Die Beseitigung der sichtbaren Umweltverschmutzungen in Ostdeutschland stellt sicher eine der größten Errungenschaften nach der Vereinigung 1990 dar. Dabei überrascht, wie schnell das Thema Umweltschutz, das 1989 als Katalysator für friedliche Proteste gegen ein mit diesen Problemen überfordertes Staatswesen geradezu allgegenwärtig war, in Ostdeutschland bereits wenige Jahre, nachdem die SED-Herrschaft beseitigt war, verschwunden ist. Denn mit der DDR sind ja die in ihr entstandenen Umweltprobleme keineswegs verschwunden. Eher sind neue ökologische Problemlagen nach 1990 in Deutschland hinzugekommen und gewachsen, im Osten und Westen, wie in diesem Sommer eindrücklich zu beobachten war. Und dennoch hat das Thema Umweltschutz, anders als in Westdeutschland, nach 1990 stetig an Bedeutung verloren.
In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, welche Faktoren das Verschwinden des Themas Umweltschutz begünstigten. Zugleich möchte er ergründen, welche ostdeutschen Mentalitäten sich hinsichtlich des Umweltschutzes bis heute bewahrt und konserviert haben und was in der Bundesrepublik daraus gelernt werden kann, einem Land, das als führende Mittelmacht in der Weltumwelt- und Weltklimapolitik gerade immer wichtiger wird.
Umweltschutz vor, während und nach der friedlichen Revolution 1989/90
Die Umweltproteste in der DDR Ende der 1980er Jahre waren immer auch politische Proteste. Vielleicht waren sie sogar mehr als nur „auch“ politische Proteste. Möglicherweise waren sie in erster Linie politische Aktionen und Botschaften. Der Umweltschutz bot lediglich eine starke Reibungsfläche, denn die Lage des Umweltschutzes in der DDR schien Ende der 1980er Jahre so desolat wie aussichtslos. Um es plastisch zu illustrieren: Václav Havel und die in der Charta 77 veröffentlichten Forderungen der tschechischen Bürgerrechtsbewegung wie das Recht auf freie Meinungsäußerung standen den Protagonisten der Umwelt-Bibliothek der Zionsgemeinde in Berlin-Mitte wahrscheinlich näher als der Wald im Erzgebirge.
Alle Erfolge des Umweltschutzes in der Bundesrepublik werden auch der Umweltbewegung, den Bürgerinitiativen, Umweltverbänden und Bürger*innen, die sich stetig, zumeist altruistisch und vehement für Umweltfragen engagieren, zugeschrieben. Ohne eine starke Anti-AKW-Bewegung wäre der deutsche Atomausstieg undenkbar. Bislang gibt es keine Untersuchungen, ab wann man von einer Umweltbewegung in der DDR sprechen kann. Bis 1990 waren die Umweltengagierten immer in erster Linie Teil der DDR-Bürger- und Oppositionsbewegung. Noch 1993 sprach Christof Tannert, Mit-Gründer des Berliner Unabhängigen Instituts für Umweltfragen (UfU) von „DDR-Bürgerbewegung“ (Tannert 1994). Carlo Jordan und Hans Michael Kloth, bekannt als Aktivisten der Berliner Umwelt-Bibliothek und später des Umweltbundes Arche verwenden in ihrer Studie zur Arche Nova 1995 im Wesentlichen als Nukleus der Herkunft den Begriff der „Oppositionellen“ (Jordan/Kloth 1995). Auch Stefan Wolle stellte die
Von DDR-Umweltbewegung oder ostdeutscher Umweltbewegung ist daher rückblickend eigentlich erst lange nach 1990 die Rede, um die mittlerweile in Ostdeutschland agierenden vielfältigen Umweltgruppen unter diesem Begriff zu subsummieren und um zu verdeutlichen, dass es neben der Umweltbewegung in Westdeutschland auch in der DDR vergleichbare Aktivitäten gab. Und da in Ostdeutschland Umweltgruppen vor 1989 und vor allem während der friedlichen Revolution deutliche politische Akzente setzten, trifft der Bewegungsbegriff ja auch auf die im Umweltschutz Aktiven in den neuen Ländern zu.
