Nachfolgend ein kurzer Überblick über Ost-West-Inhalte in Eigenpublikationen der Parteien zur Bundestagswahl 2021. Beim Blick in die Wahlprogramme fiel auf, dass der Osten eine stark unterschiedliche Aufmerksamkeit erfuhr.
CDU/CSU
Im Wahlprogramm der Union gibt es einen eigenen Abschnitt mit dem Titel „Zukunft Ost“. Darin heißt es, man wolle die entstandenen Cluster in Wirtschaft und Wissenschaft stärken sowie die Vernetzung besonders nach Mittel- und Osteuropa etwa in den Bereichen Verkehr sowie Bildung und Wissenschaft vorantreiben. Die Union bekennt sich zum Kohle-Kompromiss, der einen Ausstieg aus der Braunkohle-Verstromung bis 2038 vorsieht; das ist besonders für Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt relevant. „Die Braunkohle-Regionen, die betroffenen Energieunternehmen, die Zulieferer und vor allem die Beschäftigten können sich auf uns verlassen“, steht da wörtlich. Zudem möchten CDU und CSU die Ansiedlung von Bundesbehörden besonders im ländlichen Raum fortsetzen. So soll unter anderem eine neue digitale Ausbildungsstätte der Bundeswehr entstehen. Beide Parteien weisen im Wahlprogramm schließlich auf Errungenschaften der ablaufenden Legislaturperiode hin, so in der Rentenpolitik (in Form eines höheren Anteils bei den Erstattungen an die Rentenversicherung für die Ansprüche aus den Sonder- und Zusatzversorgungssystemen der ehemaligen DDR) und der DDR-Aufarbeitung (Überführung der Stasi-Akten ins Bundesarchiv und Schaffung einer Opferbeauftragten beim Bundestag). Die Forschung zur SED-Diktatur soll in den kommenden Jahren explizit ausgebaut werden. Konkrete Ankündigungen oder Versprechungen zu Ostdeutschland gibt es im Programm nicht.
SPD
Ähnlich verhält es sich mit der SPD. Stattdessen weist die Parteizeitung „Vorwärts“ daraufhin, welche allgemeinen Forderungen im Wahlprogramm Ostdeutschland besonders nutzen würden. „Von 12 Euro Mindestlohn wird keine Region so sehr profitieren wie Ostdeutschland“, sagte SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz demzufolge. Für mehr als die Hälfte der ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer würde er nämlich eine Lohnerhöhung von bis zu 25 Prozent bedeuten. Auch ein Tariftreuegesetz würde in Ostdeutschland demnach besonders zum Tragen kommen. Schließlich arbeiteten hier im vorigen Jahr 57 Prozent der Beschäftigten in Betrieben, in denen kein Tarifvertrag existierte. Nutzen würde dem Osten laut SPD auch die Absicht, den Ausbau des 5G-Netzes sowie des Breitband-Internet besonders in dünn besiedelten Gebieten zu beschleunigen, eine geplante Mobilitätsgarantie sowie die Einführung einer Kindergrundsicherung. Bei den Internetverbindungen stehe Ostdeutschland bisher ebenso schlechter da wie beim öffentlichen Personennahverkehr und der Kinderarmut, diagnostiziert der „Vorwärts“ und gibt Scholz mit den Worten wieder: „Ich möchte die Digitalisierung zur Chance für Ostdeutschland machen.“ Das geplante „Kompetenzzentrum Digitalisierung und ländlicher Raum“ soll dort entstehen. Während es im SPD-Wahlprogramm an einem eigenen Ostabschnitt fehlt, taucht das Thema also durchaus auf. Der in Osnabrück geborene frühere Hamburger Bürgermeister Scholz kandidiert im Übrigen in einem ostdeutschen Wahlkreis, genauer: in Potsdam und dem Umland.
