Kindheit in der DDR, in Indien und Brasilien
Sharon Adler: Du wurdest 1954 in Ostberlin geboren. Wo und wie habt ihr damals gelebt, woran erinnerst du dich?
Anetta Kahane: Meine erste Erinnerung habe ich daran, wie ich in unserem alten Haus in der Tschaikowskystraße die Treppe hochkrabbelte. Da muss ich etwa zwei Jahre alt gewesen sein. Das war in einem abgeriegelten Areal in Pankow, das später das "Städtchen"
Sharon Adler: Durch den Beruf deines Vaters warst du mit deiner Familie auch außerhalb der DDR, in Indien und Brasilien. Welche Erinnerungen hast du an diese Zeit?
Anetta Kahane: Mein Vater war der erste DDR-Korrespondent in Indien, und als ich drei Jahre alt war, sind wir für drei Jahre nach Neu-Delhi gezogen. Im Kindergarten habe ich mich unter den vielen Kindern – Moslems, Sikhs, Hindus und einigen Europäern – sehr wohl gefühlt. Obwohl ich als rothaariges, blasses Mädchen unter den zumeist dunkelhäutigen Kindern sehr aufgefallen bin. Ich habe den Unterschied gar nicht wahrgenommen. So verschmolzen war ich mit ihnen.
Im Sommer kamen wir regelmäßig nach Berlin, was immer schwierig für mich war, denn ich konnte mich in der Stadt nur schlecht orientieren. Das war Ende der 1950er-Jahre, und Berlin, vor allem Ostberlin, war noch ein ziemlicher Trümmerhaufen. Alles war so anders als in Indien und sehr fremd für mich.
Bei einem Besuch einer Verwandten 1961 in London erfuhren meine Mutter und ich, dass die Mauer gebaut wird. Daran kann ich mich noch sehr gut erinnern, denn sie war sehr erschrocken und hat die Reise sofort abgebrochen. Das war ein einschneidendes Erlebnis und hatte auch familiäre Folgen.
"Erfahrungen mit dem Fremdsein und dem Deutschsein"
Sharon Adler: 1962/63 wurde dein Vater ND-Korrespondent für Lateinamerika in Rio de Janeiro. Wie hast du 1963 nach der Rückkehr aus Brasilien die erste Zeit in Deutschland erlebt?
Anetta Kahane: Anders als während der sechs Monate in Rio, wo viele jüdische Emigranten waren, habe ich mich als nicht zugehörig gefühlt.
Weil ich etwas kränklich und anämisch war, wurde ich zur Kur nach Thüringen "verschickt", so nannte man das damals. In zwei aufeinanderfolgenden Jahren, jeweils sechs Wochen lang. Dort hatte ich das erste Mal ein sehr, sehr großes Gefühl von Fremdheit und habe mich sehr unwohl gefühlt. In Erinnerung habe ich vor allem die Lieder, die dort ständig gesungen wurden, wie "Schwarz-braun ist die Haselnuss", und dieses Schunkeln dazu. Die Erzieherinnen haben mich sofort als etwas identifiziert, das nicht dazugehört. Das waren meine ersten ganz krassen Erfahrungen mit dem Fremdsein und dem Deutschsein.
Sharon Adler: Gab es ein Bewusstsein oder einen Austausch darüber, dass die meisten Eltern deiner nichtjüdischen Freund*innen zur Täter*innengeneration gehörten, während deine Eltern im Widerstand waren?
Anetta Kahane: Der Dialog zwischen den Kindern war kompliziert. Mein Vater war im Widerstand gewesen, während meine Klassenkameraden Väter hatten, die fast alle in der Wehrmacht gewesen waren. Ihnen fehlte ein Bein oder ein Arm, und wenn ich danach fragte, wurde nur gesagt "Mein Vater war im Krieg", was mich wunderte, denn mein Vater war es ja nicht. Es hieß nur lapidar: "Der war ja auch Jude", aber weiter wurde das nicht thematisiert. Wir Kinder haben in unterschiedlichen Realitäten gelebt. Und darüber gab es ein gemeinsames großes Schweigen. Die nichtjüdischen Menschen haben über die Wehrmacht geschwiegen, und die jüdischen Menschen haben über den Holocaust geschwiegen. Und die, die aus der Sowjetunion zurückkamen, haben über Stalin geschwiegen.
Es gab diese ganz große Kluft zwischen denen, die gegen die Nazis waren, und denen, die mitgemacht hatten. Das war deutlich spürbar.
Mir war klar, dass ich es mit einem Umfeld zu tun hatte, das konträre Ansichten und Erfahrungen hatte – heute würde man sagen, eine postnationalsozialistische Gesellschaft. 1973, während der Weltfestspiele,
Jüdischsein und Antisemitismus in der DDR
Sharon Adler: Wann und wie hast du direkte antisemitische Erfahrungen gemacht?