Allerdings verstanden sich in der DDR die Umweltbewegten nie nur als Umweltbewegte. Während der 1980er Jahre und auch während der friedlichen Revolution 1989/90 waren jedenfalls die Verflechtungen zwischen Umwelt-, Frauen- und Friedensgruppen fließend, wie allein die Besetzung des Hauses der Demokratie in Berlin-Mitte verdeutlicht: Neben dem Neuen Forum, Demokratie Jetzt, der Initiative für Frieden und Menschenrechte, dem Demokratischen Aufbruch sowie der Vereinigten Linken, die entweder später zu Parteien wurden oder in Parteien aufgingen, beherbergte es auch den Unabhängigen Frauenverband, die Grüne Liga sowie das Unabhängige Institut für Umweltfragen (UfU). Die beiden Letzteren sind noch heute dort ansässig.
Sauberere Umwelt durch Wirtschaftszusammenbruch, aber fehlender Strukturwandel
Neben den institutionellen und organisationsspezifischen Besonderheiten in Ostdeutschland, auf die ich noch zu sprechen komme, interessieren aber zunächst die Gründe, warum nach 1990 das Thema Umweltschutz so schnell zu einer Erfolgsstory avancierte. Der Umweltschutz, bis 1989 vor allem ein Thema der DDR-Opposition, wurde nach der Unterzeichnung des Einigungsvertrages zu einem Verantwortungsbereich der Bundesregierung. In Art. 34 Abs. 1 des Einigungsvertrages wurde das Ziel festgelegt, „die Einheitlichkeit der ökologischen Lebensverhältnisse auf hohem, mindestens jedoch dem in der Bundesrepublik Deutschland erreichten Niveau zu fördern“. Der damalige Bundesumweltminister Klaus Töpfer formulierte unter dem Titel „Eckwerte für die ökologische Sanierung und Entwicklung in den neuen Ländern“ die Absicht, „bis zum Jahr 2000 gleiche Umweltbedingungen auf hohem Niveau in ganz Deutschland zu schaffen […]“.
Die entsprechenden finanziellen Transfers für die Sanierung ökologischer Altlasten wurden in der Folge bereitgestellt. Ausgesprochen positiv wirkte sich ab 1990 natürlich auch aus, dass mit dem Zusammenbruch der maroden DDR-Volkswirtschaft weder neue Emissionen in die Luft noch schadstoffbelastete Einleitungen in die Flüsse erfolgten. Damit lösten sich die Umweltschutzprobleme, verursacht durch die Industrie, teilweise von selbst. Daher sprach man in diesem Zusammenhang wohl auch zurecht von „Gratiseffekten“, die zu einer relativ schnellen Erholung der Umwelt auf dem Gebiet der DDR führten. Die Umweltsituation in Ostdeutschland verbesserte sich daher nach 1990 in fast allen Bereichen rasch und deutlich. Bereits 1991 wurde auf dem ehemaligen Gebiet der DDR nur noch halb so viel Staub freigesetzt wie 1980. Die Schwefeldioxid-Emissionen waren 1991 im Vergleich zu 1980 schon um etwa ein Fünftel zurückgegangen.
