Sharon Adler: Wann, wodurch und mit welchem Anspruch hast Du Dich dazu entschlossen, Kunsttherapie zu studieren und Kunsttherapeutin zu werden? Welche Aspekte waren Dir besonders wichtig? Und wie kamst Du zu Omanut
Judith Tarazi: Schon immer haben mich Kunst und Psychologie fasziniert. Mein Traum war, Psychologie zu studieren, aber mein Abitur war zu schlecht und es reichte nur für Psychologie als Nebenfach. Also wurde ich nach einigen Irrungen Grafikerin, ein wunderschöner Beruf. Als meine Kinder größer waren, entschied ich mich dann zu einer Ausbildung als Kunsttherapeutin. Quasi einer Kombination aus beiden Welten. Über das Kunstatelier Omanut, das damals gerade gegründet worden war, habe ich in der Gemeindezeitung
Sharon Adler: "Omanut" ist Hebräisch und bedeutet "Kunst". In erster Linie werden im Kunstatelier Judaica-Erzeugnisse, Symbole und Gegenstände jüdischer Tradition und Kerzen gefertigt. Was kannst Du aus dem Alltag deiner Arbeit berichten? Was sind die Hauptsäulen deiner Arbeit?
Judith Tarazi: Ganz wichtig und darum zuallererst: Jede*r ist ein*e Künstler*in! Wir arbeiten wertfrei, es gibt kein schön oder hässlich, gut oder schlecht. Alles, was jemand schafft, ist Teil des persönlichen Ausdrucks und deshalb richtig. Das gilt natürlich vor allem für unser Malatelier, in dem Gemälde, Zeichnungen, Aquarelle, Einzel- und Gemeinschaftsarbeiten entstehen. Oder aber auch Mosaike. Die Kerzen- und Holzwerkstatt sind natürlich etwas handwerklicher ausgerichtet, aber auch hier ist Kreativität angesagt, und unsere Teilnehmer*innen überraschen uns immer wieder mit ihren Ideen.
Sharon Adler: Wohlfahrt nimmt einen großen Stellenwert im Judentum ein und hat eine lange Tradition im Judentum. Die Arbeit von Omanut basiert auf der Grundlage des jüdischen Wertefundaments von "Zedaka" (Hebräisch: "Gerechtigkeit“) und "Tikkun Olam" (Hebräisch: "Vervollkommnung der Welt") und steht in der Tradition der Wohlfahrt, der Fürsorge. Was bedeutet das für deine/eure Arbeit, für die Arbeit mit Menschen mit einer Behinderung?
Judith Tarazi: Das Prinzip der Zedaka finde ich einfach faszinierend. Nach dem Gelehrten Maimonides gibt es acht Stufen: "Mit Unfreundlichkeit geben" ist dabei die unterste Stufe. Danach folgen die Stufen "nicht ausreichend, aber mit Freundlichkeit geben"; "geben, nachdem man gebeten wird"; "geben, bevor man gebeten wird"; die vierte Stufe ist: "der Gebende kennt die Identität des Bedürftigen nicht, aber dieser kennt den Spender"; die dritte Stufe "der Wohltäter weiß, wem er gibt, aber der Bedürftige erfährt die Identität des Spenders nicht". Schließlich die zweithöchste Stufe, "wohltätig in einer Weise zu sein, in der der Spender und der Bedürftige nicht voneinander wissen", und als oberste, allerhöchste Stufe: "dem Bedürftigen die Möglichkeit geben, sich selbstständig zu ernähren", also Hilfe zur Selbsthilfe. Das Judentum hat quasi Empowerment erfunden!
Und auch das Prinzip von Tikkun Olam finde ich wunderbar: Die Welt zu einem besseren Ort gemacht zu haben, wenn man sie verlassen muss, ist so lebens- und zukunftsbejahend und auch hochaktuell!
Menschen zu befähigen, an unserer Gesellschaft teilzuhaben, ist ein ganz zentraler Punkt in unserer Arbeit und in den Beratungen. Eine inklusive Gesellschaft hat nichts mit gönnerhafter Fürsorge zu tun. Sie muss sich auch selbst hinterfragen und ändern, um allen Teilhabe zu ermöglichen. Die jüdischen Prinzipien drücken genau das aus.
Sharon Adler: Wer sind die Menschen, die Omanut betreut? Welches Spektrum der Erkrankungen haben die Menschen, die zu euch kommen?
