Sharon Adler: Am 23. August 2020 wurde die neue Dauerausstellung im Jüdischen Museum Berlin eröffnet. Aufgrund der Corona-Pandemie war es aber seit dem 2. November 2020 geschlossen. Seit dem 20. Mai 2021 ist das Museum endlich wieder geöffnet. Was empfindest du anlässlich der Neueröffnung?
Hetty Berg: Als ich heute Morgen mit dem Fahrrad von der anderen Straßenseite die geöffnete Tür sah, war das ein sehr gutes Gefühl.
Jüdische Geschichte und Gegenwart in Deutschland – die neue Dauerausstellung im Jüdischen Museum Berlin
Sharon Adler: Dein Tweet zur Eröffnung lautete: „Das jüdische Leben in Berlin ist im Wandel – eine neue Generation mit unterschiedlichen Hintergründen und einer Menge Ideen tritt hervor. Als Ort der Begegnung und des Austauschs soll das JMB diesen vielfältigen Perspektiven Raum geben.“
Hetty Berg: Ich denke, dass wir in der neuen Dauerausstellung einen guten Schritt in diese Richtung gemacht haben. Es gibt jetzt einen großen Bereich, der von der Zeit nach 1945 erzählt, in dem man etwas über jüdisches Leben von heute erfährt. Besonders in den Themenräumen: Dort begegnet man Juden und Jüdinnen, die in Deutschland leben, und die sich aus unterschiedlichen Perspektiven zu verschiedenen Themen äußern. In der Video-Installation „The Way We Walk“ zum Beispiel geht es um die Halacha,
Andere Beispiele sind die vielen Home-Videos
Ich glaube, es ist sehr wichtig, alle diese verschiedenen und vielfältigen Perspektiven und den Perspektivwechsel auf Geschichte zu zeigen. Das wird auch deutlich im Schlusschor der Video-Installation „Mesubin“,
Sharon Adler: Was findest du persönlich an Berlin spannend und warum, denkst du, kommen so viele jüdische Künstler*innen aus aller Welt nach Berlin?
Hetty Berg: In Berlin gibt es eine spannende Mischung: all diese verschiedenen Menschen mit verschiedenen jüdischen Hintergründen, die aus verschiedenen Ländern kommen. Und dass damit jüdisches Leben und jüdische Initiativen in teilweise ganz unerwarteten Kulissen stattfinden. Außerdem gibt es hier verschiedene Jüdische Gemeinden, die sehr aktiv und engagiert sind, und dann gibt es noch diejenigen, die nicht in Gemeinden organisiert sind.
Interessant finde ich auch, dass man hier wirklich darüber nachdenkt und diskutiert, was es heutzutage bedeutet, in Deutschland oder in Europa Jude zu sein. Das ist etwas, was ich in Amsterdam so nicht erfahren habe. Vielleicht auch, weil so viele Israelis und russischsprachige Jüdinnen und Juden der zweiten und dritten Generation
Sharon Adler: Viele jüdische Menschen machen im öffentlichen Diskurs oder persönlichen Austausch häufig die Erfahrung, dass jüdisches Leben ausschließlich mit der Shoah gleichgesetzt wird. Das Jüdische Museum will mit der neuen Dauerausstellung einen Schwerpunkt
Hetty Berg: Die meisten Besucherinnen und Besucher wissen nur wenig vom jüdischen Leben in der Vergangenheit und der Gegenwart in Deutschland. Sie haben nur vom Holocaust gehört und gelesen und von den ermordeten Jüdinnen und Juden. Deswegen richten wir heute den Blick auch auf die Zeit nach der Shoah. Wir finden es wichtig, die Lebendigkeit und den Reichtum des kulturellen jüdischen Lebens heute und in der Vergangenheit zu zeigen, und damit die Shoah in einen zeitlichen Rahmen setzen zu können. Wir zeigen immer jüdische Perspektiven, weil es nicht nur eine jüdische Perspektive gibt.
Sharon Adler: Du bist seit dem 1. April 2020 Direktorin des Jüdischen Museums Berlin, das im Jahr 2001 eröffnet wurde. Zuvor warst du mehr als 30 Jahre lang am Jüdischen Historischen Museum in Amsterdam,
Hetty Berg: Einer der großen Unterschiede für mich ist, dass das Jüdische Historische Museum in Amsterdam schon eine lange Geschichte hat, während wir in Berlin 2021 erst unser zwanzigjähriges Jubiläum feiern.