Für einen grundlegenden ökologischen Strukturwandel der Wirtschaft in Ostdeutschland, für ein ökologisches Umbauprogramm mit Modellcharakter und Ausstrahlung, gab es vor, während und nach der friedlichen Revolution keine ausreichenden Konzepte oder Ideen ostdeutscher Prägung. Zu schnell kamen die politischen Veränderungen, zu unmittelbar waren die Anforderungen für die neuen Gruppen und Initiativen, sich während der Wendezeit zu etablieren. So überrascht es auch nicht, dass der erste Vorstoß, Strategien für den ökologischen Umbau der DDR zu entwickeln, bereits 1990 von einem damaligen Westberliner Think Tank, dem Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) stammte. Aber auch die Autoren der Studie „Umweltreport DDR“ kamen zu der Erkenntnis: „Allerdings besteht das Problem darin, dass glaubhafte ‚funktionierende‘ und umsetzbare Modelle des ökologischen Umbaus von industriellen Strukturen in Teilräumen eines Staates, zudem durch staatliche Mittel finanziert, nicht existieren.“ (Umweltreport DDR, 1990)
Für einen grundlegenden ökologischen Neuanfang der Volkswirtschaft nach 1990 fehlte in Ostdeutschland ganz einfach die personelle, finanzielle und strukturelle Basis. Die ostdeutsche Bevölkerung verweigerte sich „Experimenten“. Sie setzte mehrheitlich auf Bewährtes. Zudem gab es keinen Willen der Verantwortlichen auf westdeutscher Seite, in Ostdeutschland eine nachhaltige und ökologische Volkswirtschaft zu etablieren. Obwohl bereits 1992 in Rio in Brasilien der erste Umweltgipfel mit für damalige Verhältnisse weitreichenden Beschlüssen stattfand, wurden diese auf Ostdeutschland nicht strukturell angewandt. Es ging in Ostdeutschland nach 1990 zuerst einmal um das „Aufräumen“ und „Saubermachen“ statt um die Frage einer grundlegend nachhaltigen und grünen gesellschaftlichen Produktionsweise.
Die Hoheit über das Thema Umweltschutz kam nach 1990 in Ostdeutschland der Verwaltung und dem neu geschaffenen, staatlich finanzierten Wissenschaftsbereich zu. Wer nach 1990 in Ostdeutschland im Umweltschutz weiter mitmischen wollte, musste sich mit Gesetzen und rechtlichen Regelungen auskennen. Noch im Dezember 1990 wurden die Rechte der Ostdeutschen beim Bau der Verkehrsinfrastruktur ausgehebelt, ohne dass es zu Protesten gekommen war. Zu groß war seinerzeit der Nachholbedarf im Infrastrukturbereich, als dass die neuen ökologischen Fragestellungen überhaupt hätten wahrgenommen werden können. Obgleich Mündigkeit und das Recht auf Selbstbestimmung wesentliche Forderungen der DDR-Opposition gegenüber dem Staat DDR waren, dauerte es einige Zeit, bis auch gegen die Bundesrepublik zaghaft Forderungen nach mehr und besserer Mitsprache gestellt wurden. Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil die Ostdeutschen flächendeckend im schmalen Zeitkorridor zwischen Oktober 1989 und Sommer 1990 mannigfache Erfahrungen an Runden Tischen oder in anderen Gesprächsforen sammelten und in puncto Partizipation den Westdeutschen einiges voraushatten.
Dieser Erfahrungsschatz, das wurde nach 1990 schnell deutlich, spielte nach Übertragung aller rechtlicher Vorgaben der Bundesrepublik auf den Osten im Zuge des Einigungsvertrages aber keine Rolle mehr. Es gab auch keinerlei Versuche, ihn in die neuen Formen der Mitsprache, wie es in der Bundesrepublik üblich war, zum Beispiel bei Planungsentscheidungen einzubringen. In Ostdeutschland wurden die durch das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz 1990 und durch weitere Deregulierungsgesetze gestutzten Rechte von Bürger*innen und Umweltschützer*innen als reine Informationsrechte und nicht mehr als Beteiligungsmöglichkeiten ausgestaltet. Das erzeugte bei den wenigen noch verbliebenen Umweltschützern eine Art Desillusionierung gegenüber dem neuen Rechtsstaat, der wesentlich weniger an Rechten zuließ als während der friedlichen Revolution 1989/90 in Ostdeutschland wahrgenommen und genutzt wurde.
