Umfangreiche sozialwissenschaftliche Untersuchungen haben herausgearbeitet, wie die Entwicklung der politischen Kultur in den letzten drei Jahrzehnten in einen multidimensionalen, mehrstufigen und unabgeschlossenen Transformationsprozess eingebettet ist (vergleiche Best/Holtmann 2012). Für das Verständnis und die Erklärung spezifischer Problemlagen zentral ist die Beachtung der Interdependenz zwischen der System- und Sozialintegration der Bevölkerung Ostdeutschlands im wiedervereinigten Deutschland und ihres Demokratie- und Repräsentationsverständnisses. Zu diskutieren sind dabei auch die historischen Vorbedingungen, Gelegenheitsstrukturen, Gestaltungsspielräume und Grenzen für die Herausbildung und Aktivierung einer demokratischen Zivilgesellschaft in Ostdeutschland. Auf einige dieser Aspekte sowie charakteristische Kontinuitäten und Brüche wird nachfolgend eingegangen.
Akzeptanz und zugleich Misstrauen.
Demoskopische Befunde zur Verbreitung von politischen Einstellungen und Bewertungen der Demokratie in der ostdeutschen Bevölkerung verweisen seit langem auf die sehr hohe prinzipielle Akzeptanz der Demokratie als Herrschaftsform – bei gleichzeitiger deutlicher Kritik an der demokratischen Praxis, aus der sich Skepsis, ja sogar Misstrauen gegenüber den politischen Akteur*innen und Institutionen speisen. Während laut ALLBUS, der Allgemeinen Bevölkerungsbefragung der Sozialwissenschaften, im Jahr 2018 in Westdeutschland 83 Prozent der Befragten mit der Demokratie zufrieden waren, äußerten dies in Ostdeutschland nur 67 Prozent der Befragten.
Im Vergleich zu anderen postsozialistischen Transformationsgesellschaften Mittel- und Osteuropas ist Ostdeutschland ein Sonderfall: Nirgendwo sonst gab es eine staatliche Vereinigung mit einem solchen direkten, abrupten und umfassenden Institutionentransfer, Elitenwechsel und Elitenimport. Andere postsozialistische Demokratien mussten sich – bei teilweise gewaltsamem Zerfall und Neugründung von Staaten – in viel stärkerem Maße „aus sich selbst herausbilden“. Dies war mit sehr unterschiedlichen Folgen für die Ausgestaltung und Stabilität der politischen Systeme und Kulturen verbunden, wie ein Blick auf den Balkan, nach Russland und in die Ukraine, ins Baltikum, nach Polen oder nach Tschechien und die Slowakei zeigt. Insofern Befragungsdaten, zum Beispiel die des European Values Surveys , Vergleiche zulassen, erreichen die Demokratieunterstützung und die Demokratiezufriedenheit in vielen postsozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas gegenwärtig weder das Niveau Ostdeutschlands noch weisen dortige Bevölkerungseinstellungen eine ähnlich positive Entwicklung auf.
Im Thüringen-Monitor 2019, einer Regionalbefragung zur politischen Kultur im Freistaat Thüringen, stimmten 90 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Die Demokratie ist die beste aller Staatsideen“ (vgl. Reiser et al. 2019: 39ff.). Das Niveau der abstrakten Demokratieunterstützung befand sich damit auf dem Höchstwert des zwei Jahrzehnte überspannenden Beobachtungszeitraums. Zu kontrastieren ist dieser Befund mit den Selbstauskünften der Befragten zu ihrer Zufriedenheit „mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland in der Praxis funktioniert.“ Hier zeigten sich zuletzt 63 Prozent „sehr zufrieden“ oder „ziemlich zufrieden“. Eine Minderheit von mehr als einem Drittel der Befragten nahm indessen eine kritischere Gesamtbewertung der gesellschaftlichen und politischen Realität vor. Zwar befand sich damit auch die Demokratiezufriedenheit auf einem hohen Niveau im Vergleich zu früheren Messzeitpunkten, der Unterschied zur abstrakten Demokratieunterstützung blieb jedoch markant. Auffällig waren auch die hohen Zustimmungswerte von jeweils zwei Dritteln bis drei Vierteln aller Befragten zu den Aussagen „In unserer Demokratie werden die Anliegen der Menschen nicht mehr wirksam vertreten“, „Die Parteien wollen nur die Stimmen der Wähler, ihre Ansichten interessieren sie nicht“ und „Leute wie ich haben so oder so keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut“.