Hetty Berg vor dem Übergang zum Ausstellungsbereich "Auch Juden werden Deutsche" im Jüdischen Museum Berlin. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Hetty Berg vor dem Übergang zum Ausstellungsbereich "Auch Juden werden Deutsche" im Jüdischen Museum Berlin. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
In den Niederlanden sind es fast neunzig Jahre. Ein anderer Unterschied liegt in der Initiative für die Gründung der beiden Museen. In Amsterdam ging sie in den frühen 1930er-Jahren von einer Gruppe von Jüdinnen und Juden aus, die von der Wissenschaft des Judentums inspiriert waren. Aus diesem Gedanken heraus entstanden das Jüdische Museum in Amsterdam und auch andere europäische jüdische Museen. Es war eine Initiative, die aus der jüdischen Gemeinschaft und nicht von der Jüdischen Gemeinde ausging.
In Berlin war die Gründung des Jüdischen Museums eine erinnerungspolitische Geste des Bundes. Dahinter stand die Idee der Bewahrung der deutsch-jüdischen Geschichte nach der Auslöschung durch die Shoah. Das war die Kernaufgabe. Dieser Grundgedanke, dass die jüdische Kultur verloren gehen würde, war in den 1930er-Jahren auch bei den Gründern in Amsterdam vorhanden. Durch die weitgehende Integration der Jüdinnen und Juden in die niederländische Gesellschaft – sehr viele waren Sozialisten und hatten nichts mehr mit dem Judentum zu tun – gab es das Bedürfnis, etwas festzuhalten, was sonst verloren gehen würde. Ich glaube, diese Idee steht oft im Raum, wenn man ein Museum gründet. In Deutschland, im Berlin um die Jahrtausendwende, hat man dieses Museum gegründet – mit der Aufgabe, zu sammeln, zu bewahren und zu vermitteln. Die neue Entwicklung im Jüdischen Museum Berlin ist, dass es nicht mehr nur um die Geschichte geht, sondern auch um die Gegenwart, um das jüdische Leben heute.
Der andere große Unterschied ist, dass das Museum in Amsterdam in den Räumen des alten aschkenasischen Synagogenkomplexes angesiedelt ist. Der besteht aus vier Synagogen, und das Museum befindet sich in diesen vier Synagogen. An diesen Orten hat das jüdische Leben wirklich stattgefunden. Im Museum in Amsterdam gibt es Tonaufnahmen vom Chor und dem Chasan,
Eine Gemeinsamkeit von Amsterdam und Berlin ist das großartige Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, für die es eine Herzensangelegenheit ist, für das Jüdische Museum Berlin zu arbeiten. Das ist sehr kostbar, das kann man nicht mit Gold aufwiegen.
Sharon Adler: Das Jüdische Historische Museum in Amsterdam besitzt das Gesamtwerk von Charlotte Salomon. In den Jahren 2004 bis 2007 bot eine Wanderausstellung, die zuletzt auch im Jüdischen Museum Berlin Station machte, eine Werkschau.
Hetty Berg: Das Werk von Charlotte Salomon ist ein sehr wichtiger Teil der Sammlung des Jüdisch-historischen Museums in Amsterdam, und wir waren in all den Jahren immer mit ihrem Werk beschäftigt. Es gab immer wieder Ausstellungen. Diese Arbeit, die aus etwa eintausend Gouachen
Sharon Adler: Heute lebst und arbeitest du in der Stadt, in der Charlotte Salomon gelebt und studiert hat und von wo aus sie vor den Nazis geflüchtet ist. Was bedeutet das für dich persönlich, wofür steht Berlin, das jüdische Berlin, für dich?
Hetty Berg: Ich war einmal in der Universität der Künste, und das Bewusstsein, dass sie dort studiert hat, war etwas ganz Besonderes für mich. Die Frage, wofür Berlin für mich steht, ist für mich mit sehr viel Ambivalenz verbunden. Das erste Mal habe ich 2016/2017 einige Monate hier gewohnt, als mein Mann als Fellow am Wissenschaftskolleg war. Die Geschichte ist in dieser Stadt überall präsent. Nicht nur die Shoah, sondern das 20. Jahrhundert insgesamt. Im Grunewald, wo das Wissenschaftskolleg ist, musste ich auf dem Weg in die S-Bahn jedes Mal unter dem „Gleis 17“
Antisemitismus
Sharon Adler: Hat das Jüdische Museum Berlin – hat ein Jüdisches Museum generell – besonders in Zeiten eines wieder erstarkenden Antisemitismus eine besondere Verantwortung? Wie siehst du die Chancen, durch Wissensvermittlung Antisemitismus entgegenzuwirken?
