Seit ihrer frühen Jugend in Sachsen wollte Ursula van Vlerken-Rothenburger (geboren 1952) wissen, wie andere Teile der Welt aussahen. Jedes Mal, wenn sie Menschen aus fernen Ländern begegnete, bat sie sie, ihr eine Postkarte aus deren Heimat zu schicken. Als Ursula 1972 während eines Urlaubs in Georgien auf eine niederländische Reisegruppe traf, hatte sie denselben Wunsch, aber sie stieß auf eine Sprachbarriere.
Die Niederländer sprachen zwar Englisch, aber kaum Deutsch oder Russisch – außer einem Mann namens Rick, also gab sie ihm ihre Adresse. ‚‚Kurz nachdem ich wieder zu Hause war, kam schon die erste Postkarte aus Amsterdam. Ich habe mich bedankt und so lief das dann weiter. Immer wieder eine neue Karte, immer wieder ein herzliches Dankeschön.“ Als sie nach ein paar Monaten merkte, dass ihr nicht nur seine Karten imponierten, fragte sie ihn vorsichtig, ob er denn schon mal in der DDR war.
‚‚Rick antwortete so etwas wie: Bist du verrückt? Dahin verreist doch wohl niemand! Ich schrieb ihm daraufhin, dass es eigentlich ganz nett bei uns sei. Ich mochte meine Arbeit als Winzerin bei dem Schloss Wackerbarth in Radebeul und besuchte regelmäßig das Theater oder Kino. Ich glaube zwar nicht, dass es mit dem tollen Freitzeitangebot in der DDR zu tun hatte, aber Rick kam mich tatsächlich besuchen. Nicht viel später waren wir dann ein Paar.“
Ab dem Moment trafen sie sich regelmäßig in Polen oder Ungarn und nach eineinhalb Jahren beschlossen sie, zu heiraten und ihren Weg gemeinsam zu gehen – aber in den Niederlanden, denn ein Leben in der DDR konnte sich Rick, der bei einem Verlag arbeitete und eine freie Presse gewöhnt war, nicht vorstellen.
Ein Antrag auf Erteilung eines Antragformulars
Laut Familiengesetzbuch der DDR aus dem Jahr 1965 waren zwar Eheschließungen zwischen BürgerInnen der DDR und BürgerInnen eines anderen Staates im Prinzip möglich, aber sie bedurften einer besonderen Genehmigung.
Ursula kannte das Gesetz auf jeden Fall nicht. Sie ließ sich von einer Kollegin beraten, die einen Ungarn geheiratet hatte, was jedoch einfacher war, da Ungarn zum sozialistischen Ostblock gehörte. Von ihrer Kollegin erfuhr sie, dass sie beim Rat des Kreises einen Antrag auf Zustimmung für eine Eheschließung mit einem Ausländer stellen müsse und auf diese Weise eine Heiratsgenehmigung bekommen könnte. Sobald die Ehe vollzogen sei, müsste sie einen Antrag zur ständigen Ausreise aus der DDR wegen Familienzusammenführung stellen. Diese beiden Schritte, so die Kollegin, seien notwendig für ein erfolgreiches Verlassen der DDR über eine Eheschließung mit einem Ausländer.
Da in der DDR aber bekanntlich vieles nicht in Stein gemeißelt war, bekam Ursula, als sie sich beim Rat des Kreises in Dresden meldete und mitteilte, dass sie einen Niederländer heiraten wollte, ausschließlich zu hören: , das gebe es nicht.