Unzutreffende Pauschalisierungen
Einerseits ist aus diesen exemplarischen und ähnlichen Befragungsergebnissen erkennbar, dass eine erhebliche Diskrepanz besteht zwischen den normativen Demokratieerwartungen und Zielvorstellungen der ostdeutschen Bevölkerung und der von ihr wahrgenommenen Performanz des politischen Systems beziehungsweise seiner zentralen Akteur*innen. Andererseits ist zu betonen, dass die in Teilen der medialen Öffentlichkeit diskutierte These einer „Demokratiemüdigkeit“, gar eines „Demokratiedefizites der Ostdeutschen“ eine unzutreffende Pauschalisierung darstellt. Während sich eine kritische sozialwissenschaftliche Betrachtung gegen derartige Reduktionismen ohnehin verwehren muss, ist zu konstatieren, dass solch stereotype Zuschreibungen und negativen Wertungen von „den Ostdeutschen“ als insultierend und diskriminierend empfunden werden: Sie erhöhen ihre Be- und Entfremdungserfahrung, verstärken Gefühle paternalistischer Bevormundung, kollektiver Benachteiligung und Herabsetzung und sind damit selbst ein bedeutsamer Aspekt der Gesamtproblematik. Nichtsdestotrotz bieten sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine kritische Betrachtung bestimmter, in Ostdeutschland tradierter Orientierungen, sozialer Praktiken und Mentalitätsbestände, die im Kontext eines Akzeptanz- oder sogar Legitimitätsdefizits der repräsentativen Demokratie zu diskutieren sind. Anstelle eines Werturteils steht bei dieser kritischen Betrachtung die Frage nach den Ursachen und den Konsequenzen für die politische Auseinandersetzung im Vordergrund.
Das in Ostdeutschland zum Teil auffällig zutage tretende generalisierte Misstrauen gegenüber der Politik und dem Staat, dessen Institutionen und Vertreter*innen (einschließlich und im besonderen Maße der Parteien und der staatlichen Verwaltungsorgane) war ab 1990 zunächst dem raschen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik geschuldet. Dieser leitete einen umfassenden Institutionentransfer und Elitenimport, vor allem jedoch einen radikalen Umbruch ostdeutscher Lebenswelten ein. Der „Anschluss“ der „Neuen Bundesländer“ beziehungsweise die „Übernahme“ (Kowalczuk 2019) Ostdeutschlands durch den „Westen“ wurde von nicht wenigen Ostdeutschen als „Überstülpung“, „Kolonisation“ und „Fremdbestimmung“ wahrgenommen, obwohl dieser Prozess durch die demokratische Mehrheitsentscheidung bei den Volkskammerwahlen im Frühjahr 1990 besiegelt worden war. Die eigentliche Be- und Entfremdungserfahrung bildete sich jedoch im Vollzug der mittel- und langfristigen Systemtransformation mit ihren sozioökonomischen und soziokulturellen Verwerfungen aus. Diese standen im Widerspruch zu den einprägsamen Wahlversprechen und Schönwetterreden prominenter Politiker*innen. Vor allem das bis heute unvollendete Großprojekt der Überwindung der Folgen der deutschen Teilung und die ausgebliebene Herstellung gleicher Lebensbedingungen in Ost und West hat – bei allen Erfolgen – ausgesprochen gemischte Bilanzen vorzuweisen. Dieser Prozess war durch herbe Rückschläge und unübersehbare Fehlentwicklungen gekennzeichnet. Vorstellungen von der „BRD“ mit ihren kapitalistischen Macht- und Besitzverhältnissen, die durch die politische Sozialisation und Bildung in der DDR maßgeblich mitgeprägt worden waren, schienen sich durch die eigenen negativen Erfahrungen schon frühzeitig im Transformationsprozess zu bestätigen (Stichwort: Massenarbeitslosigkeit, Treuhand-Skandale). Auch wenn die überwiegende Mehrheit der Ostdeutschen heutzutage mit ihren Lebensbedingungen zufrieden ist und eine positive Bilanz der deutschen Einheit zieht – im politischen System der Bundesrepublik scheinen nach wie vor viele nicht vollständig „angekommen“ zu sein.
Die begrenzte Steuerungsfähigkeit und Einflussmöglichkeit vonseiten der Politik in einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft, die sich eben auch darin von der „durchmachteten“ DDR konstitutiv unterschied, vor allem jedoch die begrenzten Möglichkeiten, Erfolge zu garantieren und Wahlversprechen einzulösen, wurden von nicht wenigen Ostdeutschen als Bestätigung der Inkompetenz, moralischen Fragwürdigkeit oder prinzipiellen Unzulänglichkeit politischer Repräsentant*innen interpretiert.