Hetty Berg: Ich würde nur ungerne sagen, dass es das erste Ziel des Jüdischen Museums Berlin ist, Antisemitismus zu bekämpfen. Ich denke, das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Ich hoffe aber natürlich, dass wir über Wissensvermittlung Vorurteilen gegenüber Juden entgegenwirken und sie abbauen. Weil es so viel Ignoranz gibt, und die meisten Menschen so wenig über Jüdinnen und Juden wissen, gibt es so viele falsche Bilder über sie: Klischeebilder, Stereotype. Wir hoffen, mit allem, was wir anbieten, diese Bilder zu nuancieren und ihnen etwas entgegenzusetzen.
In der neuen Dauerausstellung haben wir den „Debattenraum Antisemitismus“, den wir auch für unser Bildungsprogramm nutzen, das Schülerinnen und Schüler mit Fallbeispielen dazu anregen soll, diese selber einzuordnen: Wie fängt Antisemitismus an? Was macht ihn aus? Wie kann man sich darüber austauschen? Durch diese Fragestellungen wollen wir die Menschen zu einer aktiven Haltung auffordern. In diesem Sinne ist natürlich alles, was wir als Museum machen – die Ausstellungen, Veranstaltungen, Kindermuseum, Archiv, Bibliothek – Vermittlung.
Ich bin ein optimistischer Mensch und möchte sehr gern daran glauben, dass Wissen eine Waffe gegen Antisemitismus ist. Aber wir wissen, dass Antisemitismus in Deutschland nach dem Krieg immer vorhanden war und es immer noch ist. In allen Schichten der Bevölkerung. Es hat immer wieder Angriffe gegeben, nicht nur in den letzten Jahren. Diese Kontinuität des Antisemitismus ist natürlich auch für eine Optimistin nicht zu leugnen.
Der DAGESH-Kunstpreis
Sharon Adler: Du gehörst zur Jury des DAGESH-Kunstpreises,
Seit dem 1. April 2020 leitet die Kuratorin und Kulturhistorikerin Hetty Berg das Jüdische Museum Berlin. (© Sharon Adler/Pixelmeer 2021)
Seit dem 1. April 2020 leitet die Kuratorin und Kulturhistorikerin Hetty Berg das Jüdische Museum Berlin. (© Sharon Adler/Pixelmeer 2021)
Hetty Berg: Das Jüdische Museum Berlin hat in Kooperation mit Dagesh. Jüdische Kunst im Kontext. Ein Programm der Leo Baeck Foundation Ende 2020 zum zweiten Mal Künstlerinnen und Künstler aufgerufen, künstlerische Konzepte einzureichen und sich für den Dagesh-Kunstpreis zu bewerben. Wir freuen uns sehr darüber, denn so gelingt es uns, das gemeinsame Interesse an der Förderung junger Kunst aus jüdischer Perspektive zu bündeln. Auf die Ausschreibung haben wir etwa 60 Einsendungen erhalten. Im ersten Jahr, 2018, waren es nur zwanzig. Es war für die Jury nicht leicht, einen Vorschlag auszuwählen. Das Thema der Ausschreibung war „Wehrhafte Kunst“. Die Teilnehmenden waren aufgefordert, sich mit der aktuellen Rolle von Kunst in der deutschen Gesellschaft zu beschäftigen, in der Grundrechte immer wieder in Frage gestellt werden und antisemitische sowie rassistische Übergriffe zur traurigen Realität des deutschen Alltags gehören.
Ich finde es sehr schön, durch diesen Preis so viele Projekte zu sehen. Dadurch sieht man auch, dass es eine große Gemeinschaft von Juden und Jüdinnen gibt, die künstlerisch arbeiten, und denen wir durch dieses Projekt ein Podium geben können.
Sharon Adler: Die Preisträgerin des DAGESH-Kunstpreises, Talya Feldman, untersucht in ihrer multimedialen Arbeit „The Violence We Have Witnessed Carries a Weight on Our Hearts“ die Kontinuitäten rechten Terrors in Deutschland von 1979 bis heute. Warum war es dir wichtig, gerade dieses Werk zu zeigen?
Hetty Berg: Das Werk wurde von der Jury gemeinsam ausgewählt. Es thematisiert all diese Angriffe. Talya Feldman war bei dem Anschlag in Halle an Yom Kippur am 9. Oktober 2019 dabei. In ihrer Arbeit greift sie die Gewalt gegen Jüdinnen und Juden auf und setzt sich mit der Geschichte der rechtsextremen Gewalt von über 40 Jahren auseinander. Und mit der anhaltenden Resonanz darauf.