‚‚Ich wusste nicht, was ich damit anfangen soll und bin einfach wieder gegangen. Zuhause habe ich Rick geschrieben, dass ich nicht mal ein Antragsformular bekommen habe. Er meinte darauf, dass ich mich an die nächsthöhere Behörde wenden soll, aber auch beim Rat des Bezirkes sagten sie mir, dass sie so etwas noch nie gehört hätten. Ich habe mich echt gefragt, ob wir irgendwie geistig gestört sind, ob unser Wunsch irgendwie komplett komisch ist.“
Unterstützung aus den Niederlanden
Während Ursula in der DDR nichts erreichte, suchte Rick in den Niederlanden nach einem Weg, um eine Hochzeit zu ermöglichen. Die Niederlande hatten die DDR bereits 1973 anerkannt, so dass jetzt eine DDR-Botschaft in Den Haag sowie eine niederländische Botschaft in Ost-Berlin existierte. Außerdem regierte damals in den Niederlanden eine links-progressive Regierung unter Führung der sozialdemokratischen PvdA (in Deutsch: „Partei der Arbeit“). Rick nutzte dieses politische Klima und den damit verbundenen Zeitgeist zu seinem Vorteil und trat mit Relus ter Beek, dem internationalen Sekretär des Außenministers der PvdA, in Kontakt. Dieser riet ihm, keinesfalls Fluchthelfer oder Journalisten zu bemühen, sondern weiterhin die Behördenwege zu gehen und unterstützend diplomatische Kanäle zu nutzen, wenn er ein gemeinsames Leben mit Ursula erreichen wolle. Wahrscheinlich wollte Ter Beek die frischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern nicht gefährden. Außerdem waren die Verhandlungen für das
Möglicherweise wusste Ter Beek aber auch, dass in dem Abkommen eine Ehe zwischen Menschen aus verschiedenen Staaten als wie auch deren spätere Ausreise über Familienzusammenführung als Menschenrecht festgeschrieben werden sollte.
Das Paar beschloss, seinem Rat zu folgen, und Ursula meldete sich mehrere Male erneut bei den DDR-Behörden. Jedes Mal, wenn sie wieder nichts erreichte, setzte Rick sich mit Ter Beek in Verbindung. Dieser kontaktierte daraufhin die DDR-Botschaft in Den Haag. Obwohl nicht ganz klar ist, wie umfangreich seine Einmischung war, scheint sie Wirkung gezeigt zu haben:
Als sich Ursula im April 1974 erneut an den Rat des Kreises wandte, erhielt sie endlich ein Formular, womit sie die Ehe beantragen konnte. Rick musste zudem ein sogenanntes „Ehefähigkeitszeugnis“ vorlegen, das zeigte, dass er nicht bereits verheiratet war.
‚‚Er musste sich bei sämtlichen niederländischen Behörden Stempel besorgen. Vom Bürgermeister von Amsterdam, vom Bevölkerungsregister und von der Gemeinde Den Haag. Zuletzt hat die DDR-Botschaft in Den Haag all diese Unterschriften anerkannt und damit das Ehefähigkeitszeugnis als gültige notarielle Akte akzeptiert. Wirklich verstanden haben wir das alles nicht. Man durfte keine zwei oder drei Ehefrauen haben, aber wofür die ganzen Stempel waren? Keine Ahnung.“
Hoffnung auf positive DDR-Berichterstattung
Mit dem Einreichen des Antragsformulars und des Ehefähigkeitszeugnisses war das Verfahren in Gang gesetzt. Obwohl Ursula ihre Arbeit behalten durfte, bedeutete ihre Antragstellung auch, dass sie verstärkt ins Visier der DDR-Geheimpolizei Stasi geraten sollte.
‚‚Da war so ein Mann, der schon öfter bei mir auf Arbeit gewesen war, um sich meine Personalakte anzusehen. Wenn man in der DDR wöchentlich Post aus Holland bekam, bekamen die das natürlich mit. Ich habe mir da nie etwas vorgemacht. Nachdem wir den Antrag eingereicht hatten, tauchte dieser Mann wieder auf. Rick hatte gerade ein Visum beantragt, um mich wieder zu besuchen, und dieser Mann wollte sich mit uns beiden treffen. Er sagte zwar nicht, dass er bei der Stasi war, aber er sagte, dass er kein Mikrofon bei sich trage. Dann wusste man ja, was los war.“
Ursula und Rick trafen sich mit ihm in einem Restaurant an der Elbe mit schönem Blick auf den Zwinger.
