8. Oktober 1989
Die Erfahrungen der letzten 24 Stunden, insbesondere die Konfrontation mit der Gewaltlosigkeit der Demonstranten und ihrem alles andere als kriminellen Verhalten … macht (die Sicherheitskräfte) nervös und unsicher. Die Verantwortlichen planen, an diesem Tag nichts mehr dem Zufall zu überlassen. MfS-Minister Mielke konferiert u.a. mit Krenz, Schabowski und Schwanitz. Bereits am Vormittag, zum Zeitpunkt des sonntäglichen 10-Uhr-Gottesdienstes, umstellen etwa 50 Schutzpolizisten in Doppelposten das Gelände der Gethsemanekirche und behindern vereinzelt Bürger und Gemeindemitglieder, die Zutritt suchen. Mindestens zwanzig Zivilkräfte des MfS halten sich in der Nähe des Haupteingangs auf. Am Alexanderplatz (werden) im Laufe des Tages ungefähr 50 Personen ergriffen und zugeführt. Wieder holen MfS-Kräfte im Zusammenspiel mit der Volkspolizei Bürger aus der Menge, die ihnen durch Kleidung, Accessoires und Körperhaltung verdächtig erscheinen. …
An der Gethsemanekirche spitzt sich aus Sicht der Polizei- und Sicherheitskräfte die Situation gegen 18 Uhr zu, als etwa 2000 Personen die Fürbitt-Andacht besuchen. Noch während der Andacht beginnen Volkspolizisten und Kräfte des MfS mit der Sperrung der Straßeneinmündungen der Stargarder Straße in den Bereichen Schönhauser Allee und Pappelallee. … Um 20 Uhr stellen Demonstranten … an der Kreuzung Stargarder Straße/Pappelallee eine Kette brennender Kerzen auf. …
Gegen Ende des Fürbitt-Gottesdienstes wird die Kirche von Sicherheitskräften umstellt. Als sich unter den Heraustretenden die Nachricht verbreitet, dass Besucher der Andacht nach Verlassen des Kirchgeländes polizeilich zugeführt worden sind, bleiben zwei- bis dreitausend Menschen auf dem umzäunten Kirchgelände. … Immer wieder rufen sie „Keine Gewalt, keine Gewalt“. … Die zahllosen Versuche etlicher Bürger, (an den Absperrungen) mit den Polizisten ins Gespräch zu kommen, scheitern an einem wie anbefohlenen Schweigen. Immer mehr Kerzen werden auf die Straße gestellt. … Gegen 22 Uhr wächst die Spannung. Die … angeforderten (Polizei-)Reserven treffen ein. Über Megaphon ergeht die Aufforderung zum Räumen der Straße. … Diese Auflösung (wird) durch die Führungsgruppe im Haus des Lehrers gesteuert. … An allen Absperrungen finden sich jeweils etwa 50 Zivilkräfte aus den Anti-Terror-Einheiten des MfS ein. Im Rücken der Demonstranten und Passanten werden Busse und Lkw aufgefahren. Die herangeführten Reservekräfte versperren auf der Höhe Lychener/Stargarder Straße die Rückzugsmöglichkeit. …
Gegen 23.30 Uhr … fordern Offiziere die Demonstranten… zum Verlassen der Kreuzung (Pappelallee/Stargarder Straße) auf. … Unmittelbar nach der Durchsage stürzen sich Volkspolizisten und MfS-Kräfte auf alle im Umfeld erreichbaren Personen. … Etliche der vermeintlichen Demonstranten erweisen sich als MfS-Angehörige und greifen sich nun gezielt Personen. … Wie am Vortag wird der Schlagstock unmotiviert und nahezu hemmungslos gebraucht. Auch Schlagringe und Reizgas kommen zum Einsatz. Manche der Zugeführten werden verprügelt, ehe sie in den bereitstehenden Bus gestoßen werden. Die größte Brutalität geht von den Anti-Terror-Einheiten des MfS aus. Bis spät in die Nacht durchkämmen Sicherheitskräfte die Straßen des Prenzlauer Bergs zwischen Schönhauser und Prenzlauer Allee. … Gegen 2.00 Uhr nachts erhalten die Reserve-Kräfte den Befehl zum Rückzug. Wie am Vortag solidarisierten sich viele Anwohner mit den Demonstranten. Aus den Fenstern gellen Pfiffe und Pfui-Rufe. Zuweilen fliegen Flaschen und auch Blumentöpfe. In vielen Fenstern und auf Balkonen stehen brennende Kerzen.
Resümee
Für den 8. Oktober lässt sich die Zahl der tatsächlich zum Einsatz gekommenen Sicherheitskräfte … an den Ereignisorten auf etwa 1.500 bis 2.000 Mann schätzen. Zugeführt wurden an diesem Tag 524 Bürgerinnen und Bürger.
Quelle: Andreas Förster, "