In ihrer Installation „The Violence We Have Witnessed Carries a Weight on Our Hearts“ hört man die Stimmen, die Sprachbotschaften von Opfern und Familienangehörigen und Initiativen. Damit schafft Talya Feldman ein lebendiges Archiv, ein „living archive“, das die Nachgeschichte der Ereignisse und die Vielstimmigkeit der Betroffenen erfahrbar macht. Auf Displays von Smartphones werden diese Sprachbotschaften auf Deutsch, Türkisch, Englisch, Spanisch, Hebräisch und Französisch visualisiert und synchronisiert. Es ist wirklich sehr ergreifend und bewegend.
Außerdem macht die Installation am Beispiel von 18 Gewalttaten sichtbar, in was für einer erschreckenden Regelmäßigkeit Übergriffe rechter Gewalt in Deutschland stattgefunden haben. Durch das Zusammenführen von aktuellen und vergangenen Ereignissen werden hier erschütternde Kontinuitätslinien sichtbar.
Ihr Projekt zeigt, wie Menschen mit ganz unterschiedlichen ethnischen, religiösen und politischen Identitäten und Hintergründen kooperieren und sich untereinander solidarisch zeigen. Dieses Miteinander anstelle eines Gegeneinanders ist besonders heute von großer Bedeutung und eine wichtige Botschaft des Kunstwerks.
Sharon Adler: Teil der JMB-Dauerausstellung ist die „Hall of Fame“, in der an bedeutende jüdische Persönlichkeiten erinnert wird: Neben Spinoza und Heine auch an die Sozialreformerin Alice Salomon,
Hetty Berg: Es ist uns am JMB sehr wichtig, das Wirken von Frauen in der Geschichte zu zeigen und vor dem Vergessen zu bewahren. Das ist allerdings wie in allen kulturhistorischen Museen eine große Herausforderung, weil es mehr Werke von Männern in den Sammlungen gibt. Wir haben uns wirklich große Mühe gegeben, in der neuen Dauerausstellung auch die weiblichen Perspektiven abzubilden. Nicht nur in der „Hall of Fame“, sondern auch in den Epochenräumen, die ganzen 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland hindurch.
Aus der Epoche des Mittelalters zeigen wir zum Beispiel die Frau eines Rabbiners, die an der Jeschiwa ihres Mannes mitarbeitete.
ANOHA – Die Kinderwelt des Jüdischen Museums Berlin
Sharon Adler: Am 27. Juni 2021 eröffnet die Kinderwelt des Jüdischen Museums Berlin. Was erwartet die kleinen Besucherinnen und Besucher? In welcher Weise wurde bei der Konzeption das Prinzip der jüdischen Tradition von Tikkun Olam
Hetty Berg: Die Kinderwelt ANOHA ist ein Haus für eine Geschichte. Und die Geschichte ist die der Arche Noah. Dazu greifen wir verschiedene Themen auf. Im Zentrum steht die Frage, wie wir miteinander leben wollen und was wir tun wollen, damit wir dies auch noch lange können. Dafür gibt es drei Vermittlungssäulen: Nachdenken über Gott und die Welt, Natur und Artenschutz, und als drittes die Prävention von Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung. Das sind die didaktischen Gedanken dahinter. Wenn die Kinder durch dieses schöne Museum gehen, können sie die Geschichte von der Flut und dem Zusammenleben auf der Arche erleben und selbst durchspielen.
Im ANOHA gibt es 150 Tiere aus Alltagsgegenständen und recycelten Materialien. Es geht aber auch um Diskriminierung. Denn nicht nur die schönen Tiere, die gut riechen, sondern auch die unvertrauten und nicht so gefälligen – wie Stinktiere oder Nacktmulle – müssen mit an Bord! Es geht also um das Zusammenleben und das Nachdenken über die Zukunft, wenn das Wasser wieder zurückgegangen ist. Wie bauen wir eine bessere Welt? Welche Regeln brauchen wir, um eine Zukunft zu schaffen, die wir uns wünschen? Die Fragen denken wir uns gemeinsam aus. Da kommt das Konzept von Tikkun Olam hinein, weil man durch das eigene Handeln die Welt verbessern kann. Wir hoffen natürlich sehr, dass wir durch die neue Kinderwelt das Museum in der Gesellschaft mehr verankern und dass auch Menschen aus der unmittelbaren Nachbarschaft in das Kindermuseum kommen. Und dass ANOHA etwas für das Zusammenleben in Berlin und Deutschland bedeuten kann und für die Förderung von Teilhabe. Der Eintritt ist frei!