Anetta Kahane: Als ich aus Rio nach Ostberlin zurückkam, bekam ich auf der Oberschule mit, wie über Juden geredet wurde, und verstand, warum ich mich in Deutschland immer schon so fremd gefühlt hatte. Während meiner Abiturzeit hatte ich dann auch die ersten antisemitischen Erlebnisse, nicht nur von meinen deutschen Peers, sondern auch bei einer Freundin von mir, die Polin war. Deren Eltern – hochoffizielle Sozialisten – sahen sofort, dass ich Jüdin war, und wollten mich aus der Wohnung werfen. Juden würden sie in ihrem Haus nicht dulden. Meine Reflektion darüber, was das Jüdische ist und ausmacht und bis ich dechiffriert hatte, wie es in der DDR funktionierte, hat eine Weile gedauert. Meine Eltern waren säkular. Mein Vater hatte zwar ein inniges Verhältnis zum Chassidischen, war aber expliziter Atheist. Für mich begann das Jüdische eine größere Rolle zu spielen, als ich 16 Jahre alt war. Damals habe ich versucht, es mir zurückzuholen, soweit ich das konnte. Ich bin zum ersten Mal in die Synagoge gegangen, und ich begann, biblische Texte zu lesen, jiddische Musik zu hören und mir selbst etwas Hebräisch beizubringen.
Das Leben nach dem Überleben: Jüdische kommunistische Rückkehrer*innen aus den Lagern, dem Widerstand und dem Exil
Sharon Adler: Deine Eltern sind während der NS-Zeit geflüchtet und 1945 nach Ostberlin zurückgekehrt. Wie war die Stimmung der Rückkehrer*innen in der DDR in diesen Nachkriegsjahren?
Anetta Kahane: Meine Eltern waren Ende 1949 in Prag, als es dort mit der antisemitischen Kampagne losging, die in die Slánský-Prozesse
Sharon Adler: Wie war das Verhältnis zum Jüdischen im Kommunismus? Wie war die Situation in der Jüdischen Gemeinde Ostberlins?
Anetta Kahane: Das Leben in der DDR war für Juden ambivalent. Regelmäßig wurde öffentlich erklärt, Jüdisch sei nur eine Religion, und Religion sei reaktionär. Viele Gemeindemitglieder, religiöse und nichtreligiöse, verließen 1953 die DDR. Sie alle konnten die antisemitische Stimmung nicht ertragen.
Und das, obwohl die meisten unter einem großen Druck standen, weil sie gerade erst aus den Lagern gekommen waren und keine andere politische Heimat hatten. Meine Mutter hätte auch anderswo Künstlerin sein können, aber mein Vater hatte sich sehr auf die Partei eingelassen und hing an seiner Arbeit. Dass er woanders als in der DDR als Journalist arbeiten würde, kam für ihn nicht in Frage.
1967, nach dem Sechs-Tage-Krieg, erschien im Neuen Deutschland ein Aufruf von jüdischen Genossen,
1960/61 war er als Berichterstatter beim Eichmann-Prozess in Jerusalem. Das war für ihn sehr schwer. Zum einen, die Zeugen und die furchtbaren Dinge zu hören, und zum anderen, in Israel zu sein, wo wir Familie hatten, und dieses Land einfach wunderbar zu finden, aber das in der DDR nicht sagen zu dürfen. Er hat von Israel immer sehr geschwärmt. Er mochte das Land sehr. Ab und zu hat er mir zwar in den 1980er-Jahren in ideologischen Ansprachen erklärt, warum Israel ein koloniales Projekt ist, aber das war dann sehr aufgesagt. Seine ideologische Seite war immer auf Linie, aber seine lebendige Seite war es nicht. So wie es oft in Bezug auf das Judentum bei meinem Vater war.
Max Leon Kahane und Doris Kahane, geborene Doris Machol
Sharon Adler: Deine Eltern waren 1945/46 als Berichterstatter*innen bei den Nürnberger Prozessen, und 1961 war dein Vater
Anetta Kahane: Das hat mich natürlich sehr geprägt. Ich bin 1954 geboren, neun Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Seit ich sechs oder sieben Jahre alt war, habe ich verstanden, wofür Nürnberg steht, und wusste, wer Eichmann war. Ich bin damit aufgewachsen.