‚‚Er erzählte uns, dass unsere Ehe am einfachsten genehmigt würde, wenn wir danach zusammen in der DDR blieben. Entschieden wir uns jedoch für ein Leben in den Niederlanden, dann würde es sehr helfen, wenn Rick über seine Arbeit in seinem Verlag für positive DDR-Berichterstattung sorge. Die DDR wäre doch ein guter Staat, so streng sei doch alles gar nicht… Obwohl Rick das Angebot sofort ablehnte, blieb der Mann freundlich. Ich hatte fast das Gefühl, dass es ihm leidtat, dass wir verliebt waren und uns nur so selten sahen. Aber wer weiß, vielleicht war es auch eine Taktik.“
Dass Rick das Angebot ablehnte, hatte keine negativen Auswirkungen. Acht Monate nach dem Eheschließungsantrag, im Dezember 1974, durften sie heiraten, und zwei weitere Monate später wurde Ursulas Ausreiseantrag genehmigt. Sie verließ das Land und ihr bisheriges Leben mit zwei Koffern und einem nicht so schönen letzten Eindruck.
‚‚Ich überquerte die Grenze bei Oebisfelde hinter Magdeburg. Das Bahnhofsgebäude war wunderschön, aber die Farbe war komplett abgeblättert. Und dann dieser meterhohe Stacheldraht, die Türme, die vielen Hunde und die Soldaten mit Maschinengewehren … Es war gruselig und traurig. Da sah ich zum ersten Mal mit eigenen Augen, wo ich eigentlich gelebt hatte.“
Mit dem Wissensstand von heute ist es bemerkenswert, dass Ursula die DDR relativ schnell und problemlos verlassen durfte. Das Helsinki-Abkommen war noch nicht unterschrieben, und Ausreiseanträge kamen noch nicht häufig vor.
Möglicherweise spielten die Intervention der Botschaft, die linke Position der damaligen niederländischen Regierung sowie Ricks Arbeit bei einem Verlag eine Rolle. Ab den frühen Siebzigerjahren legte die DDR-Führung immer mehr Wert auf gute Beziehungen zu westeuropäischen Staaten, denn sie erhoffte sich eine dauerhafte Anerkennung der deutschen Teilung und damit ihrer eigenen Existenz. In diesem Zusammenhang wären Pressemeldungen über nicht genehmigte Anträge auf Eheschließung schädlich gewesen.
Ein Kornfeld und ein Holländer
Auch Sigrid Hutter (geboren 1958) hatte nicht die Absicht, die DDR zu verlassen. Sie studierte Sonderpädagogik in Rostock und war in einem Friedenskreis der evangelischen Kirche aktiv.
‚‚Wir haben uns eingebildet, dass wir in der DDR was zu tun haben. Wir wollten die Welt verändern. Außerdem hatte ich nicht die Illusion, dass im Westen unbedingt alles besser sein würde.“
1981 nahm sie am ersten "mobilen Friedensseminar" teil, organisiert von einem systemkritischen Pfarrer, mit dem sieben Studierende aus den Niederlanden und sieben Studierende aus der DDR eine Woche lang in Mecklenburg von Dorf zu Dorf in Mecklenburg wanderten, und über Frieden, Erwartungen und alles Mögliche redeten.
‚‚Ich kam etwas später, weil ich davor noch bei der Hochzeit meiner Schwester war. Die Gruppe war schon aufgebrochen und als ich sie schließlich über ein Feld eingeholt habe, stand da auf einmal ein großer Holländer vor mir. Als ich ihn sah, dachte ich sofort: Ojeh, hier passiert irgendwie was.“
Sigrid und Jaap-Willem verliebten sich ineinander, und nach seiner Rückkehr wurde telefoniert und wurden Briefe geschrieben. Jaap-Willem besuchte Sigrid in der DDR (‚‚Er musste es jedes Mal beantragen: manchmal klappte es, manchmal auch nicht.“) oder das Paar traf sich in Prag, wo sie ungefähr ein Jahr nach ihrem Kennenlernen beschlossen, zu heiraten.
