Mein Großvater Peter ist einer von 36 Menschen, die es 1988 geschafft haben, über die Ostsee aus der DDR zu fliehen. 1988 konnte noch niemand absehen, dass in einem Jahr die Mauer fallen würde. Nach einem halben Jahr Vorbereitung floh mein Opa Peter Faust vom 11. bis zum 12. Oktober über die Ostsee in die Bundesrepublik und ging dabei ein hohes Risiko ein.
Aber aus welchem Grund haben so viele Menschen aus der DDR versucht zu fliehen? Die DDR war, wie wahrscheinlich alle heute wissen, eine Diktatur. Viele Menschen, die die regierende Partei SED in Frage stellten, bekamen Probleme. Manche mussten ihre Arbeit wechseln und alle wurden ausspioniert. Das Problem war, dass man damals nicht einfach aus der DDR auswandern konnte, weil der Staat die Grenzen kontrollierte. Wer versuchte, die Grenze ohne eine Ausreiseerlaubnis zu übertreten, konnte getötet werden oder kam ins Gefängnis.
Fünf Jahre zuvor hatte Peter bei einem Auftrag als Architekt etwas Falsches zu seinem Vorgesetzten gesagt. Er fand keine Arbeit mehr. Er musste erst als Kellner arbeiten und dann lebte er mit seiner Frau in Leipzig. Magret, die Frau meines Opas, war ein halbes Jahr vor seiner Flucht von einem Besuch ihrer Tante im Westen kurzfristig nicht mehr zurückgekommen. Eigentlich wollten meine Oma und mein Opa beide die Tante besuchen, aber sie durften nur einzeln in die Bundesrepublik. Als Magret schon auf der Rückreise war, beschloss sie kurzfristig, sie würde im Westen bleiben. Opa wollte unbedingt nachkommen. Als er einen Ausreiseantrag stellte, erwiderte der zuständige Beamte in Leipzig jedoch nur: “Wir werden die Republikflucht ihrer Frau doch nicht damit belohnen, dass wir ihr ihren Ehemann hinterherschicken. Ob sie sie in einem oder in fünf Jahren wieder sehen entscheiden nur wir.”
"Sieben verschiedene Fluchten im Kopf"
Der Gedanke an Flucht stand jetzt also fest. Opa, der mehrere Jahre als Kellner in einer Kneipe auf Rügen gearbeitet hatte, in die aufgrund der nahen Ostsee und des Stützpunktes Kap Arkona oft Grenzsoldaten kamen, wusste, dass er sich etwas neues für seine Flucht ausdenken musste, denn die DDR-Grenzbeamten werteten jede Flucht sorgfältig aus, um Wiederholungen zu vermeiden. Er hatte sieben verschiedene Fluchten im Kopf, aber am Ende entschied er sich für den Weg über die Ostsee. Im folgenden halben Jahr informierte er sich über die Seefahrt und über optimale Wetterbedingungen. Er wollte in einem Taucheranzug und einem aufblasbaren Gummikajak fliehen, für das er ein Segel aus Hockeyschlägern und einer Plane konstruierte. Das Kajak ist eigentlich für Höhlenforscher gedacht. Es sollte deshalb aufblasbar sein, weil Gummi und Luft auf einem Radar viel schlechter erkannt werden als zum Beispiel ein Boot aus Aluminium. Ursprünglich wollte er am Nationalfeiertag fliehen, weil da die meisten Soldaten betrunken waren, aber das Wetter sprach gegen den Termin.
Also machte er sich drei Tage später am 11. Oktober auf den Weg. Weil man in der DDR immer nur ein Paket auf einmal in den Westen schicken durfte, hielt er auf seinem Weg zur Ostsee an verschiedenen Postämtern. Aber er wurde von einem Wartburg (Auto) der Stasi verfolgt. Sein eigentlicher Plan war es gewesen, von Rügen aus zu fliehen, aber die Stasi wusste, dass er die dortige Gegend kannte. Deshalb versteckte er seinen Wagen in Stralsund, wartete, bis der Wagen der Stasi vorbeifuhr, und machte sich auf den Weg zum Darß.
Die Stasi-Akten belegen, dass er von seinen Beobachtern auf Rügen gesucht wurde. Vom Darß aus wollte er über die Ostsee zum dänischen Gedser (auf Insel Falster) fahren. Auf dem Darß liegt das Strandbad Ahrenshoop. Von dort sind es nur zweiunddreißig Kilometer nach Gedser. Es ist die sicherste Fluchtroute über die Ostsee, weil die Westdeutschland nahen Gebiete streng überwacht wurden. Über fünfzig Flüchtlinge sind erfolgreich über diese Route entkommen.
Start im Schutze kurzer Dunkelheit
Zwischen zwei Grenztürmen waren Scheinwerfer, die den Strand anstrahlten. Allerdings gingen die Scheinwerfer in kurzen Abständen aus, damit sie nicht überhitzten. Also paddelte Opa vom Strand aus in die Dunkelheit. Nach einer kurzen Strecke spannte er das Segel auf. Das Wetter war ruhig. Die Ruhe vor dem Sturm. Allerdings sah er steuerbord (rechts in Fahrtrichtung) ein Grenzschiff der DDR. Also versuchte er, das Schiff backbord (links in Fahrtrichtung) zu umrunden. Weil die Schiffe Radare haben, setzte er, um das Radar abzulenken, zwei Luftballons aus, die er mit Aluminium umwickelt hatte. Im Nachhinein erfuhr er allerdings, dass das nichts gebracht hatte, weil das Radar sowieso anders eingestellt war (auch das ergab sich aus seinen Stasi-Akten).
