Zuführungen am 7. und 8. Oktober 1989
(In der DDR war die „Zuführung“ eine Vorstufe einer Festnahme oder Verhaftung. Für die Zuführung war keine Begründung oder Rechtsgrundlage notwendig. Allerdings mussten Zugeführte nach spätestens 24 Stunden wieder auf freien Fuß gesetzt werden, wenn bis dahin kein Haftbefehl ausgestellt worden war – d. Red.) Als es in den Abendstunden des 7. Oktober verstärkt zu Zuführungen kommt, ist die Kapazität des Zentralen Zuführungspunktes Rummelsburg (Haftanstalt – d.Red.) rasch erschöpft. … Erst nach Stunden, als Rummelsburg längst überbelegt ist, werden weitere Zuführungspunkte für die zumeist wahllos ergriffenen und ziellos durch die Gegend gefahrenen Menschen eingerichtet. Während und nach der Zuführung kommt es in nahezu all diesen Punkten zu schrecklichen Misshandlungen, zu seelischen und körperlichen Quälereien. …
Eine als Zeugin vernommene Wachtmeisterin aus dem Frauengefängnis Grünauer Straße … (nannte) Redeverbot und Schlafentzug sowie das An-die-Wand-Stellen … „Sondererziehungsmaßnahmen“. Als sie und ihre Kollegin zur Bewachung der Zugeführten befohlen wurden, habe ihr Vorgesetzter, Hauptinspektor Krause, von „festgenommenen Personen“ gesprochen. Vor Gericht gesteht dieser Vorgesetzte, man habe ihm und seinen Leuten „die Benutzung des Schlagstocks in eigenes Ermessen gestellt“.
Oberwachtmeister W., der vorsätzlichen Körperverletzung angeklagt und für schuldig befunden, berichtet: „Meine Vorgesetzten Major Jahn und Hauptmann Geron hatten uns angekündigt, es werden Staatsfeinde eingeliefert, die wie Staatsfeinde zu behandeln sind.“ …
Viele der Frauen und Männer, die am 7. und 8. Oktober in den Zuführungspunkten eingeliefert werden, müssen sich restlos entkleiden. Bei Vernehmungen wird Druck ausgeübt, einige Bürger werden während ihrer Vernehmung geschlagen. Dramatisch gestaltet sich die Lage der ergriffenen Bürger im Zentralen Zuführungspunkt Rummelsburg. Ein Teil von ihnen wird in überfüllte Zellen gepfercht (46 Personen auf 16 Quadratmeter Bodenfläche!). Später Eintreffende werden im Freien von scharfen Hunden flankiert und in offenen Garagen mit dem Gesicht zur Wand aufgestellt. Schläge und verbale Demütigungen werden reichlich verteilt. … Mitarbeiter des MfS kontrollieren die Befragungen der Zugeführten durch Angehörige der Kriminalpolizei. Entsprechend einer von der Hauptabteilung Untersuchung des MfS in Zusammenarbeit mit der Generalstaatsanwaltschaft erarbeiteten Orientierung sind der Öffentlichkeit um jeden Preis „Gewalttäter, Rowdys und Rädelsführer“ zu präsentieren. Das eigene, brutale Vorgehen soll gerechtfertigt erscheinen, die oppositionellen Kräfte kriminalisiert und diffamiert werden.
Alle ermittelten Personendaten werden in die MfS-Zentrale Normannenstraße zur gründlichen Überprüfung gegeben. … Kein Zugeführter soll ohne Einwilligung des MfS freikommen. … Dieses Verfahren kostet mehr Zeit, als gesetzlich erlaubt, denn spätestens nach 24 Stunden ist ein Zugeführter zu entlassen. …
In einigen Fällen werden die Unterschriften der zugeführten Bürger von den Vernehmern erpresst. Bei jeder Unterschrift kommt es zur Ausstellung eines Strafbefehls bzw. zu einem Schnellverfahren, da in der Zwischenzeit auch die Richter eingetroffen sind.
In den späten Nachmittagsstunden (des 8. Oktober) weist die Hauptabteilung Untersuchung des MfS die Berliner Kriminalpolizei an, einen Teil der zugeführten Bürger weiter in Gewahrsam zu halten, da sie eine Teilnahme an neuen Demonstrationen befürchtet. … Auch nach damaligem Recht ein klarer Bruch der Verfassung. …
Gegen 19 Uhr (am 8. Oktober) treffen im Reserveobjekt Blankenburg-Pflasterweg (leer stehende Kaserne der Bereitschaftspolizei – d. Red.) die ersten Transporte mit den bereits seit 24 Stunden und länger in widerrechtlichem Gewahrsam gehaltenen Bürgern ein. Nach Angaben des Präsidiums der Volkspolizei treffen bis 23 Uhr 53 Männer und 23 Frauen ein. Die eingelieferten Bürger, von ihren Bewachern unterwegs mit sadistischen Bemerkungen zu Tode geängstigt („Jetzt fahren wir euch auf die Müllkippe!“), werden im Laufschritt ins Objekt getrieben. Alle erdenklichen Schikanen kommen zur Anwendung. Kniebeugen, Häschen-hüpf-Gang über die Flure und Treppen, Schlafentzug, völliges Entkleiden der Männer auf dem Gang in Anwesenheit von Frauen, Stehen in Fliegerstellung, Lärm und Schläge machen die Stunden zur Qual. Gegen 2.00 Uhr (am 9. Oktober) weist die Führungsgruppe im VP-Präsidium die Entlassung aller Zugeführten an. Dennoch werden einige Bürgerinnen und Bürger, die nach Meinung ihrer Bewacher besonders „auffällig“ sind, erst noch zu schikanösen Putz- und Reinigungsarbeiten gezwungen.
Lastkraftwagen bringen einige der nächtlich Entlassenen zu den S-Bahnhöfen Blankenburg und Wartenberg, andere werden auf freier Straße abgesetzt. Gegen 5.30 Uhr erfolgt die Auflösung des Reserveobjekts. 17 Personen verbleiben in Untersuchungshaft. Gegen sie werden Ermittlungsverfahren eingeleitet. Erst am 13. Oktober 1989 erfolgt – unter dem immer größer werdenden Druck einer empörten Öffentlichkeit – ihre Entlassung.
Quelle: Andreas Förster, "