‚‚Ich habe immer groß getönt, dass ich nie heirate und nie ausreise, aber durch Jaap-Willem musste ich die Aussage zurücknehmen. Wir haben zwar darüber gesprochen, in der DDR zu bleiben, aber für Jaap-Willem kam es eigentlich nicht in Frage.“
Nüsse für Jaap-Willem
Die Ausgangssituation für ein gemeinsames Leben war für Sigrid und Jaap-Willem anders als für Ursula und Rick. Das Helsinki-Abkommen, das das Zusammenleben mit dem Ehepartner als Menschenrecht festschrieb, war in der Zwischenzeit unterzeichnet worden. Außerdem wurde 1983 eine neue DDR-Verordnung verabschiedet, die ebenfalls und zum ersten Mal in der Geschichte der DDR eine „Genehmigung für die Wohnsitzänderung nach dem Ausland für die Zusammenführung von Ehegatten“ ermöglichte.
Dieses Dokument zeigt, dass Jaap-Willem nicht verheiratet war. Es war eines der Dokumente, die notwendig waren, um das Ehefähigkeitszeugnis der DDR zu bekommen.
Dieses Dokument zeigt, dass Jaap-Willem nicht verheiratet war. Es war eines der Dokumente, die notwendig waren, um das Ehefähigkeitszeugnis der DDR zu bekommen.
‚‚In der DDR konnte man offizielle Gesetzestexte bei einem Verlag schriftlich bestellen und kaufen. Man wollte offensichtlich nicht, dass die Bürgerinnen ihre Rechte zu gut kannten, daher konnte man diese Gesetze nicht einfach überall erwerben. Kopieren in der Bibliothek war auch nur sehr begrenzt möglich. Aber ich kannte mehrere Leute, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten. Mit denen redete ich.“
Sigrid wusste also, welche Schritte sie durchlaufen musste und was sie ungefähr erwartete. Das Antragsformular, wofür Ursula Monate monatelang kämpfen musste, bekam Sigrid problemlos. Sie reichte es zusammen mit Jaap-Willems Ehefähigkeitszeugnis in der Abteilung Inneres vom Rat des Stadtbezirks ein und tat dies, da sie als Lehrerin an einer Sonderschule tätig war, bewusst am Ende des Schuljahres. Aus Geschichten von Ausreisenden wusste sie, dass man sie sehr wahrscheinlich entlassen würde. Um sich das zu ersparen, kündigte sie selbst.
Kurz nach dem Einreichen des Formulars wurde Sigrid zum Gespräch bei der Abteilung Inneres vorgeladen.
‚‚Es war im Rathaus von Friedrichshain, denn ich wohnte mittlerweile in Ost-Berlin, und es war wie man es aus der DDR kannte: kahl, unfreundlich, steril. Die Dame, mit der ich sprach, versuchte mich zu überreden, zusammen mit Jaap-Willem in der DDR zu bleiben, denn es würden doch Chemie-Ingenieure gebraucht. Ich musste mir spontan etwas überlegen, womit ich unseren Entschluss so unpolitisch wie möglich rechtfertigen konnte und sagte: ‚Er ist Vegetarier und das ist hier in der DDR etwas schwierig mit der Versorgung.‘ Darauf antwortete die Dame, dass es doch noch Nüsse gäbe, von Weihnachten. Ein komischer Moment war das, aber die Dame war wirklich freundlich.“
Sigrid wusste, dass die Freundlichkeit, mit der man ihr begegnete, nicht selbstverständlich war – im Gegenteil. Mit der Verpflichtung der Familienzusammenführung aus der Verordnung von 1983 hatte sich ein Hintertürchen geöffnet, um die DDR zu verlassen.. Hauptsächlich Ehen mit Bürgern der BRD wurden beantragt, und die DDR-Behörden reagierten darauf mit oft jahrelangen Schikanen.
Das Warten auf die Entscheidung war aber trotzdem keine einfache Zeit. Sigrid hatte ihre Arbeit aufgegeben und musste Familie und Freunde einweihen.