Hohe Output-Orientierung gegenüber dem politischen System
Nach wie vor beziehen sich die Ansprüche und Erwartungen vieler Ostdeutscher an die Politik auf das Schließen von Gerechtigkeitslücken, die Gewährleistung von (sozialer und öffentlicher) Sicherheit, die Einlösung der Versprechungen einer sozialen Marktwirtschaft und auf Antworten bezüglich der Herausforderungen des demografischen Wandels, von dem Ostdeutschland besonders stark betroffen ist. Während die soziale Ungleichheit in Ostdeutschland bis heute nicht so groß ist wie in Westdeutschland, besitzen Ostdeutsche allgemein eine höhere Sensibilität für soziale Ungleichheit und nehmen in stärkerem Maße Gerechtigkeitsdefizite war als Westdeutsche (vgl. Gabriel et al. 2016). Auch im Thüringen-Monitor 2015 wurde ausführlich diskutiert, inwieweit die ambivalenten Bewertungen des deutschen Vereinigungsprozesses mit einer retrospektiven Beurteilung des Lebens in der DDR verknüpft sind (Best et al. 2015). Dieser intertemporale Systemvergleich bleibt in der ostdeutschen Kollektiverfahrung dauerpräsent und ist mit entsprechenden Erwartungen hinsichtlich politischer Performanz in der Gegenwart verknüpft. In der Bevölkerung besteht eine sehr hohe Output-Orientierung gegenüber dem politischen System, das die repräsentative Demokratie auf den genannten Themenfeldern gewissermaßen „zum Erfolg verdammt“, krisenanfällig macht und tendenziell destabilisiert. Die Responsivitätserwartung, dass Politiker*innen in erster Linie dem „Willen des Volkes“ entsprechen sollten, ist stark ausgeprägt und führt zur Wahrnehmung einer defizitären Interessensrepräsentation.
Die Repräsentation ostdeutscher Interessen betrifft allerdings nicht nur Politikfelder, die unmittelbar mit den sozioökonomischen Fragen oder dem Problemkreis struktureller Diskriminierung der ostdeutschen Bevölkerung und ihren Lebensbedingungen verknüpft sind. Vielmehr existiert auch ein enger Zusammenhang mit der soziokulturellen Selbst- und Fremdpositionierung der Ostdeutschen und der ambivalenten, widersprüchlichen Konstruktion regionaler und nationaler Kollektividentitäten, deren Bezugsrahmen durch die deutsche Einheit gegeben ist. Abgesehen von ihren sehr konkreten Auswirkungen haben die Entwertung von Lebensentwürfen, Karrieren, Wissens- und Erfahrungsbeständen sowie die kollektiven Erfahrungen von Entsicherung und Desorientierung zu Gefühlen der Deklassierung, Missachtung und Demütigung geführt. Diese werden als „Subalternität“ (vgl. Kollmorgen et al. 2011) der Ostdeutschen und als subjektiv empfundene „Ostdeprivation“ diskutiert. So stimmen bis heute ungefähr der Hälfte der Befragten des Thüringen-Monitors der Aussage zu: „Westdeutsche behandeln Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse.“
Hier geht es ganz wesentlich um Anerkennungsdefizite: Dass ehemaligen DDR-Bürger*innen praktisch über Nacht eine beispiellose Neuorientierungs- und Anpassungsleistung in fast allen Lebensbereichen abverlangt wurde, ist zweifellos Gegenstand medialer und politischer Debatten. Doch viele Probleme, die sich für die Ostdeutschen im Transformationsprozess gestellt haben und deren Folgewirkungen in der Gegenwart fortbestehen, waren und sind für große Teile der westdeutschen Bevölkerung kaum von Belang oder sogar gänzlich bedeutungslos und deshalb nur begrenzt vermittelbar. Ostdeutsche drohen – selbst bei angemessener (allerdings immer noch unerreichter) proportionaler Repräsentation in politischen Prozessen – allein aufgrund ihres faktisch geringen Anteils an der Gesamtbevölkerung auf Bundesebene majorisiert zu werden; ihre „Ostidentität“ (die keineswegs monolithisch ist) wird zudem oftmals eher belächelt oder problematisiert. Zu beachten sind hier Sekundäreffekte stereotyper Darstellungen und Erzählungen über „das Ostdeutschland“, die unter anderem das Gefühl der Zweitklassigkeit und der Herabsetzung der Ostdeutschen verstärkt haben. Dies bezieht sich nicht nur auf die Rede von „Jammerossis“, die undankbar für die Segnungen von Demokratie und Marktwirtschaft, Solidaritätsbeitrag und Länderfinanzausgleich und in überzogenem Maße unzufrieden seien. Eine hohe Bedeutung besitzt auch die Infragestellung ihrer „Demokratietauglichkeit“, deren Tenor in etwa so lautet: „Können die Ostdeutschen eigentlich mit der von ihnen einst erstrittenen beziehungsweise der ihnen gewährten demokratischen Freiheiten angemessen umgehen?“
