisige Zimmer und harte körperliche Arbeit auf dem Bauernhof gewöhnen. Und ich hatte Angst, Heimweh, und fühlte mich sehr einsam. Die Tiere haben mir das Leben erleichtert; zu ihnen habe ich mich zurückgezogen.
Das Leben nach 1945 in München
Sharon Adler: Welche Erinnerungen haben Sie an das Leben nach dem Überleben?
Charlotte Knobloch: Ich wollte eigentlich meinem Onkel nach Amerika folgen und nicht zurück nach München. Ich wollte nicht denen begegnen, die uns beleidigt, bespuckt und in jeder Form gezeigt haben, wie sehr sie uns hassten. Aber als Mädchen von nur zwölf Jahren hatte ich keine Wahl – und bin ihnen allen begegnet, auch der Hausmeisterin, die mich als Kind abgewiesen hat. Das Benehmen war jetzt natürlich überfreundlich, alle behaupteten, damals den Juden geholfen zu haben. Die Entnazifizierung ist insofern als Druck bei den Leuten angekommen. Von meinem Vater haben sie immer wieder Hilfe bei irgendwelchen Schreiben verlangt, die bestätigen sollten, dass sie sich nicht schuldig gemacht haben. Die haben sie aber nur selten bekommen.
Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
1948 habe ich meinen Mann
Die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern nach 1945
Sharon Adler: Welche Erinnerungen haben Sie an die Israelitische Kultusgemeinde in München in den 1950er-Jahren?
Ein Detail an der Tür der Münchner Hauptsynagoge Ohel Jakob (Zelt Jakobs), die am 9. November 2006 eröffnet wurde. Der Buchstabe He (הא) ist der fünfte Buchstabe im hebräischen Alphabet. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Ein Detail an der Tür der Münchner Hauptsynagoge Ohel Jakob (Zelt Jakobs), die am 9. November 2006 eröffnet wurde. Der Buchstabe He (הא) ist der fünfte Buchstabe im hebräischen Alphabet. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Charlotte Knobloch: Die Israelitische Kultusgemeinde in München
Sharon Adler: Sie sind Mitbegründerin der deutschen Sektion der Women’s International Zionist Organisation (WIZO) und waren Schatzmeisterin des Jüdischen Frauenbundes in Deutschland. Was lag Ihnen hier besonders am Herzen?
Charlotte Knobloch: Ich hatte mit Rosel Lessner eine politische Förderin, die sehr aktiv war. Sie hat auch den Frauenverein „Ruth“ gegründet und mich dazu gebracht, in den Vorstand zu gehen. Als dann der jüdische Frauenbund
Sharon Adler: Von 1911 bis 1939 hatte sich Ihre Großmutter, Albertine Neuland, im Vorstand des Israelitischen Frauenvereins Bayreuth und in der Jüdischen Gemeinde Bayreuth engagiert. Ist Ihr eigenes Engagement auch eine Würdigung an Ihre Großmutter in ihrem Angedenken? Wie möchten Sie sie erinnert wissen?
Charlotte Knobloch: In jüdischen Kreisen, in jüdischen Verbänden, in jüdischen Gesellschaften stand immer die Nächstenliebe im Vordergrund. Es hat immer arme oder kranke Leute gegeben, es hat immer Leute gegeben, denen man wieder auf die Beine helfen musste. Und es gibt auch die letzte gute und ehrliche Tat gegenüber denjenigen, die von uns gegangen sind, das ist die Betreuung Verstorbener auf ihrem letzten Weg in der „Chewra Kadischa“.
Als sie noch in ihrer Wohnung in Bayreuth lebte, war es für mich immer eine Riesenfreude, sie zu besuchen. Es war alles noch religiöser, als ich es von Zuhause gewöhnt war. Die Bindung an die Religion, die Bindung an das Judentum, die über die Religion hergestellt wurde, war bei ihr zuhause sehr intensiv.
Als erste Frau im Amt der Vorsitzenden und Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern
Sharon Adler: Sie haben sich seit den 1970er-Jahren ehrenamtlich im Sozialbereich der Münchner Kultusgemeinde engagiert, die Ihr Vater nach dem Krieg wieder mitaufgebaut hatte. Daraus erwuchsen zahlreiche Ämter wie das der ersten weiblichen Vorsitzenden der IKG München im Jahr 1982 und seit 1985 als Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Wie kam es dazu?