‚‚Das schwerste war, es meinen Eltern zu erzählen. Wir wussten zu der Zeit noch nicht, ob ich einen unbegrenzten Reisepass bekommen würde und sie überhaupt besuchen durfte. Außerdem hatte auch meine Schwester einen Ausreiseantrag laufen. Es war eine schwierige Zeit für meine Eltern, aber sie haben es verstanden. Auch meine Freunde haben es mir nicht übelgenommen. Der Entschluss wegzugehen, hat sich für mich trotzdem ein wenig wie Verrat angefühlt.“
Die Hochzeit war ein Abschied
Ungefähr sechs Monate nach der Antragsstellung, im Dezember 1984, bekam das Paar die Genehmigung, heiraten zu dürfen.
Sigrid und Jaap-Willem vor dem Standesamt in Berlin-Friedrichshain im Dezember 1984 (© Hütter)
Sigrid und Jaap-Willem vor dem Standesamt in Berlin-Friedrichshain im Dezember 1984 (© Hütter)
‚‚Die Heirat war für mich vor allem ein Abschied. Diese Kapelle, wo meine Familie und alle meine Freunde saßen; es war ganz deutlich ein Ende.“
Obwohl Jaap-Willems Familie zur Hochzeit einreisen durfte, bekam sein Zwillingsbruder keine Erlaubnis.
‚‚Jaap-Willems Bruder war auch Teil der Friedensbewegung und dadurch einige Male in der DDR. Dass es Zwillingsbrüder gab, hat die Stasi ziemlich genervt und verunsichert. In der Stasi-Akte lasen wir später wortwörtlich: Zielperson 1: 2 Meter, Bart, weiße Jacke. Zielperson 2: 2 Meter, Bart, gelbe Jacke. Und danach: Passt auf, es gibt zwei! Sie haben es einfach nicht auf die Reihe gekriegt und darum vermutlich seinen Einreisewunsch abgelehnt.“
Sofort nach der Eheschließung reichten Sigrid und Jaap-Willem ihren Antrag auf Familienzusammenführung ein. Die Antwort kam schnell: Schon am 5. Januar, knappe zwei Wochen nach der Hochzeit, musste Sigrid das Land verlassen. Genauso wie Ursula, musste sie ihren Ausweis abgeben und erhielt dafür einen Reisepass, mit dem sie jederzeit wieder in die DDR einreisen konnte. Genauso wie Ursula, durfte sie die DDR-Staatsbürgerschaft behalten. Zwei Privilegien, die Menschen, welche die ständige Ausreise aus der DDR anstrebten und sich nicht auf Familienzusammenführung berufen konnten, nicht besaßen. Da eine ‚normale‘ Ausreise in der Regel mit einem Antrag auf die Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft verbunden war, verloren sie das Recht, Freunde und Familie zu besuchen, daher wurde ihnen in der Regel für mindestens fünf Jahre die Wiedereinreise in die DDR verwehrt. Aber natürlich hätte es auch bei Ursula und Sigrid anders verlaufen können. Es war schließlich bekannt, dass Regeln und Gesetze in der DDR mit Flexibilität ausgelegt wurden. So wurde das Helsinki- Abkommen in der Anfangszeit eher als Kann- und nicht als Mussbestimmung interpretiert. Als Sigrid später ihre Stasi-Akte las, bekam sie fast den Eindruck, dass die DDR-Administration ihren Antrag eigentlich ablehnen wollte. Warum sie dies doch nicht tat?