Das Negativimage eines braunen „Dunkeldeutschlands“
Das frühere Stigma ehemaliger kollektiver SED-Komplizenschaft und Stasi-Kollaboration wurde in den letzten drei Jahrzehnten immer stärker ergänzt oder sogar abgelöst durch das Negativimage eines braunen „Dunkeldeutschlands“, das vor allem in Sachsen verortet wird. Mehr noch als Hoyerswerda oder Sebnitz steht aber Rostock-Lichtenhagen (Mecklenburg-Vorpommern) als Symbol einer gesellschaftlichen und politischen Pathogenese, gar von „Zivilisationsdefiziten“. Ähnlich negative Assoziationen rief das im thüringischen Jena sozialisierte und dann im sächsischen Zwickau wohnhafte „NSU-Trio“ hervor – und in jüngerer Zeit die Großveranstaltungen der neonazistischen Szene in Südthüringen, die Ereignisse in Chemnitz, Freital und immer wieder Dresden als Aufmarschort von Rechtsextremist*innen. In den letzten Jahren haben unter anderem die fast flächendeckend hohen Wahlergebnisse der AfD und die zeitweise beachtlichen Mobilisierungserfolge von „PEGIDA“ einer Pauschalisierung und Typisierung des „rechtsradikalen Ostens“ Nahrung geliefert. Dass damit oftmals die lange, bis heute währende Kontinuität des Rechtsextremismus in Westdeutschland verdrängt oder relativiert wird, nehmen dezidiert demokratisch eingestellte und engagierte Ostdeutsche als besonders irritierend und kontraproduktiv wahr.
Die Verbreitung und Verankerung eines demokratischen Bewusstseins, das eine größere Unabhängigkeit von materiellen Wohlstandserwartungen und deren Enttäuschungen aufweist, in erster Linie also universellen Werten der Staatsbürgerlichkeit und des Humanismus verpflichtet ist, mag in Ostdeutschland ausbaufähig sein – vor allem, weil autoritäre, antidemokratische und rassistische Stimmen seit Jahren lauter werden. Anstatt jedoch verächtlich auf „die“ Ostdeutschen herabzuschauen, sollten jene Akteur*innen und Institutionen stärker unterstützt werden, die demokratische, zivilgesellschaftliche Strukturen vor Ort aufgebaut haben und verteidigen. Nur durch authentische Erfahrungen demokratischer Selbstwirksamkeit können habituelle, kognitive und emotionale Widerstände auch bei jenen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung aufgebrochen werden, die in hohem Maße Systemdistanz und Systemkritik artikulieren.
Historisch gewachsene Widerständigkeit
Politische Passivität, Resignation und Fatalismus sind die Grundstimmungen, von denen die demokratischen Verhältnisse in Ostdeutschland nach Einschätzung mancher Beobachter*innen geprägt sind, und die sich regelmäßig in den relativ hohen Nichtwähleranteilen niederschlagen. Sie haben ihre Ursache in den bereits beschriebenen Nachwende- und Transformationserfahrungen, verweisen aber außerdem auf Kontinuitäten, Tradierungen und Prägungen aus der DDR-Zeit. Unter den Bedingungen der SED-Diktatur gehörte „Unpolitisch sein“ – der Rückzug ins Private – zum Selbstverständnis vieler DDR-Bürger*innen und beschrieb ihre Strategien, sich dem totalitären Herrschaftsanspruch des Regimes zu entziehen oder zu verweigern. Dadurch erscheint die hochgradig ideologisierte DDR im Rückblick paradoxerweise als seltsam entpolitisierte Gesellschaft. Überwiegend wird die DDR als eine „Zusammenhaltsgesellschaft“ erinnert und retrospektiv imaginiert. Soziale Kohäsion wurde nicht nur durch staatlich verordneten Kollektivismus generiert, als Zwang oder als Notwendigkeit zum Ausgleich planwirtschaftlich bedingter Versorgungsmängel („Vitamin B“) empfunden, sondern durchaus auch als authentische und positive (wenngleich nicht autonome) Erfahrung lebensweltlicher Praktiken der Vergemeinschaftung. Dieser Zusammenhalt in der Bevölkerung existierte unter anderem in Opposition beziehungsweise. Verteidigung gegen eine omnipräsente staatliche Obrigkeit, gegen deren verlogene Inszenierungen einer Scheindemokratie und die von ihr vollzogenen Freiheitsbeschränkungen, gegen institutionelle administrative Praktiken von Verwaltungs- und Sicherheitsorganen, die konkret zum Beispiel. in der Übergriffigkeit auf Privatsphären, individuelle Lebensentwürfe, professionelle Handlungskontexte, letztlich auf die gesamte Persönlichkeitsentfaltung bestanden. Diese Widerständigkeit und ein generalisiertes Misstrauen gegenüber dem Staat hat das Politikverständnis vieler Ostdeutscher nachhaltig geprägt und ihr Verhältnis zu Macht- und Herrschaftsformen im Allgemeinen, das heißt auch unter gänzlich anderen, demokratischen Bedingungen, präfiguriert.