Charlotte Knobloch: Als man mich gebeten hat, für den Vorstand zu kandidieren, habe ich das getan und bin dann auch gewählt worden. Vorsitzende wollte ich jedoch nicht sein und habe dafür nie kandidiert. Die Gemeinden waren ja sehr orthodox, und die Frauen standen da nicht überall an erster Stelle. Ich bin dann aber gefragt worden, ob ich den Vorsitz übernehmen würde und war wirklich überrascht, dass mich, wie man bei uns in Bayern so schön sagt, die gestandenen Männer gefragt haben. „Da müsst ihr die Rabbiner fragen“ war meine spontane Antwort in der Hoffnung, dass sie aufgrund der Religion Nein sagen würden. Ein bisschen habe ich gedacht, die retten mich davor. Die Rabbiner hatten aber zu meiner großen Überraschung nichts dagegen. Das war 1985, und damals war alles noch nicht so leicht, wie man sich das vorgestellt hat, aber ich habe es am Ende doch irgendwie geschafft.
Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern am 13. November 2021 anlässlich der Verleihung des „Preises für Verständigung und Toleranz“ im Jüdischen Museum Berlin. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern am 13. November 2021 anlässlich der Verleihung des „Preises für Verständigung und Toleranz“ im Jüdischen Museum Berlin. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Sharon Adler: Wie haben Sie die Öffnung der innerdeutschen Grenze, die deutsche Wiedervereinigung erlebt?
Charlotte Knobloch: Ich muss sagen, dass wir erst nicht ganz überzeugt waren, ob sich so ein großes Deutschland nicht wieder in eine Richtung bewegen würde, die für uns nicht so gut wäre. Ich habe auch die Zurückhaltung in Israel gesehen, die waren dort nicht begeistert. Aber es hat sich so ergeben, und es hat sich nicht zu unserem Schaden ergeben, das haben wir auch gemerkt. Die Regierungen haben sich zu damaligen Zeiten und auch später für Israel eingesetzt. Insgesamt hat die Wiedervereinigung dem jüdischen Leben natürlich sehr genutzt, weil viele Gemeinden durch die Öffnung und die Einwanderung stark anwachsen konnten.
Sharon Adler: Am 7. Juni 2006 wurden Sie einstimmig zur Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland gewählt. Direkt nach Ihrer Wahl kündigten Sie an: „Schwerpunkt meiner künftigen Arbeit werden die Förderung der Integration der Zuwanderer aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und der Kampf gegen wachsenden Antisemitismus, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit sein.“ Wie konnten diese Ziele umgesetzt werden? Was waren die größten Herausforderungen?
Charlotte Knobloch: Das war am Anfang natürlich sehr schwierig, denn es gab keine Wohnungen, die Menschen sind in irgendwelchen Kasernen untergekommen. Die Kinder haben die Eltern beschimpft, dass sie sie aus ihrem Umfeld herausgerissen haben. Sie hatten keine Freunde, sie haben die Sprache nicht verstanden. Und wir hatten keine Infrastruktur, keine Kindergärten und Schulen, die Synagogen waren für eine Zuwanderung nicht ausgestattet, wir brauchten Leute, die dolmetschten. Das waren sehr wichtige Aufgaben. Es war schon herausfordernd, was die Kultusgemeinde da geleistet hat, aber wir haben es geschafft. Trotzdem waren diese Themen natürlich auch während meiner Zeit als Präsidentin des Zentralrats noch nicht abgeschlossen. Das war eine Zeit, als die größte Einwanderung vorbei war und man anfangen konnte, zu konsolidieren. Ich glaube, wir stehen heute recht gut da, und zwar auch dank der Arbeit von damals.
20. Verleihung "Preis für Verständigung und Toleranz“ im Jüdischen Museum Berlin, 13.11.2021 V.l.n.r. Schauspielerin Iris Berben; Architekt und Preisträger Daniel Libeskind; Direktorin des Jüdischen Museums Berlin Hetty Berg; Charlotte Knobloch, Preisträgerin und Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern; Präsident des Bundesverfassungsgerichts Stephan Harbarth (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
20. Verleihung "Preis für Verständigung und Toleranz“ im Jüdischen Museum Berlin, 13.11.2021 V.l.n.r. Schauspielerin Iris Berben; Architekt und Preisträger Daniel Libeskind; Direktorin des Jüdischen Museums Berlin Hetty Berg; Charlotte Knobloch, Preisträgerin und Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern; Präsident des Bundesverfassungsgerichts Stephan Harbarth (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Wir alle – auf allen Ebenen – hätten das aber nie geschafft, wenn wir nicht die Unterstützung durch die öffentliche Hand gehabt hätten, um die Menschen aufnehmen und zumindest grundlegend versorgen zu können. Manche kamen ja damals mit Sack und Pack, sogar mit ihren Haustieren, die dann nicht mit in die Heime durften. Ich bin ein großer Tierfreund und habe die ganzen Tiere dann für den Moment an gute Menschen verteilt. Die, die sie mitgebracht hatten, waren todunglücklich, aber sie konnten die Tiere besuchen. Das sind Kleinigkeiten, aber ich wollte unbedingt, dass die Menschen sich in irgendeiner Form wohlfühlen. Sie sind ja doch alle mehr oder weniger gekommen, ohne zu wissen, wie ihre Zukunft in Deutschland sein wird. Das war ein gewaltiger Schritt für sie.