Familie und Zweite Generation
Sharon Adler:Welche Erinnerungen hast du an deine (jüdische) Kindheit, wie hast du als Angehörige der Zweiten Generation das Gemeindeleben in den Niederlanden erlebt?
Hetty Berg: Ich bin in Den Haag geboren, aber zwischen Utrecht und Arnheim aufgewachsen. In Arnheim gab es eine Jüdische Gemeinde, und ich bin ein paar Mal mit meiner Mutter und meiner Schwester zu Purim und Chanukka dort gewesen. In Arnheim gab es auch eine koschere Fleischerei, in der meine Mutter immer Rinderrauchwürste bestellt hat. Der jüdische Kalender war bei uns zuhause nicht vorhanden, aber wir haben kein Schweinefleisch gegessen und hatten jedes Jahr eine große Dose mit Mazzot
Ich bin säkular aufgewachsen und erzogen worden. Das Judentum war nicht positiv anwesend. Alles, was mit jüdischer Religion und Judentum zu tun hatte, war eine Bedrohung, denn der Schmerz und die Erfahrungen während des Krieges sind damit hochgekommen. Aber weil ich mehr darüber wissen wollte, habe ich nach einer eigenen Weise gesucht, mein Jüdischsein zu leben und ihm Ausdruck zu geben. Ich bin Mitglied der Liberal-Jüdischen Gemeinde in Amsterdam geworden. Und das hat dann wieder den schönen Bezug zu Berlin.
Sharon Adler: Die Liberal-Jüdische Gemeinde in Amsterdam
Hetty Berg: Nicht wirklich, weil man so wenig wusste und darüber nicht gesprochen wurde. Nachdem meine Großmutter gestorben war, bekam ich viele Familienfotos, wusste aber nicht, wer die Menschen auf den Fotos waren. Als Kind war ich immer neugierig, ich habe bei meiner Großmutter in alle Schränke geguckt und auch diese Fotos gefunden. Wenn ich sie damals gefragt habe, wer die Menschen auf den Fotos sind, hat sie nur gesagt: „Ach, Kind, man muss nicht nach hinten in das Elend gucken, sondern man muss vorausgucken.“
Viele Jahre später habe ich durch das Studieren der Fotos versucht, herauszufinden, wer diese Menschen waren. Geholfen hat mir jemand in Israel, der Genealogie betreibt. Er hat für mich den Familienstammbaum recherchiert und dadurch konnte man erkennen, dass meine Familie schon Ende des 18. Jahrhunderts in den Niederlanden lebte. Es gab auch Familienmitglieder, die mit Deutschen verheiratet waren, da sie alle im Osten der Niederlande, an der Grenze zu Deutschland, lebten. Mein Urgroßvater war Viehhändler, mein Großvater bis zum Krieg ebenfalls. Das war im Osten des Landes ein typisch jüdischer Beruf. Auch wenn man nicht über die Shoah gesprochen hat, war sie immer anwesend.
Sharon Adler: Erinnerst du dich an die Shoah-Überlebende und Sängerin Lin Jaldati,
Hetty Berg: Leider habe ich Lin Jaldati nicht persönlich kennengelernt, aber ich habe einmal einen Auftritt mit ihr und Eberhard Rebling gesehen. Sie hatten das jiddische Kabarett, das LiLaLo, in der Amsterdamer De-Clercq-Straße, aber dort bin ich niemals gewesen, denn als ich von London wieder nach Amsterdam kam, war es schon geschlossen. Das ist wirklich schade, denn ich habe mich später mit Jiddisch beschäftigt. Aber ihre Tochter Jalda Rebling habe ich später beim Jewish Music Festival gehört.
