7. Oktober 1989
Bereits in den Vormittagsstunden kommt es erstmals zu Zuführungen. … Im Umfeld der Protokollstrecken findet eine Tiefensicherung durch das MfS statt. Augenfällig betroffen sind Nebenstraßen der Schönhauser, der Prenzlauer und der Klement-Gottwald-Allee. Gegen 16 Uhr kommt es zu einer größeren Ansammlung von zumeist jugendlichen Bürgern an der Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz. … Die Gruppe wächst … auf etwa zweihundert Personen an. Ein massives Polizeiaufgebot hält sich am Berolinahaus im Hintergrund. …
Am Rande des Geschehens kommt es zu Zuführungen einzelner Personen, über Funk befohlen und von der (unter Leitung des MfS stehenden – d.Red.) zentralen Führungsgruppe im Haus des Lehrers aus geleitet. … Gegen 17.20 Uhr verstärken sich die Sprechchöre. Etwa 300 Personen setzen sich wie auf Kommando in Richtung Palast der Republik in Bewegung. Passanten schließen sich spontan an. … Der sich formierende Zug wirkt unorganisiert. …
(Staatssicherheitsminister Erich) Mielke selbst übernimmt (aus dem Palast der Republik heraus – d.Red.) die Führung. Seine Weisungen gehen telefonisch an (seinen Stellvertreter) Generaloberst Schwanitz im Haus des Lehrers und via (VP-Stabschef) Oberst Dietze an die Führungsstäbe der Volkspolizei. Oberst Dietze ist der einzige Offizier der VP, der Zutritt zum Sperrbereich des MfS in der 7. Etage des Hauses hat. … Die zur Sicherung des Palastes der Republik eingesetzten Volks- und Bereitschaftspolizisten stoppen mit Unterstützung von FDJ-Ordnungsgruppen des MfS und weiteren MfS-Kräften den Demonstrationszug. Aus der Menge ruft es „“Keine Gewalt“, „Wir sind das Volk“, „Gorbi, hilf“. … Zivilkräften des MfS gelingt es, einzelne Personen aus dem Demonstrationszug zu isolieren und hinter die Sperrkette zu bringen. Dort werden sie, ohne erkennbaren Widerstand zu zeigen, zusammengeschlagen und zugeführt.
Die inzwischen auf etwa dreitausend Menschen angewachsene Menge verteilt sich auf dem Areal des Spreeufers. Rufe nach Gorbatschow und Vertretern der Regierung werden laut. Mielke verlässt die Festveranstaltung im Palast der Republik, offensichtlich um sich an der Schlossbrücke selbst einen Eindruck zu verschaffen. Er erteilt Anweisungen und Befehle zur Auflösung der Demonstration. … Auch (Berlins SED-Chef Günter) Schabowski und (SED-Politbüromitglied Egon) Krenz verlassen die Festveranstaltung und beobachten vom Foyer aus die Menschenmenge. Gegen 18.30 … gelingt (es), die Demonstranten vom Stadtzentrum weg in Richtung Prenzlauer Berg zu bewegen. … Im Bereich Moll-, Keibel-, Watzeckstraße kommt es zum Einsatz von Anti-Terror-Einheiten des MfS. … Mit unglaublicher Härte werden einzelne Demonstranten wie wahllos aus der Menge herausgegriffen und von bis zu acht zivilen MfS-Angehörigen zusammengeschlagen und brutal abgeführt. Volkspolizisten und MfS-Kräfte prügeln viele der Festgenommenen auf die Transportfahrzeuge, obwohl keine Gegenwehr erfolgt. Bevorzugt richtet sich die Brutalität gegen Frauen, um männliche Demonstranten zum gewaltsamen Handeln gegen die Sicherheitskräfte zu provozieren. …
Unter den Demonstranten befinden sich zahlreiche Lockspitzel des MfS, die Angehörige der Volkspolizei provozieren und aggressiv auftreten. Werden sie von der VP ergriffen, weisen sie sich durch Klappkarten aus und passieren die Sperrketten. Der Einsatz solcher agents provocateure und ein entsprechender Aufbau der Sperrketten sorgen dafür, dass ein Großteil der Demonstranten in Richtung Gethsemanekirche gelenkt wird. Auf dem Kirchgelände befinden sich seit der 18-Uhr-Fürbitt-Andacht etwa zwei- bis dreitausend Menschen. …
Gegen 20.30 Uhr riegeln Volkspolizisten, Bereitschaftspolizei und Mitarbeiter des MfS den Bereich um die Gethsemanekirche fast hermetisch ab. … Gegen 0.00 Uhr beginnt im Bereich der Gethsemanekirche die Auflösung der Demonstration. Schildbewehrte Räumfahrzeuge, Bereitschaftspolizei in der Schutzausrüstung, Hundestaffeln kesseln die Demonstranten ein (Dänenstraße) oder jagen sie durch die Nebenstraßen. Fast gleichzeitig lösen die Sicherheitskräfte die letzten Personengruppen auf. Es kommt zu einer hohen Zahl von brutalen Zuführungen. Der Schlagstockeinsatz ist die Regel. Auch hier über vor allem die Zivilkräfte des MfS rohe Gewalt aus. Einige Demonstranten flüchten in Häuser und Wohnungen. MfS und Volkspolizei dringen gewaltsam auch in die Wohnungen Unbeteiligter ein und verschleppen die Anwesenden. Zwei Stunden zuvor sind etwa einhundert Demonstranten in der Dunckerstraße eingekesselt und zugeführt worden. Dabei ist ein Wasserwerfer zum Einsatz gekommen, der seinen Strahl auch in die Fenster von Anwohnern richtete, die sich mit den Demonstranten solidarisierten.
Resümee
Nach den Recherchen und Schätzungen unserer Kommission dürften … 3.000 (Sicherheitskräfte) zum Einsatz bei der Auflösung von Demonstrationen gekommen sein. Die Zahl der aktiv an den Demonstrationszügen beteiligten Bürger belief sich auf etwa 5000. … Am 7. Oktober 1989 wurden 547 Bürgerinnen und Bürger zugeführt.
Quelle: Andreas Förster, "