Wenig umweltengagierte Zivilgesellschaft
Neben dem Fehlen ökologischer Konzepte für einen grundlegenden Umbau der ostdeutschen Volkswirtschaft gelang es nach 1990 auch nicht, eine umweltengagierte Zivilgesellschaft, die in Westdeutschland als Nährboden und Antreiber für ökologische Themen in der Gesellschaft vorhanden war, in gleicher Weise und Wirkmächtigkeit in Ostdeutschland zu etablieren. Waren zu Zeiten der DDR 50.000 bis 60.000 ehrenamtliche Mitglieder in der Gesellschaft für Natur- und Umweltschutz sowie Umweltengagierte in vielen oppositionellen Zirkeln, Gruppen und kirchlichen Netzwerken aktiv, mussten in den 1990er Jahren die neuen Vereine und Institute mit rasch abnehmenden oder gänzlich neuen und unerfahrenen Mitstreiter*innen zurechtkommen. So konnte eine, ähnlich den westlichen Bundesländern, schlagkräftige Zivilgesellschaft im Umweltschutz in Ostdeutschland trotz der deutlichen Entwicklungsschübe nach 2010, bis heute nur teilweise etabliert werden.
Hinzu kam, dass der großzügige Aufbau außeruniversitärer umweltwissenschaftlicher Forschung in Ostdeutschland nach 1990 den Eindruck erweckte, die Zivilgesellschaft würde bei der Beseitigung der Umweltschäden nicht mehr gebraucht werden. Es ist historisch ziemlich beeindruckend, welche Dichte an neuen staatlichen Umweltforschungseinrichtungen, häufig als sogenannte Blaue Liste Institute bezeichnet, in Ostdeutschland nach 1990 entstanden sind. In Leipzig, Halle und Magdeburg wurde das Umweltforschungszentrum (UFZ) gegründet, in Dresden das Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR). Hinzu kam in Brandenburg das Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner bei Berlin. Später kamen das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) hinzu. In Berlin wurde zudem das frühere Ost-Berliner Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) in die Leibniz-Gemeinschaft überführt. An den Universitäten und Hochschulen in Ostdeutschland wurden außerdem Fachrichtungen mit speziellen Umweltthemen, wie etwa in Zittau, Cottbus, Dresden, Rostock oder an Fachhochschulen wie Bernburg und Köthen in Sachsen-Anhalt oder Eberswalde im Land Brandenburg geschaffen.
So stellten in Ostdeutschland nach und nach bis auf das UfU alle während der Wendezeit gegründeten gemeinnützigen kleineren Umweltinstitute als Teil der Bürger- und Umweltbewegung ihre Tätigkeit weitgehend ein. Denn mit den großzügig ausgestatteten, grundständig geförderten und mehrere 100 Mitarbeiter*innen umfassenden staatlichen Einrichtungen der Blauen Liste konnten die auf Eigenständigkeit gründenden ostdeutschen Eigengewächse nicht konkurrieren. Auch das UfU e.V. in Halle und Berlin überlebte nur durch eine Abkehr von ursprünglichen Prinzipien und setzte in den frühen 1990er Jahren auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) als Überlebensstrategie und Finanzierungsquelle.
Ähnlich erging es der Grünen Liga, dem originären ostdeutschen Umweltverband und nach eigenem Verständnis „Netzwerk ökologischer Bewegungen“. Während beispielsweise die westdeutschen Umweltverbände Naturschutzbund (NABU) und BUND ihren ostdeutschen Umweltverbänden in den damals neuen Ländern über einen Finanzausgleich jahrelang eine gewisse Starthilfe geben konnten, musste die Grüne Liga ohne eine solche Unterstützung auskommen. Die anfangs beabsichtigte Ausdehnung der Grünen Liga auf Westdeutschland war so völlig illusorisch. Später mussten sogar einzelne Landesverbände ganz oder zeitweise aufgeben, wie in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen-Anhalt. Der Bundesverband der Grünen Liga, beim NABU und beim BUND eine wirkmächtige und inzwischen jeweils mit mehreren Hundert Mitarbeitern vergleichsweise gut ausgestattete Organisation, konnte nie mit mehr als einer Handvoll Mitarbeiter*innen, ab Ende der 1990er Jahre sogar mit nur einer hauptamtlichen Mitarbeiterin, disponieren. Unter derartigen Rahmenbedingungen war jedoch weder personell noch strukturell ein Anknüpfen an die Tätigkeit während der Wendezeit möglich. Auch konnte man sich so kaum zu einer machtvollen Stimme im Deutschland der 1990er Jahre und danach entwickeln.