Judith Tarazi: Wir betreuen eine sehr heterogene Gruppe: Menschen mit geistiger, psychischer, körperlicher Behinderung, mit chronischen Erkrankungen, Demenz. Diese Zusammensetzung ist sicher eher unüblich, funktioniert aber wirklich gut. Was alle vereint, ist natürlich die Affinität zum Judentum (es kommen auch nicht-jüdische Teilnehmer*innen zu uns), die Freude an Kreativität und an zugewandter Gemeinschaft. Wir sind im Atelier ja eine sehr gemischte Gruppe. Die jeweilige Behinderung unserer Teilnehmer*innen ist ja nur ein Teil ihrer Persönlichkeit. Wir konzentrieren uns nicht auf Diagnosen und Defizite, sondern auf das, was Freude macht, auf unsere Kreativität und Vielseitigkeit.
Die Situation zugewanderter Menschen mit einem Familienmitglied mit Behinderung. Integration durch Kunst
Sharon Adler: Viele der Menschen die ihr betreut, kommen aus der ehemaligen Sowjetunion. In vielen Fällen gab es für sie dort kaum Berührungspunkte mit gelebtem Judentum – wie war ihre Situation dort und welche besonderen Erfahrungen bringen sie mit?
Judith Tarazi: Seit Anfang der 1990er-Jahre begleitet die Zentralwohlfahrtsstelle
der Juden in Deutschland (ZWST)
Oft war dies eine Unterbringung von Geburt an bis zum Tod. Fast alle Kinder mit schweren Behinderungen verbrachten und verbringen ihr Leben in Heimen. Ein Kind zu Hause zu betreuen, war und ist mit großen finanziellen Belastungen verbunden, welche die meisten Familien nicht tragen können. Hinzu kommen die gesellschaftlichen Belastungen innerhalb einer Bevölkerung, die kaum über Behinderungen und deren Ursachen aufgeklärt ist. Schwer behinderte Menschen waren im sowjetischen Alltagsleben praktisch nicht präsent. Bis heute sind Kinder mit geistiger Behinderung vom Schulsystem ausgeschlossen und gelten als nicht "bildbar". Die Situation in vielen Heimen ist nach wie vor bedrückend, die Pflegekräfte sind überfordert und schlecht bezahlt. Es ist kein pädagogisches Personal vorhanden. Es gibt jedoch auch Fortschritte. Vor allem in größeren Städten entstehen unterschiedliche Initiativen auf privater oder staatlicher Basis, die versuchen, die Situation von Menschen mit geistigen Behinderungen zu verbessern.
Nun ist es ja nicht so, dass Deutschland ein Paradies für Menschen mit Behinderungen ist. Abgesehen von der in ihrer Grausamkeit unerreichten Ermordung von Menschen mit Behinderung während der Zeit des Nationalsozialismus tat man sich auch im Deutschland der Nachkriegszeit lange schwer mit Akzeptanz und Teilhabe. So wurden die während der NS-Zeit durchgeführten Zwangssterilisationen für Menschen mit Behinderungen zwar abgeschafft, aber erst 2007 als grundgesetzwidrig anerkannt.
In den 1960er-Jahren erwachte das Bewusstsein, dass es trotz Behinderung ein durchaus erfülltes Leben geben kann, und ein System der Sonderschulen, Werkstätten und Berufsförderungswerke für Menschen mit Behinderung entstand. Seit 2002 gibt es das Bundesgleichstellungsgesetz, 2008 unterzeichnete Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. Jedoch sind die Worte Teilhabe und Inklusion immer noch nicht im wahren Leben angekommen, und ein separates System von Behindertenwerkstätten und Förderschulen gehört bis heute zum Alltag.
Sharon Adler: Wie erlebten die Zuwandererfamilien mit Angehörigen mit Behinderungen den Wechsel nach Deutschland?