Viele der authentischen Erfahrungen unmittelbarer demokratischer Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortlichkeit der Wende- und unmittelbaren Nachwendezeit fanden spätestens mit Inkrafttreten des Vereinigungsvertrags ihr abruptes Ende. Mit der DDR wurden auch die neuen, im Herbst 1989 und Frühjahr 1990 effektiv wahrgenommenen Gelegenheitsstrukturen für ein breites basisdemokratisches Engagement abgewickelt. Die spontanen Bürgerversammlungen und dezidiert antihierarchischen Runden Tische, die hohe Akzeptanz genossen, schienen mit den veränderten Bedingungen und dem Institutionen- und Expertenimport aus dem „ready-made state“ der Alt-Bundesrepublik unvereinbar zu sein. Nun galt es zur Tages- und Geschäftsordnung überzugehen – aus dieser (per mehrheitlicher Wahlentscheidung determinierten) Alternativlosigkeit und den rasch einsetzenden Mühen der Ebene erwuchs Ernüchterung. Bis heute ist zwar ein nostalgisch anmutender Nachhall reformdemokratischer, reformsozialistischer Erneuerungsbestrebungen aus der Wendezeit vernehmbar.
Auch die immer wieder zaghaft aufflammende Debatte um eine neue Verfassung, die den Bedingungen der Wiedervereinigung der zwei deutschen Teilgesellschaften Rechnung tragen und anstelle des alten Grundgesetzes treten sollte, ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Trotz der anfänglich hohen Akzeptanz und großen Sympathien wurden basisdemokratische Reformbestrebungen bereits 1990 nur noch von Minderheiten der Bevölkerung und Teilen der ostdeutschen Deutungseliten mit Nachdruck verfolgt und blieben damit mittel- bis langfristig erfolglos.
Ungünstiger Kontext für demokratische Bewusstseinsentwicklung
Die Bewältigung des sozioökonomischen Strukturwandels, vor allem die Deindustrialisierung, die damit verbundene flächendeckende Massenarbeitslosigkeit und deren sozialen Folgen, haben individuelle, kollektive und gesamtgesellschaftliche Ressourcen intensiv beansprucht und dominierten für lange Zeit die Setzung politischer Prioritäten sowie die gesellschaftlichen Diskurse. Dies war ein ungünstiger Kontext für die Entwicklung eines demokratischen Bewusstseins und die Aktivierung einer engagierten Zivilgesellschaft. Viele Ostdeutsche hatten und haben bis heute vor dem Hintergrund ihrer eigenen lebensweltlichen Situation schlichtweg „andere Probleme“ zu bewältigen, als sich beispielsweise mit von ihnen als abstrakt und außerhalb ihrer eigenen Einflussmöglichkeiten wahrgenommenen politischen Fragen zu beschäftigen. Die Vorstellung von Repräsentationseliten als „Vollstrecker des Volkswillens“, die durch die Selbstinszenierung von Politiker*innen als Expert*innen verstärkt wurde, wies diesen die alleinige Verantwortung zu und diente damit zur Entlastung derer, die sich als das „unpolitische“ Wahlvolk sahen. Verbunden wurde dies mit der Erwartung einer prompten, arbeitsteiligen Pflichterfüllung ohne gegenseitige Durchdringung der jeweiligen Zuständigkeitsbereiche. Durch diese Vorstellung wurde allerdings das tradierte „Wir hier unten, die da oben“ verstärkt, das für den Populismus charakteristisch ist. Außerdem wurde in weiten Teilen Ostdeutschlands ein öffentliches Klima geprägt, in dem (politischer) Streit – vor allem der zwischen Parteien, aber auch zwischen Individuen, etwa auf kommunaler Ebene – gemeinhin nicht als produktives Mittel zur Aushandlung eines kollektiven Konsenses, sondern als Störung, ja als Ärgernis betrachtet wird.