Die Grünen
Im Wahlprogramm der Grünen findet sich das Wort „Ostdeutschland“ exakt dreimal. Sie schreiben: „Für ein gutes, selbstbestimmtes Leben in allen Regionen brauchen wir eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Wir brauchen gute Infrastruktur und den Zugang zu öffentlichen Gütern in den Kommunen. Deshalb wollen wir eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Daseinsvorsorge“ im Grundgesetz verankern. Regionen, die heute mit großen Versorgungsproblemen zu kämpfen haben, sollen wieder investieren und gestalten können.“ Ziel sei es, anhand von regionalen Indikatoren Förderregionen auszuwählen und die Stärkung der Kommunen in diesen Regionen zu unterstützen. Mit Regionalbudgets soll Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gegeben werden, ihre Dörfer und Städte zu entwickeln. Für zentrale Versorgungsbereiche wie Gesundheit, Mobilität und Breitband wollen die Grünen nötige Mindeststandards formulieren. Da sich die strukturschwachen Regionen unverändert überwiegend in Ostdeutschland befinden, würden logischerweise überwiegend ostdeutsche Regionen in den Genuss dieses Plans kommen. Die Grünen möchten in strukturschwachen Regionen darüber hinaus weitere Bundeseinrichtungen und Forschungsinstitute ansiedeln und unterstützen die Idee der Errichtung eines „Zukunftszentrums für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“, die von der Bundesregierung im Sommer beschlossen wurde. Sie wollen auch die Aufarbeitung der SED-Diktatur fortsetzen und Opfer der SED-Diktatur unbürokratisch entschädigen. Das dritte Mal findet sich das Wort Ostdeutschland im Abschnitt zum Sport. So gebe es 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution immer noch eine Ost-West-Diskrepanz beim Breitensport, stellt die Partei fest. Dem möchte sie durch Förderung begegnen.
FDP
Die FDP verzichtet in ihrem Wahlprogramm auf ein explizites Ost-Kapitel – und zwar, wie in Parteikreisen verlautet, sehr bewusst. „Wir sind der Auffassung, dass wir nach über 30 Jahren der deutschen Einheit Normalität im besten Sinne brauchen: Keine spezifische Politik für Ostdeutschland, sondern gesamtdeutsches Denken und Handeln auf Augenhöhe“, heißt es da. In den letzten Jahrzehnten sei viel geschafft worden, es bleibe freilich auch noch manches zu tun. 2019 hat der FDP-Bundesvorstand in einem Beschluss einen „Neustart des Aufbaus Ost“ angemahnt; Anlass war der 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. „Damit der Einheitsprozess auch in Zukunft erfolgreich weiterverläuft, können wir nicht einfach weitermachen wie bisher“, steht darin. „Es liegt nicht nur am Geld, an neuen Fördermilliarden oder an neuen Infrastrukturprogrammen. Wir müssen angesichts der enormen Herausforderungen, die der Aufholprozess noch immer darstellt, auf die Kreativität und den Gestaltungswillen der Menschen setzen. Eine gute Idee, die auch realisiert wird, kann mehr erreichen als viele Millionen Euro Fördermittel.“ Und weiter: „Nur wer keine Ideen hat, schreit in erster Linie nach mehr Geld, Quoten für ostdeutsche Führungskräfte oder die Ansiedlung von staatlichen Institutionen, statt darzulegen, was er strukturell ändern möchte.“ Im Einzelnen schlagen die Liberalen „die Einführung von Sonderwirtschaftsräumen in den neuen Ländern“ vor. Bundesländer und Kommunen müssten in bestimmten Politikfeldern die Möglichkeit erhalten, über die Anwendung und Auslegung von rechtlichen Regeln in einem vorgegebenen Rahmen selbst zu entscheiden. Darüber hinaus mahnen sie – neben mehr Autonomie an Schulen, digitalen Innovationen und besseren Bedingungen für individuelle Mobilität – „mehr qualifizierte Zuwanderung“ an, „um dem Fachkräftemangel in den ostdeutschen Regionen entgegenzutreten“.