Damit habe ich mich übrigens von anderen jüdischen Kindern unterschieden, denn es gab viele Eltern, die das ihren Kindern verschwiegen haben. Oder es geradezu abgewehrt haben oder das Jüdische nur als eine Religion abgetan und ihre Kinder mit ihrem Gefühl der Fremdheit alleingelassen haben. Das war bei uns nicht so. Als Kind habe ich die leisen Gespräche der Erwachsenen darüber miterlebt, wer von den Verwandten oder Freunden in Auschwitz "umgekommen" ist und wer "nicht mehr zurückkommt". Mein Großvater mütterlicherseits, seine zweite Frau und die Kinder sind auch in Auschwitz "geblieben". Überall waren Tote. Das war die Normalität dieser Generation.
Für uns Kinder war es total erschreckend, in Familien groß zu werden, die das nicht nach draußen tragen konnten, die aber nach innen unglaublich traumatisiert waren. Heute würde man vom posttraumatischen Stress-Symptom oder vom Zweite-Generation-Syndrom sprechen. Im Westen war es auch schwer, darüber zu sprechen, aber in der DDR war es ein noch größeres Tabu.
Sharon Adler: Wurden die Hoffnungen deiner Eltern erfüllt, als Juden gleichberechtigt einen sozialistischen Staat aufzubauen? Konnten sie in der DDR alles erreichen, waren sie ihren nichtjüdischen Kolleg*innen gleichgestellt?
Anetta Kahane: Für meine Mutter galt das schon. Sie hat das gemacht, was sie machen wollte. Ich weiß nicht, ob sie anders gemalt hätte, wenn wir nicht im sozialistischen Realismus gewesen wären. Ich glaube schon, dass sie davon stilistisch geprägt war. Sie hat – wie viele andere Maler in der DDR auch – Auftragsarbeiten angefertigt, die sehr politisch waren. Ich weiß nicht, ob es ihr Spaß gemacht hat, einen Armee-General oder die Altersvorsitzenden der Volkskammer zu portraitieren, aber sie hat diese Jobs eben angenommen. In vielen Dingen hatte sie eine Schere im Kopf.
Mein Vater war in der Hinsicht ein bisschen schizophren, denn es gab eine große Kluft zwischen seiner persönlichen und seiner politischen Wahrnehmung. Diese Kluft hat er jedoch nie wahrgenommen. Er hat sich im Grunde eine sehr gute Lösung für das Dilemma überlegt, als Jude in der DDR zu leben, indem er entschieden hatte, als Auslandskorrespondent für die DDR zu schreiben. So konnte er jederzeit nach Westberlin fahren und überall in die Welt reisen. Von dort hat er geschrieben, wie schlimm der Kapitalismus und wie wunderbar die DDR ist. Allerdings muss ich sagen, dass sich mein Vater immer sehr gegrämt hat, dass er politisch – und auch, was seine Rolle im Journalismus betraf –, nie einen leitenden Posten bekommen hat. Den hätte er bekommen, wenn er nicht Jude gewesen wäre, denn den Juden haftete das Stigma des Kosmopolitischen an, oder es wurde behauptet, dass sie unzuverlässig wären. Ich erinnere mich, wie er uns bei der Gründung der Zeitung Horizont
Der Staat definierte sich zwar als antifaschistisch, bestand aber zu 90 Prozent aus NSDAP-Leuten, auch in der Partei. Es ist eine Legende, dass alle SED-Funktionäre Antifaschisten waren. Das waren sie nicht. Das war ein sehr deutscher Staat. Wenn im Westen kritisiert wurde, dass es faschistoid ist, wie sich Polizisten aufgeführt haben, so war das in der DDR viel schlimmer. In den 1950er-Jahren mussten Juden aus der Jüdischen Gemeinde austreten, wenn sie Kommunisten sein wollten. Mein Vater ist sofort nach der Wende wieder eingetreten. Ich bin vorher schon wieder eingetreten.
Persönliche Erfahrungen und Erinnerungen an die Zeit um 1989. Die Zeit der politischen "Wende". Der 9. November in Deutschland
Sharon Adler: Anlässlich des 30. Jahrestags des Mauerfalls schreibst du in einem Kommentar,
Anetta Kahane: Weil "Schicksal" immer etwas Fatalistisches hat, etwas, das einfach passiert. In der DDR kursierte die Formulierung, dass "die Nacht des Hitler-Faschismus über uns hereingebrochen" ist. Als würde "Schicksal" etwas mit Gewitter oder einer Naturkatastrophe zu tun haben. Aber der 9. November der sogenannten "Reichspogromnacht" war geplant. Dass unter andere Ereignisse zu subsumieren, die an diesem Datum stattgefunden haben, halte ich für eine verharmlosende Strategie, die ich nicht gutheißen kann und extrem falsch finde.