Judith Tarazi: Die jüdischen Zuwandererfamilien kamen Anfang der 1990er-Jahre in ein Land, in dem zumindest teilweise schon um die Gleichstellung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung gerungen wurde und diese auch bedingt sichtbar waren. Gerade die Familien mit erwachsenen behinderten Angehörigen haben sich sehr zurückhaltend verhalten. Sie blieben zumeist im Familienverband, was auch finanzielle Gründe haben konnte. Um 2009 herum begann die ZWST, sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen und versuchte, zunächst mäßig erfolgreich, kleinere Projekte wie Selbsthilfegruppen zu initiieren. Besser angenommen wurden organisierte Familienfreizeiten, welche die gesamte Familie umfassten und bei denen die "Kinder" nicht
Arbeiten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Kerzenwerkstatt im Kunstatelier Omanut (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Arbeiten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Kerzenwerkstatt im Kunstatelier Omanut (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
fremdbetreut werden mussten. Vor Ort wurden unterschiedliche Angebote für Eltern und "Kinder" gemacht, die Vorträge, künstlerische Arbeiten, Ausflüge und vieles mehr beinhalteten. In verschiedenen Städten entstanden Selbsthilfegruppen, künstlerisch orientierte Tagesbetreuungen und betreutes Einzelwohnen. Inzwischen gibt es ein Jugendprojekt, in dem Betreuer*innen der Freizeiten, welche die ZWST regelmäßig veranstaltet, zu Inklusionsbetreuer*innen ausgebildet werden, um Kinder mit Behinderungen zu ermöglichen, an den Freizeiten teilzunehmen.
Sharon Adler: Worin lagen die Herausforderungen für die Familien und für dich und deine Kolleg*innen der ZWST?
Judith Tarazi: Die Anfänge waren eine Herausforderung: Die in der Sowjetunion sozialisierten Eltern mussten teilweise behutsam mit der Idee vertraut gemacht werden, ihre Kinder in fremde Obhut zu geben. Viele Familien lebten (und leben) in sehr symbiotischen Beziehungen, bis heute gibt es große sprachliche Barrieren. Nur wenige der in erster Generation hierhergekommenen Menschen mit Behinderung führen ein selbstbestimmtes Leben im eigenen Wohn- und Arbeitsumfeld (aber es gibt sie natürlich auch). Ein Großteil der Kolleg*innen der ZWST kommt ebenfalls aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion, ist dort sozialisiert und hat die paternalistische, mitleids- und fürsorgeorientierte Sichtweise auf Menschen mit Behinderung internalisiert. Das Konzept der Arbeit von Menschen mit Behinderung ist immer noch stark geprägt von Mitleid, von der Sichtweise von Behinderung als Krankheit und Leid, von der Orientierung auf das Defizitäre. In Kombination mit der Sichtweise vieler Eltern, die zwischen Resignation, Leid, Verstecken oder übertriebener Förderung liegt, ist das für eine Arbeit, die von Teilhabe und Inklusion geprägt werden soll, eine herausfordernde Situation.
Ich gestehe, am Anfang meiner Arbeit in diesem Bereich habe ich mir mehr als einmal die Haare gerauft. Wir haben viel versucht: Fortbildungen und Supervision für die Mitarbeiter*innen (inzwischen mit Begeisterung angenommen). Während der Familienfreizeiten haben wir unsere künstlerisch geprägten täglichen Projekte unter dem Motto "Persönliche Zukunftsplanung" in intime Gesprächsrunden umgewandelt. Dieses in den USA entstandene Konzept soll es Menschen mit Behinderung ermöglichen, sich mit einem Kreis von Helfenden ein Bild von sich selbst, von Wünschen und Möglichkeiten für die Lebensbereiche Wohnen, Arbeiten und Freizeit zu finden. Wir haben die Materialien an unsere Zielgruppe angepasst und waren überrascht von den Vorstellungen und Wünschen der Teilnehmer*innen.
Sharon Adler: Wieviel Raum nehmen bei Omanut die jüdischen Feiertage ein?
Judith Tarazi: Das Atelier ist schon so etwas wie ein geschützter Raum. Jüdisch sein ist hier etwas Selbstverständliches. Wir begehen alle Feiertage gemeinsam, achten auf eine koschere Küche, damit sich wirklich jede*r wohlfühlen kann.
Sharon Adler: Wie kann – allgemein gesprochen – Kunst als Medium für Menschen mit Behinderung therapeutisch wirken? Welche Erfahrungen hast du in dem Kontext in der Betreuung von Menschen mit einer Beeinträchtigung gemacht?
Judith Tarazi: Wie schon gesagt: Jeder Mensch ist ein Künstler, eine Künstlerin. Das ist so ein bisschen unser Motto.
Ein Blick in das Kunstatelier Omanut. (© Sharon Adler/Pixelmeer 2021)
Ein Blick in das Kunstatelier Omanut. (© Sharon Adler/Pixelmeer 2021)
Viele Menschen sind, oft aufgrund negativer Erfahrungen in der Schulzeit, sehr scheu, was ihre künstlerischen Fähigkeiten anbelangt. Wir zeigen, dass Kunst nichts mit Perfektion zu tun hat, sondern mit deiner Persönlichkeit. Es gibt kein Richtig und Falsch, alles, was Du machst, ist gut! Es wird nichts bewertet. Wir haben tatsächlich schon erstaunliche Metamorphosen erlebt und sind immer wieder beglückt über Vielfalt und Kreativität unserer Künstler*innen.