Was sind ostdeutsche Erfahrungen und Prägungen?
Umweltschutz wurde also in Ostdeutschland ab 1990 mehr und mehr ein Thema für Expert*innen und Spezialist*innen. Die breite Verankerung in der Gesellschaft, die es zumindest kurzzeitig 1990 gab, ebbte allmählich ab. Andere Themen, allen voran der tief greifende Strukturwandel und Arbeitsplatzfragen wurden wichtiger. Hinzu kam, mit den schnellen Erfolgen im Umweltschutz, die sich im Wesentlichen die Bundesregierung und die Landesregierungen der neuen Länder zurechneten, wurde das Thema noch stärker aus dem Bewusstsein der ostdeutschen Bevölkerung gedrängt. Insofern fehlte es auch in Ostdeutschland aus milieuspezifischer Hinsicht an sichtbaren Bedürfnissen für eine Stärkung der Umweltbewegung Ost. „Das Grummeln“,wie es der Philosoph und Systemkritiker Rudolf Bahro einmal nannte, welches um 1990 mit dem „Nicht mehr weiter so“ als übergreifender, „gefühlter“ Konsens quer durch das Volk vorhanden war, wich dem Einverständnis, „Wir brauchen (lieber) Arbeit“. Damit sagte man zugleich, „und koste es uns auch die Umwelt“.
Denn wie es Hans-Joachim Borner, ein bekannter ostdeutscher Umweltpionier bereits 1992 ausdrückte, fand in Ostdeutschland im Wesentlichen nur eine Verlagerung von „traditionellen“ zu „modernen“ Schadstoffen statt. Die Schadstoffe wechselten, wurden weniger, aber auch besser und „unsichtbarer“ verteilt. Die vordergründigen Rauchfahnen aus Schornsteinen und Schloten verschwanden ebenso wie die drastischen Einleitungen in Flüsse und Bäche. Die neuen unsichtbaren Schadstoffe aber waren alles andere als ungefährlich. Feinstäube, Formaldehyde, Pflanzenschutzmittel oder Mikroplastik hatten den Nachteil, durch westdeutsche Genehmigungs- und Zertifizierungsprozesse gegangen zu sein. Und daher interessierte sich die Öffentlichkeit in Ostdeutschland nach zig Jahren Dreck und Ruß zunächst nicht sonderlich für diese Art von Umweltbelastungen. Zum anderen hätte es einer ganz anderen Art von Expertise der Umweltgruppen in Ostdeutschland bedurft als noch Ende der 1980er Jahre. Ein Umweltinformationsgesetz gab es auch im Osten Deutschlands seit 1994. Aber die Expertise, was die vielen Stoffe, die in der Industrie und in Haushalten Verwendung fanden, in der Umwelt und im Menschen anrichteten, die hatten die ostdeutschen Umweltschützerinnen und Umweltschützer meist nicht.
Ein weiterer Aspekt betrifft die geänderten Rahmenbedingungen. Der Einfluss der Umweltgruppen in der DDR entsprach nie ihrer quantitativen Größe. Die Zahl der umweltpolitisch aktiven Umweltschützer*innen war in der DDR verschwindend gering. Die Zahl der 50.000 bis 60.000 Ehrenamtlichen der Gesellschaft für Natur- und Umweltschutz war zwar beachtlich. Dies umfasste aber eine nicht unbeträchtliche Zahl tatsächlich nur am praktischen Naturschutz Interessierter. Dabei ging es vielen in der DDR eher darum, endlich ohne ideologischen Ballast Freizeit sinnvoll nutzen zu können, als das System zu stürzen. Und die wenigen umweltpolitisch aktiven Umweltschützer arbeiteten eher konspirativ und in der Logik und mit Nutzung der westlichen Medien. Fähigkeiten dieser Art waren nach 1989/90 weder erforderlich noch nützlich. Nunmehr ging es um Fundraising, Selbstdarstellung, Zielgruppen. Es ging um Strukturen, Organisationen, Mitglieder und Apparate, ohne die man in der Realpolitik auch im Umweltschutz der Bundesrepublik keine Chance hat. Die Grüne Liga hat sich dieser Art der Logik immer stark verweigert. Auch daher ist sie heute noch weit davon entfernt, eine wirkmächtige Organisation zu sein. Außerdem gab es durch die Neugründungen oder Ausdehnung westdeutscher Einrichtungen auf Ostdeutschland einen Sog, dem auch profilierte Personen der Umweltbewegung Ost folgten. Zudem wechselten einige der Engagierten nach der Wende in politische beziehungsweise administrative Ämter oder orientierten sich beruflich völlig neu.