Sharon Adler: Während Ihrer Zeit als Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern haben Sie den Bau des neuen Jüdischen Gemeindezentrums und der Synagoge am Münchner St. Jakobs-Platz verantwortet.
Die Tür der Ohel-Jakob-Synagoge (Zelt Jakobs), die am 9. November 2006 eröffnet wurde. Die Grundsteinlegung war am 9. November 2003. Die Synagoge am Münchner St. Jakobs-Platz befindet sich an der Stelle, wo von 1887 bis 1938 die drittgrößte Synagoge Deutschlands stand. Charlotte Knobloch hat den Bau des neuen Jüdischen Gemeindezentrums und der Synagoge maßgeblich verantwortet. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Die Tür der Ohel-Jakob-Synagoge (Zelt Jakobs), die am 9. November 2006 eröffnet wurde. Die Grundsteinlegung war am 9. November 2003. Die Synagoge am Münchner St. Jakobs-Platz befindet sich an der Stelle, wo von 1887 bis 1938 die drittgrößte Synagoge Deutschlands stand. Charlotte Knobloch hat den Bau des neuen Jüdischen Gemeindezentrums und der Synagoge maßgeblich verantwortet. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Charlotte Knobloch: Das sehe ich momentan wieder mehr und mehr skeptisch. Es beginnt schon damit, dass unsere Standpunkte trotz eines gewissen Interesses in den Medien oft nicht vorkommen. Hier nehme ich alle gleichermaßen in die Pflicht, private Sender, öffentliche, die Zeitungen. Wir versuchen häufig Wege zu gehen, die uns dann nicht offen sind. Das sind Themen, die jüdische Menschen in der derzeitigen Situation umtreiben. Es ist eine Unruhe im deutschen Judentum entstanden. Und das betrifft Familien, die nicht wissen, ob sie eine Zukunft in Deutschland haben, oder junge Menschen, die aus Israel hierher kommen und hier mit Antisemitismus konfrontiert werden. Ich hoffe, das alles wird nicht dazu führen, dass sie in Zukunft um Deutschland einen Bogen machen. Ich hoffe, dass diese Menschen sich mit Deutschland in irgendeiner Form verbinden können. Aber das deutsche Judentum hat eine Zukunft, es gibt neue Synagogen, Schulen, Rabbinerseminare. Die Probleme verschwinden nicht, aber es gibt eine starke jüdische Gemeinschaft mit guten Strukturen, die sie angehen kann.
Antisemitismus heute
Sharon Adler: In Ihrer Rede anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktages am 27. Januar 2021 im Bundestag sagten Sie: „Der Kampf gegen Antisemitismus ist eine Sisyphos-Aufgabe. Aber wer sich nicht an Maschinengewehre vor jüdischen Einrichtungen gewöhnen möchte, muss diese bewältigen.“ Wie kann diese Aufgabe bewältigt werden, welche Werkzeuge sind dafür nötig?