Von „Demokratieskeptiker*innen“ beklagt werden die Nichtbeachtung des Wählerwillens, eine Arroganz und Selbstbezüglichkeit der politischen Eliten, ihre Korruptionsanfälligkeit beziehungsweise ihr offener Lobbyismus und nicht zuletzt ihre mangelnde Lösungskompetenz angesichts drängender gesellschaftlicher Herausforderungen. Hinzu tritt jedoch auch ein Unbehagen gegenüber institutionellen Rahmenbedingungen und prozeduralen Demokratieaspekten, in erster Linie die Skepsis gegenüber der Effizienz politischer Institutionen. Symptomatisch hierfür ist die Forderung nach Formen stärkerer basisdemokratischer Mitbestimmung, die besonders von Bürger*innen, die sich als kritisch oder. relativ systemdistant beschreiben lassen, unterstützt und als Korrektiv des Responsivitätsdefizits betrachtet werden. Diese hohe prinzipielle Popularität plebiszitärer Elemente steht allerdings in auffälligem Widerspruch zu der eher verhaltenen tatsächlichen Wahlbeteiligung und den begrenzten Partizipationsneigungen und -erfahrungen auf dem Gebiet vorhandener politischer Beteiligungsmöglichkeiten.
Repräsentationsdefizite kein vorrangiges Problem
Die (formale) Repräsentation ostdeutscher Interessen ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten vor allem im Zuge der Einheitsjubiläen öffentlich thematisiert und dabei oftmals als Problem der Sozialstrukturentwicklung, Personalpolitik und Elitenrekrutierung diskutiert worden. Allerdings ist bis heute fraglich, inwieweit die (vor allem auf Bundesebene!) fortbestehende proportionale Unterrepräsentation von Ostdeutschen in den Repräsentationseliten oder unter politischen und anderen öffentlichen Akteur*innen tatsächlich von der ostdeutschen Bevölkerung als problematisch empfunden wird, solange ihre („ostdeutschen“) Interessen wahrnehmbar vertreten werden. So verpufften zum Beispiel die anfänglichen Versuche von Seiten der Opposition im Thüringer Landtagswahlkampf 2019, den „Wossi“ Bodo Ramelow in humoristischen Plakatmotiven als „falschen Thüringer“ zu bezeichnen. Diese Kampagne war absolut unpopulär, weil mit dem Makel einer provinziellen Engstirnigkeit behaftet und mit „Fremdenfeindlichkeit“ assoziiert; sie entspricht nicht der Lebenswirklichkeit und dem Selbstbild der meisten Thüringer*innen und Ostdeutschen allgemein, die trotz ihrer unterschiedlichsten politischen Überzeugungen die regionale Herkunft ihrer Ministerpräsidenten (Biedenkopf, Vogel und so weiter) nur in Ausnahmefällen negativ bewertet haben dürften. „Die Regierung“ wird in erster Linie an ihrem Handeln gemessen, weniger an ihrer personellen Zusammensetzung. Das Vertrauen, das dem politischen Spitzenpersonal dabei entgegengebracht wird, fußt teilweise auf der Zuschreibung von „Amtscharisma“ und einer autoritären Erwartungshaltung, bei der „gute Führung“ mit Gefolgschaft und Gehorsam belohnt wird.
Bis in die Gegenwart stehen deshalb nicht unwesentliche Teile der ostdeutschen Bevölkerung basisdemokratischem Aktionismus und dem Engagement sozialer Bewegungen, die in eher unkonventionellen öffentlichen Aktionen gesellschaftlichen und politischen Mitgestaltungsanspruch artikulieren, distanziert, skeptisch bis ablehnend gegenüber. Dies gilt umso mehr, wenn damit als Schuldzuweisung empfundene Kritik verbunden ist, die sich auf Sachverhalte bezieht, denen Mehrheiten oder große Minderheiten indifferent begegnen. Und erst recht, wenn ihnen diese als relativ unproblematisch erscheinen oder im Widerspruch zu ihrem Selbstverständnis, ihren Alltagserfahrungen und ihren Lebensgewohnheiten stehen (beispielsweise antifaschistisches Engagement, Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Alltagsrassismus; in jüngster Zeit verstärkt der Klima- und Umweltaktivismus). Eine ostentative politische Repräsentation vermeintlicher „Minderheiteninteressen“ oder „Sonderanliegen“, die ein Grundanliegen und normatives Ideal des politischen Systems der Bundesrepublik beziehungsweise der freiheitlich-demokratischen Grundordung (FDGO) darstellt, wird in diesem Sinne eher misstrauisch beäugt und unter den Verdacht fehlgeleiteter Prioritätensetzung, einer übersteigerten „ideologischen Identitätspolitik“ respektive des Lobbyismus gestellt. Mit dem Verweis auf die Gemeinwohlorientierung werden entsprechende Vertretungsansprüche häufig als partikularistisch, unsolidarisch, ungerecht und illegitim zurückgewiesen.