Dadurch wiegt das Versäumnis, spezifisch ostdeutsche Erfahrungen, Einsichten, Werte und Vorstellungen aus vielen Jahren Arbeit am und mit dem Thema Umweltschutz nicht in eine gemeinsame bundesdeutsche Gesellschaft eingebracht zu haben, immer noch nach. Als 1998 das stark beachtete Konzept Zukunftsfähiges Deutschland, ein intensiv diskutiertes Manifest der ökologischen Wende, unter anderem vom BUND vorgelegt wurde, gab es auf die Frage „Wie wollen wir künftig leben?“ in erster Linie „westdeutsche“ Antworten. Aber Ökologen in Ost und West hatten dieser Gesellschaft lange Jahre den Spiegel für Fehlentwicklungen, die beiden Gesellschaftssystemen immanent sind, vorgehalten und Ansätze für neue Wege ausprobiert. Die stärkere Risikobereitschaft von vielen Menschen im Osten nach 1990, ganz grundsätzlich über neue gesellschaftliche Möglichkeiten des Zusammenlebens nachzudenken, blieb hier genauso unberücksichtigt wie die Erfahrungen aus den 1980er Jahren in der DDR. So stellte bereits 1993 Karl-Hermann Hübler, als (West-)Berliner Professor mit einer besonderen Nähe zum Wiedervereinigungsprozess, ernüchtert fest: „Auf die Erwartungen und Überlegungen jener, die sich für einen Wechsel der politischen Verhältnisse in der ehemaligen DDR engagiert hatten und die eben Umweltpolitik und -schutz anders machen wollten als nur die begrenzt erfolgreiche westdeutsche Umweltpolitik fortzusetzen, wurde nicht eingegangen, sondern die End-of-the-pipe-Politik fand unmittelbaren Einzug in den damals sich bildenden Ländern mit der beinahe naiven Vorstellung, dass mit den Milliardentransfers von Haushaltsmitteln für Umweltreparaturen diese ökologische Einheit herstellbar sei.“(Hübler 1993)
Lernschleifen und kurzer Ausblick
Die ostdeutschen Werte, Eigenschaften, Traditionen und Herangehensweisen, die lange die eigene Art des Umgangs mit ökologischen Fragen bestimmte, sind vielfältig. Da gibt es „das Prinzip Einmischung“ (Tannert 1993), eng verwandt mit dem Thema Mündigkeit (Piechocki 1990) als zwei Kernprinzipien modern verstandener Umweltarbeit. Nur der aufgeklärte, sich seiner Rechte und Pflichten bewusste Mensch kann wirksam beitragen, die aus den Fugen geratene „Megamaschine“ umzuleiten oder zu stoppen. Überhaupt hat der ostdeutsche Umweltschutz immer schon einen starken Bezug zu gesellschaftspolitischen Ansätzen und Konzepten besessen (Bahro 1995, Land 1992, Hosang 1995). Zugleich ist ostdeutschen Umweltschützern – vielleicht gerade durch die Erfahrung nach 1989/90 – auch der Blick geblieben für das Einfache, das Machbare. Hans-Peter Gensichen, bis 2003 Leiter des Kirchlichen Forschungsheims in Wittenberg und einer der prägenden Figuren der Umweltbewegung der 1980er Jahre in der DDR sowie danach in der Phase der 1990er Jahre, beschrieb es in einem Interview wie folgt: „Also es kommt etwas von Leuten, die sich da eigentlich nicht für zuständig halten, und die schließlich effektiver und umweltfreundlicher leben als manche wohlhabenden Umweltschützer oder Globalisierungsgegner. Das ist schon erstaunlich. Aber keiner staunt, weil keiner hinguckt und also keiner merkt, dass so was gerade anfängt.“ (Gensichen 2005)