Sharon Adler: In deinem Buch "Ich sehe was, was du nicht siehst. Meine deutschen Geschichten" schreibst du über den Antisemitismus und Antizionismus in der DDR.
Anetta Kahane: Nein, das, was in der DDR nicht stattgefunden hat und auch nach der Wende nicht, waren aktive Auseinandersetzungen der Tätergeneration und deren Nachfahren mit dem Nationalsozialismus. Auch nach dem Ende der DDR gab es kein Gefühl dafür, dass man über diesen Teil der Geschichte reden müsste. Im Gegenteil. Gleich, als die ersten Probleme mit Nazis auftauchten, wurde abgewehrt. Eine beachtenswerte Leistung war jedoch, dass ein Teil der Bürgerrechtsbewegung an einem Runden Tisch eine Erklärung veröffentlicht hat, die von der Volkskammer beschlossen wurde. Darin hat sich die DDR für den Umgang mit Israel und für die Verbrechen der Nationalsozialisten entschuldigt. Die Opfer und deren Kinder wurden namentlich genannt. Gleichzeitig wurde mit dieser Erklärung die Aufnahme von Juden aus der Sowjetunion beschlossen.
Gemeinsame Erklärung der Volkskammer
Sharon Adler: "Wir bitten die Juden in aller Welt um Verzeihung. Wir bitten das Volk in Israel um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Lande." Was hat die Erklärung der Volkskammer bewirkt?
Anetta Kahane: Wir waren bis in die Knochen gerührt. Es war ein Moment, wo ich dachte, dass alles gut ist und wird. Das war ein ganz, ganz wichtiger Augenblick, aber es war leider nur ein Augenblick. Die Erklärung wurde fast einstimmig angenommen, aber was damit gemacht wurde beziehungsweise was nicht damit gemacht wurde, ist eigentlich viel interessanter. In den Enquete-Kommissionen zur DDR ist sie nicht aufgenommen worden. Und im Einigungsvertrag hat die Regierung Kohl die Aufnahme der Juden rausgestrichen. Ganz klar und ohne Zögern. Die Verhandlungsführer im Osten, was im Wesentlichen die Ost-CDU war, haben sich auch nicht gerade stark dafür gemacht. Was die Öffentlichkeit betrifft, so muss man heute mal fragen, ob sich irgendjemand an die Volkskammer-Erklärung erinnert. Kein Schwein kann sich daran erinnern. Die Bürgerrechtler, die die Erklärung geschrieben haben, haben in der Folge – auch bis heute – nicht darauf gepocht, dass dieser Geist erhalten bleibt. Das merkt man daran, dass es viel Verständnis für einige gibt, die heute zu dem rechten Rand der DDR-Aufarbeitung gehören.
Der Antrag "Aufruf zur Aufnahme sowjetischer Juden in der DDR"
Sharon Adler: In deiner Funktion als Ausländerbeauftragte des Magistrats von Ostberlin beziehungsweise als Mitglied der Arbeitsgruppe "Ausländerfragen" am "Zentralen Runden Tisch" hast du den Antrag "Aufruf zur Aufnahme sowjetischer Juden in der DDR" durchgesetzt.
Anetta Kahane: Das war auf verschiedenen Ebenen sehr emotional und wichtig für uns. Zum einen waren unter den sowjetischen Soldaten, die Ostdeutschland und Berlin befreit hatten, viele Juden. Der sogenannte Große Vaterländische Krieg hat viele Juden in der DDR dazu gebracht, für ewig und immer die Sowjets anzubeten. Die Sowjetunion hatte ja die größten Verluste, auch beim Kampf in Deutschland. Es war eine Möglichkeit, sich hier in diesem Sinne zu revanchieren, gleichzeitig hatten wir natürlich auch den kritischen Blick auf den sowjetischen Antisemitismus. Wir konnten insofern etwas Gutes tun, Juden aus der Sowjetunion herholen, die aus Familien kamen, die fast alle im Krieg aktiv gewesen waren, und wir konnten gleichzeitig dafür sorgen, dass sie Schutz fanden.
Eine Initiative ging vom Jüdischen Kulturverein aus, einem der wenigen Vereine, die es auch schon in der DDR gab. Am Runden Tisch "Ausländerfragen" haben wir eine Beschlussvorlage formuliert. Dann kamen immer mehr Juden aus der Sowjetunion und haben Asyl beantragt.
Das Leben hat sich total verändert. Es gab vorher 300 Mitglieder in der Jüdischen Gemeinde in der DDR, und mit jüdischem Background waren es insgesamt vielleicht 3.000. Und in der Gemeinde im Westen waren es vielleicht 1.500, höchstens 2.000.
Ich habe mich damals als Ausländerbeauftragte und später mit der RAA