Eine deutliche Mehrheit der Befragten in entsprechenden demoskopischen Untersuchungen stimmt der Aussage zu, es solle „wieder mehr Politik für die Mehrheit gemacht werden, anstatt sich um Minderheiten zu kümmern.“ Auch die im Osten mittlerweile virale Rede vom Westimport „abgehobener, ideologischer Eliten-Projekte“ und einer damit verbundenen „Political Correctness“ rühren in entscheidendem Maße daher. Insbesondere im Zusammenhang mit Fragen der Multikulturalisierung und des Wertewandels, die markant an Bedeutung gewonnen und die Bedürfnisse der Bevölkerung nach Sicherheit und Orientierung verstärkt haben, spannt sich ein Bogen zu den Phänomenen des Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Ostdeutschland.
Verbreiteter Struktur- und Wertekonservatismus
Die vehemente, auch aggressive Abwehr sozialer und kultureller Veränderungen ist Symptom eines pragmatischen Struktur- und Wertekonservatismus, der aufgrund charakteristischer ostdeutscher Erfahrungen reproduziert und unter dem Eindruck des „doppelten Transformationsschocks“ aktualisiert wurde. Ausdruck dieser Einstellungen ist auch die „Protest“- oder „Denkzettel“-Wahl rechtsradikaler und rechtsextremistischer Parteien, die nicht nur als probates Mittel im Rahmen des demokratischen Willensbildungsprozesses erachtet wird, sondern zusätzlich durch die Opfer-, Notwehr- und Exkulpationsnarrative dieser Parteien genährt wird. Demnach sei gerade die ostdeutsche Bevölkerung aufgrund ihrer historischen Kollektiverfahrungen mit ihren Kontinuitäten und Brüchen in besonderer Weise dazu legitimiert, die für gesellschaftliche Missstände und politische Fehlentwicklungen verantwortlich gemachten Eliten abzustrafen oder auszuwechseln – und dabei auch zu drastischen, revolutionären Mitteln zu greifen.
Die viel diskutierte „Repräsentationslücke“, die zum Beispiel nach Einschätzung von Werner J. Patzelt (2018) durch die AfD geschlossen wird, kann in Ostdeutschland meines Erachtens jedoch nicht auf die vermeintliche „Sozialdemokratisierung“ beziehungsweise einen „Linksruck“ der CDU (in Sachen Wehrpflicht, Atomkraft, der sogenannten „Homoehe“ und so weiter) zurückgeführt werden, sondern im Gegenteil auf die Adressierung des bis heute unvollendeten sozialdemokratischen Projektes der bundesrepublikanischen Wohlstandsdemokratie, dessen ambivalente Bilanz für Ostdeutschland mit der Aktivierung ethnozentrischer und wohlfahrtschauvinistischer Ressentiments einhergeht. Der Sozialpopulismus der Ost-AfD mit ihren Mottos „Vollende die Wende“ und „Wende 2.0“ knüpft hier an. Gerade der Schachzug jener rechtsradikalen und rechtsextremistischen Propaganda, die heutigen demokratischen Eliten oder auch das „System“ als Wiedergänger der DDR-Diktatur zu diffamieren, und die damit einhergehenden partiellen Mobilisierungserfolge (vor allem in konservativen Sozialmilieus) verweisen auf charakteristische Demokratiedefizite in Ostdeutschland.