War es noch Anfang der 1990 er Jahre verbandsübergreifender Konsens in den Umweltgruppen in Ostdeutschland, Alternativen zur Konsumlastigkeit der kapitalistischen Gesellschaft zu entwickeln und entsprechende Angebote an die Gesellschaft zu vermitteln, geht den Umweltengagierten mit den auf maximal für zwei oder drei Jahre angelegten Projekttätigkeiten der Blick für übergreifende Fragestellungen zunehmend verloren. Unterliegt die Umweltgruppe oder der Umweltverein dann noch einer Mitarbeiterfluktuation, gibt es wenig Möglichkeiten, sich auf eine gemeinsame Wertebasis zu verständigen; beziehungsweise wird diese schlicht nicht hergestellt. Dabei ist den ostdeutschen Umweltbewegten aufgrund der erlebten Brüche, Anpassungen und Improvisationen vieles schon deutlicher und klarer als Kolleg*innen in Westdeutschland. Hans-Peter Gensichen hat es hinsichtlich der ostdeutschen Kanzlerin 2005 auf den Punkt gebracht: „Wenn die Bundeskanzlerin in ihrer Neujahrsansprache sagt, es sei eine ‚einfache Weisheit‘, dass Wirtschaftswachstum Arbeit schaffe. Das ist Zynismus pur. Wenn die rote Lampe der Fernsehkamera ausgeschaltet wird, lacht Merkel doch selbst darüber.“
Zitierweise: Michael Zschiesche, "Verpasste Chancen in der Umweltpolitik - Der Topos Umweltschutz und das weitgehende Verschwinden des spezifisch Ostdeutschen in Deutschland", in: Deutschland Archiv, 06.08.2021, Link: www.bpb.de/337886.
Der Text ist dem Band entnommen „(Ost)Deutschlands Weg. 80 Studien & Essays zur Lage des Landes", herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, der seit 1. Juli 2021 im
Verwendete Literatur
Bahro, Rudolf: Auch die mittleren Strategien reichen nicht in den Grund, in: Michael Zschiesche (Hg.), „Alles wird besser, nichts wird gut“. Wege zur ökologischen Wende, Berlin 1995, S. 213f
Behrens, Hermann und Jens Hoffmann: Umweltschutz in der DDR, Bd. 1-3, München 2007
BUND/Misereor: Zukunftsfähiges Deutschland, Basel/Boston/Berlin 1996.
Gensichen, Hans Peter: Im Gespräch, in: UfU Zeitschrift 59 (2005) 2, S. 38f.
Hosang, Maik: Lebensgut Pommritz als spezielle zivilgesellschaftliche Ausprägung von gesellschaftlichen Experimenten, in: UfU Zeitschrift 59 (2005) 2, S. 22f
Hübler, Karl-Hermann und Hans-Jürgen Cassens: Naturschutz in den neuen Bundesländern, Taunusstein 1993, S. 173f.
Jordan, Carlo und Hans Michael Kloth (Hg.): Arche Nova. Opposition in der DDR. Das „Grün-ökologische Netzwerk Arche“ 1988-90, Berlin 1995, S. 7f.
Land, Rainer: Es gibt keine einfache Lösung, in: Werner Schulz und Ludger Vollmer (Hg.), Entwickeln statt abwickeln. Wirtschaftspolitische und ökologische Konzepte für die fünf neuen Länder, Berlin 1992, S. 79f.
Petschow, Ulrich; Jürgen Meyerhoff und Claus Thomasberger: Umweltreport DDR, Frankfurt a. M. 1990.
Piechocki, Reinhard: Staatlich verordnete Unwissenheit und Entmündigung beenden, in: Neuer Weg, 7./8.4.1990.
Tannert, Christof: Prinzip Einmischung, in: Positionen, Umweltplädoyers aus Ostdeutschland, Anmerkungen zu einem vernachlässigten Thema, Berlin/Halle 1994, S. 7.