‚‚Ich kann mir vorstellen, dass ich in ihren Augen keine Vorbild-Bürgerin war. Ich war in der Friedensbewegung, war nicht gleich in die Freie Deutsche Jugend (FDJ) eingetreten und ich hatte keine Kinder. Zudem war ich Lehrerin, und eine nicht-linientreue Lehrerin, das war natürlich nicht gut. Das alles hat wahrscheinlich eine Rolle bei der Entscheidung gespielt, aber sicher werde ich es wohl nie wissen. Es war doch alles total willkürlich.“
Mission ausländischer Partner
So, wie Ursula und Sigrid, hatte sich auch die Dresdner Malerin Christine Schlegel (geboren 1950) weitgehend mit ihrem Leben in der DDR arrangiert. Diejenigen, die in der DDR Kunst studieren durften, mussten nach dem Studium für den Staat arbeiten und sozialistisch geprägte Aufträge annehmen. Christine entschied sich aber für einen alternativen Weg: Zusammen mit KünstlerfreundInnen wie unter anderem Leo Lippold, A. R. Penck, Cornelia Schleime und Peter Herrmann war sie Teil der freien Externer Link: ost-deutschen KünstlerInnenszene Dank einer starken Vernetzung und der Bereitschaft, einander zu helfen, schafften sie es, unabhängig von Staatsaufträgen eine Existenz aufzubauen. ‚‚Wir haben zum Beispiel immer wieder von einem wichtigen Chefrestaurator in Dresden Arbeit bekommen, sodass wir in den Kirchen und Burgen restaurieren konnten. In gewisser Weise waren wir dadurch unabhängig von der ganzen Unterdrückung. Es war ein System im System, fast wie so ein eigener Schutzraum.“
Dass sich ihr positives Gefühl in den späten Siebzigern und den frühen Achtzigerjahren änderte, hatte sowohl persönliche als auch gesellschaftliche Gründe.
‚‚Ich habe damals viele Schmalfilme gedreht, besonders Animationen und experimentelle Sachen interessierten mich. Mit der Super-8-Kamera, die ich besaß, ging das aber so gut wie gar nicht. Und so gab es halt immer mehr Dinge, die man nicht umsetzen konnte, weil die richtigen Materialien fehlten.“
Außerdem hatte die Ausbürgerung des regimekritischen Liedermachers Wolf Biermann im November 1976 einen großen Effekt auf die Künstlerszene [Verlinken auf https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/146198/kulturelite-im-blick-der-stasi]: Es kam zu Protesten und zu einer Ausbürgerungs- und Ausreisewelle von Intellektuellen, so dass immer mehr von Christines Freunden in den Westen verschwanden.
‚‚Es wurde mir alles zu eng und einsam. Die Vorstellung, dass ich so nicht mehr leben kann, hat sich immer mehr verdichtet.“
Ein regulärer Ausreiseantrag kam für Christine nicht in Frage. Ihre Mutter hatte mit schweren Depressionen zu kämpfen, und Christine wusste, dass eine reguläre Ausreise in der Regel mit einem Verlust ihrer Staatsbürgerschaft verbunden war und sie ihre Mutter somit für mehrere Jahre nicht mehr besuchen könnte. Aber sie wusste, dass es noch einen anderen Weg gab.
‚‚In meinen Kreisen war es durchaus bekannt, dass man über eine Eheschließung mit einem Ausländer DDR-BürgerIn bleiben konnte. Es kam häufig vor. Eine Restauratorin, die ich kannte, hat damals einen Holländer geheiratet. Keine Ahnung, wie echt das war. Und eine Schauspielfreundin war erst mit einem Schweden zusammen und ist danach mit einem Österreicher ausgereist. Für einige Kunststudentinnen war es sogar ein Hauptziel, um einen Ausländer zu treffen und zu heiraten.“
Ja, ich will – ein bemaltes Teeservice