Die DDR war – trotz ihres gesellschaftsvisionären Anspruchs, ihrer sozialreformerischen Projekte und der staatlichen Versuche, Sozialstrukturentwicklung planhaft zu steuern – bis zu ihrem Untergang (und gewissermaßen darüber hinaus) nicht nur eine „arbeiterliche Gesellschaft“ (Engler 1999), in der wenig Raum für die Verankerung und Entfaltung liberaler und postmaterialistischer Werte bestand, sondern sie war auch maßgeblich durch kleinbürgerliche und traditionalistische Sozialmilieus geprägt. Aus diesen Milieus speiste und reproduzierte sich die sogenannte „sozialistische Dienstklasse“ der staatlichen Angestellten, Kader und Funktionär*innen und damit auch ein Großteil der späteren Repräsentations-, Funktions- und Deutungseliten beziehungsweise -subeliten der ostdeutschen Nachwendegesellschaft. Kleinbürgerliche Wert- und Normvorstellungen, deren Kontinuität bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht, ein spezifisches Verhältnis zu Obrigkeitsstaatlichkeit, „preußischen Tugenden“ und der in familialen Strukturen und Sozialisationsprozessen reproduzierte Autoritarismus, aber auch viele mentale Altlasten des Nationalsozialismus (wie Antisemitismus und Rassismus) wurden in der „eingefrorenen“ und „konfliktbefreiten“ Privat- und Nischengesellschaft der DDR konserviert, während sie in der Bundesrepublik unter anderem mit der von den „Achtundsechzigern“ angestoßenen öffentlichen Auseinandersetzung nach und nach hinterfragt worden und in Bewegung geraten waren. Dazu gehörten die naturalisierten Vorstellungen von „Volk“, „Nation“ und „Heimat“, an die auch die offizielle Geschichtspolitik und Traditionspflege des SED-Regimes mit ihren Gründungs- und Legitimationsmythen anschloss.
Während die DDR-Staatsideologie nach 1989 insgesamt als delegitimiert und obsolet galt, wurden einige der hier benannten, teilweise höchst problematischen Kontinuitäten und Tradierungen kaum thematisiert, allzumal sie – anders als die marxistisch-leninistische Doktrin – im Sinne „gesamtdeutscher Gemeinsamkeiten“ gerade aus konservativer Perspektive als Ausweis einer vorteilhaften Kompatibilität wahrgenommen werden konnten. Schließlich ging es ja um ein nationales Einheitsprojekt, das von Pathos getragen, mit Symbolik angereichert wurde, ritualisierte kollektive Praktiken (wie das Schwenken der Deutschlandfahne) einschloss und dabei auf große Popularität stieß. Einige Zeit mokierten sich nur „Altlinke“ und freuten sich „Linksradikale“ und Neonazi-Aktivist*innen aus dem Westen darüber, dass nicht wenige Ostdeutsche offenbar „noch nationaler“ orientiert waren als ihre „amerikanisierten Brüder und Schwestern“ im Westen. Die DDR war eine ethno-kulturell äußerst homogene Gesellschaft, die bei allen Zwängen und Missständen doch Orientierung und Sicherheit gewährleistete (zum Beispiel eine vermeintlich in geringerem Umfang auftretende Kriminalität und auch. deren öffentliche Nichtthematisierung, die bis heute nachwirkt). Damit verbundene normative Vorstellungen wurden in Ostdeutschland auch später konserviert, zumal die entsprechenden sozialstrukturellen und demografischen Kontextbedingungen über lange Zeit fortbestanden.
Ethnokratisches Demokratieverständnis
Anders als in den westlichen Bundesländern wird in beträchtlichen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung offenbar ein ethnokratisches Demokratieverständnis gepflegt, das gesellschaftliche sowie politische Teilhabe direkt an die sozio-kulturelle Kollektividentität einer Mehrheitsgesellschaft knüpft. Diese begreift sich in erster Linie als Abstammungs- und historische Schicksalsgemeinschaft und korrespondiert daher mit der Exklusion beziehungsweise rechtlichen Ungleichbehandlung von ethnischen, kulturellen und sozialen „Fremdgruppen“. Die empirische Sozial- und Politikforschung ist aktuell dazu aufgerufen, hierzu aussagekräftige und differenzierte Befunde zu generieren. Die (mittlerweile intergenerationale) Entwicklung des Rechtextremismus in Ostdeutschland, die Befürwortung von Privilegien gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund und Rassismuserfahrung, entsprechende soziale Praktiken der Diskriminierung sowie die in Ostdeutschland stärker anschlussfähigen „kontroversen Debattenbeiträge“ der sogenannten „Neuen Rechten“ zu nationaler Identität, Erinnerungspolitik und Geschichtsbildern müssen vor diesem Hintergrund beurteilt werden. Monokausale sozioökonomische Erklärungen für antidemokratische Tendenzen in Ostdeutschland sind indessen zurückzuweisen; nicht zuletzt widersprechen sie klar den Befunden der jüngeren und aktuellen sozialwissenschaftlichen Forschung.