Aber auch das Handwerkliche zeigt erstaunliche Wirkung. Kerzen herstellen ist ein komplexer Prozess, bei dem für jede*n etwas dabei ist, Mosaike erstellen ist sehr kontemplativ. Einerseits ist da der "Flow", also der Moment, in dem Du völlig in Deiner Tätigkeit aufgehst, andererseits dann auch noch ein Ergebnis: ein Bild, ein Mosaik, eine Kerze oder eine Holzarbeit.
Künstlerisches Arbeiten gibt Selbstvertrauen, Kraft und Glück, also fantastische Ressourcen. Und das ist auch unser Schwerpunkt. Denn obwohl wir zwei Kunsttherapeutinnen unter uns haben, arbeiten wir nicht im klassischen Sinne therapeutisch. Das wäre im Rahmen dieser heterogenen Gruppe eher schwierig aufzufangen.
Inklusion von Menschen mit Behinderungen
Sharon Adler: Neben dem Kunstatelier betreibt Omanut auch eine Galerie. Was wird ausgestellt, und was bedeutet es für die Teilnehmer*innen, ihre Werke öffentlich zeigen zu können?
Judith Tarazi: Die kleine Galerie bietet eine tolle
Die Künstler/-innen des Kunstateliers Omanut haben unter der Leitung der Künstlerin Shlomit Lehavi das Trickfilmprojekt „Wenn nicht noch höher“ realisiert. Neben dem entstandenen Film wurde eine Ausstellung mit Entwürfen, Making-of-Fotos und den Kulissen und Figuren in der Galerie Omanut präsentiert. (© Sharon Adler/Pixelmeer 2019)
Die Künstler/-innen des Kunstateliers Omanut haben unter der Leitung der Künstlerin Shlomit Lehavi das Trickfilmprojekt „Wenn nicht noch höher“ realisiert. Neben dem entstandenen Film wurde eine Ausstellung mit Entwürfen, Making-of-Fotos und den Kulissen und Figuren in der Galerie Omanut präsentiert. (© Sharon Adler/Pixelmeer 2019)
Möglichkeit für unsere Teilnehmer*innen, Wertschätzung zu erfahren, ihre Werke in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Wir sind aber auch offen für andere Künstler*innen, die im Kontext Judentum oder Behinderung arbeiten
Unser Atelier liegt ja eher versteckt im zweiten Stock eines Hauses. Ich finde es schön, dass die Galerie so sichtbar ist, auch ganz offen als "Jüdische Galerie Omanut". Im Kiez sind wir inzwischen gut eingebunden.
Ein Höhepunkt war die Vorstellung des Trickfilms "Wenn nicht noch höher" nach einer Erzählung von Jizchok Leib Perez (1852-1915), den wir unter der Leitung der Künstlerin
Menschen mit Behinderung in der Corona-Pandemie
Sharon Adler: Darüber, wie Menschen mit einer Beeinträchtigung die Corona-Krise erleben, haben Du und Dr. Dinah Kohan, die Leiterin des ZWST-Inklusionsfachbereich
Judith Tarazi: Wir haben uns anfangs ziemliche Sorgen um unsere Teilnehmer*innen gemacht. Letztendlich haben die meisten die Situation aber ganz gut gemeistert.
Wir haben täglich einen offenen ZOOM-Online-Stream angeboten, den fast alle wahrnehmen konnten. Man hatte quasi jederzeit die Möglichkeit, vorbei zu schauen. Es wurden künstlerische Aufgaben (per Post) verschickt und dann gemeinsam besprochen, hin und wieder kleine Videos gezeigt, die meiste Zeit aber einfach geredet. Eigentlich habe ich das Gefühl, wir sind uns in dieser Zeit noch näher gekommen. Wer keine Möglichkeit hatte, per ZOOM teilzunehmen, wurde dann einfach per Telefon zugeschaltet und konnte mitreden.
Jeden Freitag haben wir gemeinsam Kerzen gezündet, die Brachot über Brot und Wein gesprochen, jede*r für sich und alle gemeinsam. Auch die anderen Feiertage haben wir so begangen. Toll fanden wir hier das Bubales Puppentheater, das zu jedem Feiertag ein kleines Video produziert hat.