Die Linke
Das umfangreichste Ost-Kapitel hat zweifellos die Linke. Das ist auch kein Wunder. Denn sie ist in wesentlichen Teilen Nachfolgerin der PDS, die wiederum aus der SED hervorging, und erzielt in Ostdeutschland nach wie vor ihre besten Wahlergebnisse. Kurzum: Die Linke begreift sich unverändert als „Ostpartei“. Das schlägt sich im Programm nieder. Das einschlägige Kapitel ist überschrieben mit: „Selbstbewusster Osten – Ostdeutsche Interessen stärken“. Die Linke will den Mindestlohn auf 13 Euro anheben. Davon, so sagen sie, würden 40 Prozent der ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer profitieren. Sie fordert auch „eine Lohnoffensive Ost durch mehr Tarifbindung und flächendeckende Tarifverträge, um die Löhne in den neuen Ländern bis zum Ende der kommenden Legislaturperiode im Jahr 2025 zu 100 Prozent an das Westniveau anzugleichen“. Die Linke macht sich außerdem für „eine sofortige Angleichung der Ostrenten zu 100 Prozent an das Westniveau“ stark und will mehr Ostdeutsche auf Führungspositionen im öffentlichen Dienst; dazu soll auf freiwilliger Basis erhoben werden, woher Mitarbeiter staatlicher Einrichtungen stammen. Daneben sollen Unternehmen, an denen der Bund beteiligt ist, ihren Sitz nach Ostdeutschland verlegen. Last, but not least plädiert die Linke für die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses zur Untersuchung der Treuhand-Aktivitäten zwischen 1990 und 1994 – sowie ein „Reindustrialisierungsprogramm Ost“. Der Ost-Fokus der Linken ist im Programm so stark ausgeprägt, dass sie offenbar auch in Kauf nimmt, damit Wähler in Westdeutschland abzuschrecken.
AfD
Die AfD hat sich in den letzten Jahren als zweite Ostpartei zu etablieren versucht und dies, die Wahlergebnisse belegen es, auch geschafft. Sie hat in vergangenen Wahlkämpfen, anknüpfend an die Friedliche Revolution von 1989, Slogans bemüht wie „Vollende die Wende“. Derzeit nimmt die AfD den Ostbeauftragten der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), ins Visier, der sich seinerseits mehrfach gegen die AfD und ihre Wähler gewandt hatte. Im Wahlprogramm der AfD findet der Anspruch, Ostpartei zu sein, jedoch kaum eine konkrete Entsprechung – mit einer einzigen Ausnahme: der Rentenpolitik. So ist dort zu lesen: „Neben den Ungerechtigkeiten gegenüber Familien bestehen auch 31 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung noch immer Ungerechtigkeiten bei der Überleitung der Ostrenten. Bei der in den neunziger Jahren erfolgten Rentenüberleitung mit dem Renten-Überleitungsgesetz und dem Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz ist es zu Ungereimtheiten gekommen. Die im Alterssicherungssystem der ,DDR‘ enthaltenen Regelungen für besondere Berufsgruppen wurden nur teilweise umgesetzt. Nach dem Auslaufen von Übergangsregelungen ergeben sich erhebliche Unterschiede je nach Rentenbeginn.“ Für Härtefälle im Rentenüberleitungsprozess wird nun ein Ausgleich durch eine Fondslösung in Aussicht gestellt. In deren Rahmen soll es „pauschalierte Einmalzahlungen in angemessener Höhe“ geben; sie sollen sich nach der „zurückgelegten Betriebszugehörigkeit“ richten.
Fazit
Ostdeutschland spielt 2021 in allen Wahlprogrammen eine Rolle – allerdings eine sehr unterschiedliche. Eigene Ost-Kapitel gibt es überwiegend nicht mehr. Auch werden gemessen an früheren Wahlprogrammen immer weniger konkrete Forderungen erhoben, nicht zuletzt, weil die Ost-West-Angleichung in vielen Bereichen über 30 Jahre nach der Vereinigung abgeschlossen ist. Nur das Programm der Linken spielt dabei traditionell eine Ausnahme.
In den Fernsehdebatten des Wahlkampfs 2021 wurde das Verhältnis vom Westen Deutschlands zum Osten kaum noch beleuchtet, einzig im ZDF gab es am 19. August 2021 zu diesem Thema einen Schwerpunkt-"Wahlduell" zwischen AfD und Linke Externer Link: unter diesem Link .
Der Autor dieser Übersicht, Markus Decker, studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Romanistik in Münster und Marburg, war ab 1994 Redakteur in Lutherstadt Wittenberg und Halle, seit 2001 Berliner Parlamentskorrespondent für die Mitteldeutsche Zeitung und den Kölner Stadtanzeiger, ab 2012 auch für die Berliner Zeitung und die Frankfurter Rundschau, seit 2018 beim Redaktionsnetzwerk Deutschland. Sein Überblick ist der Frankfurter Rundschau vom 8. August 2021 entnommen.
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