Nachdem er das Schiff umrundet hatte, traf er noch weitere Schiffe, die er sich allerdings nicht traute, anzurufen, weil er nicht wusste, welchem Land sie angehörten. Ein paar Stunden später wurde der Wind stärker und er musste das Segel abbauen und paddeln. Opa glaubte schon, die Straßenbeleuchtung von Gedser und den Leuchtturm sehen zu können, als sich plötzlich der Wind drehte und aus Nordost wehte. Dadurch wurde er nach Westen abgetrieben und die Lichter verschwanden. Weiter westlich liegt jedoch das Flachwasser Rødsand. Durch das flache Wasser und die hohe Windstärke waren die Wellen dort besonders hoch. Die Wellen hier kamen aus zwei Richtungen. In einem bestimmten Rhythmus verstärkten sie sich gegenseitig und waren drei Meter groß. Achtmal wurde er von einer solchen Megawelle überspült. Dadurch, dass das Boot aufgeblasen war, konnte er jedoch nicht untergehen. Mit einem Schwamm konnte er das Boot ausschöpfen.
9.30 Uhr des nächsten Tages war der Sturm vorüber und er konnte weitersegeln. Peter war jetzt so lange auf See, dass er extrem müde wurde. Er merkte das, weil er kurz einnickte und die Wellen auf einmal in die andere Richtung rollten. Nun war er bereit jedes Schiff anzurufen, das ihm begegnete, Hauptsache er war raus aus dem Wasser. Zu seinem Glück war das nächste Schiff ein Ausflugsdampfer. Auf der Dania wurde gerade gefrühstückt, als eine Frau das kleine Boot entdeckte. Als er um Hilfe und SOS schrie, warfen ihm die Matrosen einen Rettungsring zu, der sein Ziel jedoch verfehlte. Als jedoch ein Tau geworfen wurde, konnte er sich festhalten. Doch dadurch, dass sein Boot an ihm fest gebunden war, rutschten seine Sachen aus dem Boot und gingen verloren. Doch zum Glück wurden die wichtigsten Dokumente und das Kajak geborgen.
Nunmehr ein Museumboot
Das Boot ist heute im Fluchtmuseum am Checkpoint Charlie ausgestellt. Opa hatte großes Glück, denn drei Kilometer weiter lag ein weiteres DDR-Schiff vor Anker. In zwei Brechtüten wurden von den Passagieren 1.200 dänische Kronen und 46 D-Mark gesammelt. Als er in Burgstaaken (Fehmarn) an Land ging, reiste er mit dem Zug zu seiner Frau in Westdeutschland.
Während der Grenzschließung der DDR zwischen dem 13. August 1961 und dem Mauerfall 1981 haben nach meinen Recherchen im Internet 5.609 Menschen versucht, die DDR über die Ostsee zu verlassen. Die Statistik zählt wahrscheinlich viele Tote nicht auf, weil sie niemals gefunden wurden, erst jetzt versuchen Forschungsstellen an den Universitäten Rostock und Greifswald alle Fälle zu dokumentieren. 4.522 Menschen wurden festgenommen, 174 sind gestorben und nur 913 von über 5.000 haben es geschafft. Es ist eigentlich in unserer heutigen Zeit kaum vorstellbar, welchen beschwerlichen Weg Menschen aus der DDR auf sich nehmen mussten, um auszuwandern. Deshalb soll dieser Artikel daran erinnern.
Frage an Autor Johann Faust
Wie kam es zu diesem Text?
"Als wir in der Redaktion das Thema Wasser für die Ausgabe beschlossen hatten, war es für mich sofort klar etwas über die Flucht meines Opas zu schreiben. Meinen Großvater war auch sofort einverstanden. Für die Informationen habe ich dann ungefähr zwei Stunden mit ihm telefoniert und mitgeschrieben. Weil er wusste das es eine Karte im Fluchtmuseum am Checkpoint Charlie gibt, bin ich auch dort hingefahren und habe sie fotografiert. So ist der Artikel entstanden. Weil wir in der Redaktion mit Indesign arbeiten und ich schon im Homeschooling war, habe ich den Artikel mit meiner Tante zusammen gelayoutet, weil sie Grafikerin ist und Indesign hat. Die Bilder hat mir mein Opa zugeschickt. Es waren alte Abzüge. Insofern war es für mich einfacher als für andere den Artikel zu schreiben. Zu dem Zeitpunkt war ich in der zehnten Klasse. Im Unterricht vor allem in der Unterstufe(bis zur Zehnten) wird das Thema DDR generell nur behandelt, wenn es der Geschichtslehrer zeitlich noch schafft. Durch die Coronakrise ist es bei uns einfach hinten runtergefallen. Allerdings sind in Berlin in der Oberstufe(Abitur) die beiden Semester Geschichte wo der Nationalsozialismus und die DDR rankommen Pflicht. Das heißt, dass zumindest am Gymnasium das Thema immer behandelt wird."
Zitierweise: Johann Faust, "Ostseeflucht", in: Deutschland Archiv, 29.09.2021, Link: Externer Link: www.bpb.de/340950. Sein Beitrag ist der Schülerzeitung "MORON" des Carl-von-Ossietzky Gymnasiums in Berlin entnommen. Weitere Schülerzeitungstexte folgen unter Interner Link: diesem Link.