Einmal pro Jahr trafen sich die ausgereisten und zurückgebliebenen KünstlerInnen aus Christines Gruppe in der Tschechoslowakei zum Austausch von Materialen, Informationen und Erfahrungen. 1985 oder 1986 war auch der Maler Leo Lippold, der 1980 nach Amsterdam ausgereist war und dort als Hausbesetzer die ehemalige Fabrik Tetterode besetzt hatte, mit dabei. In Tetterode hatte Lippold eine recht erfolgreich gewordene niederländische Galerie gegründet, die Aschenbach Galerie, wo er die Kunst seiner alten Freunde aus dem Osten zeigte und so zu einem wichtigen Dreh- und Angelpunkt für das niederländische und ostdeutsche Kunstgeschäft geworden war. Beim Treffen in der Tschechoslowakei erzählte Lippold, dass in Tetterode ein niederländischer Maler lebe, der bereit sei, eine Zweck-Heirat einzugehen. ‚‚Was ihn dazu bewegt bewogen hat, weiß ich nicht genau, aber ich glaube, er erhoffte sich einen gewissen Erfolg. Er hatte bis dato keinen Galeristen und hat sich wohl versprochen, dass er bei Leo mit einsteigen kann, wenn er ihm sozusagen eine Gunst erweist.“
Christine beschloss, sich auf das Angebot einzulassen, Geld hat sie dafür nicht bezahlt. ‚‚Er hat von mir ein bemaltes Teeservice bekommen, das war auch wenigstens einen Tausender wert.“ Sie und der niederländische Maler schrieben sich erdichtete Liebesbriefe, denn echt sollte das Ganze schon aussehen. Vermutete die Stasi nämlich, dass die ausländische Liebe nur als Vorwand benutzt wurde, um das Land zu verlassen, wäre dies ein Grund gewesen, um die Eheschließung nicht zu genehmigen. Auf diese Weise wurden bewusst Liebesbriefe für die Stasi geschrieben, da davon ausgegangenen werden konnte, dass die grenzüberschreitende Post „mitgelesen“ wird. Ohne ihren zukünftigen Ehemann jemals gesehen zu haben, beantragte Christine dann auch die Eheschließung und – genauso wie Ursula und Sigrid – nach der vollzogenen Hochzeit die Ausreise.
‚‚Alles verlief reibungslos, aber nachdem ich meinen Reisepass schon bekommen hatte und alle Laufzettel abgearbeitet hatte, hieß es auf einmal, sie können mich nur rauslassen, wenn ich eine Einreise-Erlaubnis von Holland vorweise. Da ich die niederländische Botschaft als DDR-Bürgerin ja nicht betreten durfte, hätte ich nach Holland schreiben und auf die Genehmigung warten müssen. Das hätte ich nie geschafft, denn es gab ja eine sehr begrenzte Ablaufzeit für den DDR-Bescheid. Da hatte ich plötzlich das Gefühl, die haben mich bloß verarscht.“
Christine kontaktierte daraufhin den bundesdeutschen Diplomaten Winfried Sühlo, einen persönlichen Kontakt aus der „Ständigen Vertretung der BRD in Ost-Berlin“.
‚‚Er hat mir gesagt, er kenne den holländischen Botschafter, der führe wie er auch immer früh seinen Hund aus. Die beiden haben sich dann an der Spree getroffen. Mit Hundeflöhen, aber halt nicht mit Wanze. Der Winni hat den Botschafter gebeten, mir bis zum nächsten Tag die Einreise-Erlaubnis zu besorgen und das hat er dann auch gemacht. Man hat sich amüsiert über diesen Quatsch, aber es war kein angenehmer Quatsch. Weil natürlich war immer die Frage war, ob der Plan dann doch noch eskaliert.“
Das Alte weiter haben
Dass dies nicht der Fall war, ist auffallend, denn seinerzeit war der Szene-Schriftsteller Sascha Anderson, der nach der Wende als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi enttarnt wurde, ebenfalls Teil des alternativen ost-deutschen Künstlertreibens und war aktiv in Christines Ausreise eingebunden. Die Liebesbriefe waren sogar seine Idee.
‚‚Im Nachhinein war das eine ganz merkwürdige Situation, absurder hätte es kaum sein können. Auf der einen Seite war Anderson dieser Untergrundguru, der uns allen Kunstverkäufe organisiert und sich um meine Ausreise gekümmert hat, auf der anderen Seite steckte er mit der Stasi unter einem Hut. Da später nie ein Gespräch mit ihm möglich war, habe ich nie verstanden, ob er tatsächlich zwei Figuren gelebt hat und in gewisser Weise schizophren war. Ich denke mal, dass es eine Persönlichkeitsstörung war und nicht politisch.“
Warum sie das Land verlassen durfte, obwohl sehr wahrscheinlich bekannt war, dass ihre Hochzeit ausschließlich einer Zwecke-Ehe diente, ist ihr bis heute unklar geblieben:
‚Die waren bestimmt froh, dass die ganze Gruppe draußen war. Wir aufmüpfigen Künstler und Künstlerinnen waren ein rotes Tuch für die.“