Ich möchte das Ganze jetzt aber nicht verklären: Wir haben unsere Teilnehmer*innen sehr vermisst und es wird Zeit, dass es wieder losgeht! Bundesweit hat die ZWST mit dem Fachbereich Gesher Großes geleistet, finde ich. Online-Programme, Online-Kunstworkshops, die Gesher-Akademie für Kinder, es gab viele tolle Angebote. Einer unserer Pläne für die Zukunft bei Omanut ist ein Online-Digitalisierungskurs, den wir mit Unterstützung von Aktion Mensch auf die Beine stellen wollen, um unseren Teilnehmer*innen vertiefende digitale Kompetenzen zu vermitteln.
Beratung von Behinderten für Behinderte
Sharon Adler: Im Jahr 2017 erhielt die ZWST eine
Judith Tarazi: Die Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung ist ein bundesweites, niedrigschwelliges Beratungsangebot mit dem Schwerpunkt der Peer-Beratung (Betroffene beraten Betroffene). Die Betonung liegt auf "unabhängig", was bedeutet, dass die Beratungsstellen nicht in Trägerschaft von Institutionen sein sollten, die mit der Beratung eigene Interessen, wie zum Beispiel Wohneinrichtungen oder Werkstätten, bedienen.
Unsere Beratungsstelle hat sich auf Menschen mit Migrationshintergrund spezialisiert, wir sind ein vielsprachiges Team, teilweise selbst mit Fluchterfahrung.
Die Bandbreite der Beratungsanfragen ist sehr groß, Unterstützung bieten regelmäßige Fortbildungen und eine eigens eingerichtete Fachstelle.
Jüdische Sozialarbeit
Sharon Adler: Neben Deinen vielfältigen Engagements studierst Du seit Ende 2019 an der FH Erfurt in Kooperation mit der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg im Studiengang "Jüdische Soziale Arbeit (BA)".
Judith Tarazi: Die Möglichkeit, dieses Studium machen zu können, empfinde ich als großes Geschenk. Je älter ich werde, desto mehr macht mir das Lernen Freude (auch wenn es nicht mehr so leicht fällt). Es ist eine fantastische theoretische Vertiefung und Erweiterung meiner Arbeit. Und eigentlich interessiert mich alles. Lustigerweise sind oft die Dinge, von denen ich es am wenigsten erwartet habe, wie Recht und Management, die spannendsten. Lebenslanges Lernen – kann ich nur wärmstens empfehlen.
Sharon Adler: Sozialarbeit spielt eine große Rolle in der jüdischen Geschichte und Gegenwart. Welche Persönlichkeiten oder Organisationen haben Dich in dem Kontext persönlich beeindruckt/inspiriert?
Arbeiten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kunstateliers Omanut (© Sharon Adler/Pixelmeer 2021)
Arbeiten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kunstateliers Omanut (© Sharon Adler/Pixelmeer 2021)
Judith Tarazi: Ich stoße immer wieder auf beeindruckende jüdische Sozialarbeiterinnen. Allen voran natürlich Bertha Pappenheim
Sharon Adler: Eine persönliche Frage: Du selbst bist vor vielen Jahren zum Judentum übergetreten – was bedeutet das Judentum für Dich? Was ist die Essenz, die Philosophie des Judentums, seiner Werte und Traditionen für Dich persönlich?
Judith Tarazi: Wenn ich zurückblicke, bin ich inzwischen schon länger jüdisch als nicht-jüdisch. Das fühlt sich schön an. Ich bin damals, ehrlich gesagt, der Liebe wegen übergetreten und es war die beste Entscheidung. Die Liebe gibt es nicht mehr, aber mein Zugehörigkeitsgefühl ist immer mehr gewachsen. Je mehr ich über das Judentum gelernt habe (und lerne), desto glücklicher bin ich damit. Ich bin streng atheistisch aufgewachsen. Vielleicht hat mir da tatsächlich etwas gefehlt. Irgendwie habe ich im Judentum Heimat und Rückhalt gefunden, eine beeindruckende Lebensphilosophie, die ihre Grundlage im Nachfragen und Diskutieren hat. Damit fühle ich mich sehr wohl.
Judith heiße ich übrigens schon immer.
Zitierweise: "Judith Tarazi: „Jeder Mensch ist ein*e Künstler*in!“", Interview mit Judith Tarazi, in: Deutschland Archiv, 30.7.2021, Link: www.bpb.de/337299