Charlotte Knobloch: Wir können uns leider wie gesagt nicht auf die Medien verlassen. Sie meinen es oft gut, denken aber leider sehr kurzfristig, und in ihrer Agenda sind diese Themen am Tag darauf vergessen, erledigt. Im Bildungsbereich wurde schon einiges getan, aber bei weitem nicht genug. Ich habe den Politikern immer vorgeworfen, dass man in unserem Land immer sehr lange wartet und nur darüber nachdenkt, was man gegen solchen Hass tun kann. Ein einmaliger Hinweis, dass dies und jenes passiert ist, reicht nicht. Und die Politik in Bund und Ländern müsste parteiübergreifend zu diesen Themen sprechen. Sie müsste die Leute ansprechen und auffordern, und sie müsste Worte finden, die die Menschen zum Nachdenken zwingen. Denn es denkt ja niemand darüber nach, dass hier eine Gruppe von Menschen im Internet laufend bedroht und beleidigt wird. Es denkt niemand darüber nach, dass der Staat Israel ständig an den Pranger gestellt wird. Ich hoffe, dass mit dieser Hetze endlich mal Schluss ist. Dagegen muss die Politik versuchen vorzugehen. Es kann zum Beispiel nicht sein, dass ein Land zusieht, wie ein befreundetes Land dauernd in den Schmutz gezogen wird, zumal mit den Folgen, die wir auch hier spüren. Das kann man alles nicht mehr mit dem beschönigenden Fremdwort Antisemitismus bezeichnen, das ist reiner Judenhass. Aber, und das muss ich wieder auf meine bayerische Art sagen, es wird zu wenig auf den Tisch gehauen. Manchmal braucht es das, damit alle die Dinge klarer sehen. Das sind Themen, die ich immer wieder anspreche, das sind unsere Herausforderungen seit 1700 Jahren. Aber all das sollte auch nicht allein unsere Aufgabe sein, sondern vor allem die Aufgabe der Anderen.
Gedenken. Gegen das Vergessen
Sharon Adler: Wir erleben eine Zeit, in der ein erschreckend hoher Anteil junger Leute nicht weiß, wofür Auschwitz steht. Wie können Ihrer Meinung nach die Erinnerungen an die Verbrechen der Nationalsozialisten wachgehalten werden, wenn die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nicht mehr in der Lage oder am Leben sind?
Charlotte Knobloch: Der Stab der Erinnerung muss an die jungen Menschen, an die nächste Generation weitergegeben werden. Es müssen Wege gefunden werden, damit sie Verantwortung übernehmen. Man muss ihnen auch begreiflich machen, was die Machthaber in diesen zwölf Jahren angerichtet haben. Man muss den jungen Menschen nahebringen, dass Millionen Menschen zu Tode gekommen sind, dass Menschen einfach umgebracht wurden, weil sie eine Religion hatten, die den Nationalsozialisten nicht gepasst hat. Und sie müssen wissen, dass das ihre Vorfahren waren. Sie selbst haben heutzutage natürlich keine Schuld, aber ihre Vorfahren haben das geschehen lassen, obwohl sie genau wussten, was kommen würde „Mein Kampf“ sagte alles aus.
Hitler hat nichts in irgendeiner Form versteckt. Die jungen Leute müssen lernen, dass das, was Menschen anderen Menschen angetan haben, real war. Und man muss sie darauf aufmerksam machen, dass sie auch eine Verantwortung dafür tragen, dass dieses Land, die heutige Bundesrepublik, nicht in zehn Jahren wieder in eine Richtung fällt, die dem sehr ähnelt. Es wird Zeit, diese Diskussionen zu führen und über die Fragen zu sprechen, die noch im Raum stehen. Ich erlebe das ja, wenn ich mit jungen Menschen diskutiere oder aus meinem Leben erzähle. Ich sehe, dass sie heute interessierter sind, weil sie gut vorbereitet sind. Aber das ist natürlich nur punktuell gesehen, nicht die allgemeine Situation, leider. Wir müssen die politische Bildung bei uns stärken, auch früher im Bildungsleben, am besten schon im Kindergarten. Dann können auch keine Querdenker mehr entstehen, weil diese Leute in Wahrheit ja überhaupt keine politischen Grundlagen haben.
Der Bundestag gedenkt der Opfer des Nationalsozialismus in seiner jährlichen Gedenkstunde im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes.; Dr. h.c. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, hält die Gedenkrede, 27. Januar 2021. (© Deutscher Bundestag, Marco Urban)
Der Bundestag gedenkt der Opfer des Nationalsozialismus in seiner jährlichen Gedenkstunde im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes.; Dr. h.c. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, hält die Gedenkrede, 27. Januar 2021. (© Deutscher Bundestag, Marco Urban)
Es gäbe noch sehr viel zu tun, gerade jetzt in dieser Wechselzeit von den Zeitzeugen hin zu denen, die den Stab der Verantwortung übergeben bekommen haben. Deshalb brauchen wir auch Persönlichkeiten in der Politik, die sich das zu Herzen nehmen. Heute mehr denn je.
Hier geht es zur
Zitierweise: "Charlotte Knobloch: Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern", Interview mit Charlotte Knobloch, in: Deutschland Archiv, 29.10.2021, Link: www.bpb.de/342809