Ich kann eine schöne Geschichte erzählen, die auch einen Bezug zu Berlin hat: Als ich an der Tanzakademie in Amsterdam war, hatte ich einen kleinen Job, um Geld zu verdienen. Ein- oder zweimal die Woche habe ich einige Jahre lang einer alten Dame Gesellschaft geleistet, bin für sie einkaufen gegangen und solche Dinge. Sie ist Ende der Dreißigerjahre mit ihrer Mutter und ihrer Schwester, die in Kontakt zur Weißen Rose stand, aus Berlin in die Niederlande geflüchtet. Daher waren sie sich der Gefahr viel stärker bewusst. Sie haben in Amsterdam im Versteck überlebt und Widerstand geleistet. Nach dem Krieg ist die Dame als Kommunistin in die DDR gegangen, um das Land aufzubauen, aber sie kam später zurück in die Niederlande. Wir hatten eine sehr gute Beziehung zueinander, und als ich schon nicht mehr für sie gearbeitet habe, haben wir sie mit den Kindern besucht. Sie war eine Art Extra-Großmutter. Sie hat mir viel über Berlin, die Geschichte und die DDR erzählt, und es freut mich, wie die Enden wieder zusammenlaufen.
Sharon Adler: Im JMB präsentiert eine Fotowand Schwarz-Weiß-Fotos von Rabbinerinnen wie Regina Jonas, Elisa Klapheck und Delphine Horvilleur. Die Themen-Räume „Tora“
„Die ersten Rabbinerinnen“ im Jüdischen Museum Berlin (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
„Die ersten Rabbinerinnen“ im Jüdischen Museum Berlin (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Hetty Berg: Ich feiere Schabbat und die Feiertage, aber eher wegen der Tradition. Für mich ist die Kultur des Judentums das Wichtigste. Meine jüdische Identität kommt auch in meiner Arbeit zum Ausdruck und wird dadurch genährt: Ich möchte die jüdische Kultur bewahren und die Vielfalt und den Reichtum der jüdischen Kultur vermitteln. Seit ich angefangen habe, in der Museumswelt zu arbeiten, ist das eine wichtige Motivation für mich.
Sharon Adler: Du engagierst dich als Mitglied im Kuratorium der Stiftung House of One,
Hetty Berg: Ich denke, die letzten Wochen haben wieder ganz klar gezeigt, wie immer wieder sehr schnell etwas hochkochen kann und warum es so wichtig ist, den jüdisch-christlich-islamischen Dialog zu fördern. Dialog ist unerlässlich für das Zusammenleben in der Gesellschaft. Nicht, um zeigen, wie viel wir gemeinsam haben. Wir sind nicht alle gleich. Gerade weil wir uns voneinander unterscheiden, müssen wir miteinander sprechen. Um zu erfahren, was andere Menschen denken. Außerdem gibt es viele verschiedene Haltungen und Perspektiven innerhalb der einzelnen Gruppen. Es gibt nicht die Muslime, die Juden, die Christen. Im Gegenteil, da gibt es sehr viel Diversität. Der Austausch im House of One ist eine gute Initiative und fördert hoffentlich das Zusammenleben.
Sharon Adler: Bei der Eröffnung der neuen Dauerausstellung
Hetty Berg: In der Tora steht der Baum als Sinnbild für das Volk Israel. Ich finde, der Baum, der „Etz Chaim“,
Der Wunschbaum im Eingangsbereich zur neuen Dauerausstellung im Jüdischen Museum Berlin (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2020)
Der Wunschbaum im Eingangsbereich zur neuen Dauerausstellung im Jüdischen Museum Berlin (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2020)
Von „Etz Chaim“ wird auch immer im Gebet in der Synagoge gesprochen. Dieser Baum des Lebens und der Bezug auf den Text sprechen mich an. Ich glaube, es gibt nur im jüdischen Kalender ein Neujahrsfest für Bäume. Neben vielen anderen Dingen in der neuen Dauerausstellung finde ich besonders schön, dass man den Wunschbaum und gleich danach die Tora mit dem „Etz Chaim“ angeordnet hat. Für mich ist das ein Bild für das Leben. Der Baum des jüdischen Lebens bekommt jeden Tag neue Äste, dem neue Blätter wachsen. Das symbolisiert für mich dieser Baum am Eingang zur neuen Dauerausstellung, der sehr tiefe Wurzeln hat. Die reichen ganz tief und lang zurück, 1700 Jahre.
Sharon Adler: Als Teil der neuen Dauerausstellung gibt es einen Wunschbaum, auf den jede/r kann regelmäßig einen Wunsch hängen kann. Was ist dein Wunsch in diesen Tagen?
Hetty Berg: Mehr Verständnis und mehr Respekt für die verschiedenen Gruppen von Menschen, die zusammenleben!
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Zitierweise: "Hetty Berg: „Wir wollen als Ort der Begegnung und des Austauschs vielfältigen Perspektiven einen Raum geben.“", Interview mit Hetty Berg, in: Deutschland Archiv, 18.6.2021, Link: www.bpb.de/335119