Der Teilung auf der Spur
32 Jahre nach der Einheit: Orte der Berliner Mauer zwischen Authentizität, Massentourismus und Gedenken
Anna von Arnim-RosenthalSusanne MuhleJulia ReuschenbachAnna von Arnim-Rosenthal / Susanne Muhle / Julia Reuschenbach
/ 27 Minuten zu lesen
Link kopieren
Was in Berlin erinnert noch an die Deutsche Teilung vor über 32 Jahren? Drei ehemalige Mauerorte stechen hervor - und zählen jährlich bis zu vier Millionen BesucherInnen. Aber was ist dort noch vermittelbar? Eine Spurensuche.
Über 61 Jahre nach dem Mauerbau und rund 33 Jahre nach dem Mauerfall ziehen die East Side Gallery und der ehemalige Checkpoint Charlie jährlich Millionen Touristinnen und Touristen an, die nach Antworten suchen: Was war die Mauer, warum wurde sie gebaut und wie wurde sie überwunden? Was bedeutet das für die Orte und für ihr Zusammenspiel mit der als Erinnerungs- und Lernort etablierten Gedenkstätte Berliner Mauer? Was ist bei der Entwicklung von neuen Angeboten an diesen Orten zu beachten, zumal die Mehrzahl der Besucherinnen und Besucher den Kalten Krieg nicht mehr selbst miterlebt hat und entsprechende Gedenktage kaum noch einordnen kann?
Dennoch haben sich seit dem Fall der Mauer im November 1989 die Relikte, Spuren und Überreste des monumentalen "Bauwerks" der SED-Diktatur zum "must-see" für Touristinnen und Touristen entwickelt. Längst haben auch das Land Berlin und der Bund dieses Potenzial erkannt, das vor drei Jahrzehnten kaum jemand erahnt hat. Damals wurde lange kontrovers diskutiert, ob Teile der Grenzanlagen überhaupt erhalten bleiben sollten.
Der Umgang mit der Mauer und ihren Resten hat sich unter dem Einfluss der erinnerungskulturellen und „geschichtspolitischen Debatten über den Ort der DDR in der deutschen Geschichte“ entwickelt, wie der Historiker Sebastian Richter verdeutlicht.
„Während der neunziger Jahre, als der Abriss der Mauer – politisch kaum hinterfragt – rasch voranschritt, existierte noch eine unverbundene Bandbreite im Umgang mit ihr. Sie schloss künstlerische und kommerzielle Verwertungsinteressen ebenso ein, wie erste, gegen den Zeitgeist ankämpfende Bewahrungsinitiativen.“
Diese vor allem zivilgesellschaftlich getragenen Initiativen führten zum Erhalt vieler Mauerorte und 1998/1999 – nach langen politischen Diskussionen – zur Einrichtung eines Denkmals und Dokumentationszentrums an der Bernauer Straße. Ein übergreifendes Konzept, wie in Berlin mit den Spuren der Mauer umgegangen werden soll, gab es hingegen bis weit in die 2000er Jahre nicht.
Die lange Zeit geführten politischen Debatten erhielten erst durch umstrittene private Gedenkaktionen so starken öffentlichen Druck, dass der Berliner Senat im Jahr 2006 ein „Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer“ erarbeiten ließ und verabschiedete. Es dient bis heute als Richtschnur und wird von der Bundesregierung mitgetragen. Das Konzept sieht eine Verknüpfung der zahlreichen und vielfältigen Mauerorte in Berlin vor, die sich in ihrer thematischen Ausrichtung ergänzen sollen.
Zum zentralen Erinnerungsort wurde die zwischen 1998 und 2010 ausgebaute Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße erhoben und mit dem Auftrag versehen, die Reste der Grenzanlagen zu bewahren, die Geschichte der Teilung Berlins zu dokumentieren und zu vermitteln sowie ein würdiges Gedenken an die Opfer zu gewährleisten.
Die Gedenkstätte ist heute als „nationaler Gedenkort“ für die Toten des Grenzregimes der DDR und der Berliner Mauer weltweit bekannt und wird jährlich von mehr als einer Million Menschen besucht. Bei ihrer Gestaltung wurde – im Gegensatz zu dem dort bereits bestehenden Denkmal – auf Rekonstruktionen verzichtet. „Augenmaß, Authentizität, Ausdrucksstärke und Anteilnahme für die Opfer“ kennzeichnen die Gestaltung entlang des ehemaligen Mauerverlaufs.
Die kunstgeprägte East Side Gallery entlang der Mühlenstraße bis zur Oberbaumbrücke, (die Friedrichshain im Osten und Kreuzberg im Westen seit 1990 wieder miteinander verbindet), wird in dem Gesamtkonzept hingegen als Ort skizziert, an dem es weniger um die „Erinnerung an Schrecken und Opfer" geht, sondern eher um die „euphorische Maueröffnung und ästhetische Aneignung“ der Mauer. „Dieser längste erhaltene Mauerabschnitt veranschaulicht zwar besonders gut die räumliche Trennwirkung der Mauer im Stadtgefüge, vermag jedoch die Abschreckungswirkung und die Gefahren des früheren Grenzstreifens nicht zu vermitteln". Dieser Ort wurde am Abend des 30. September 2022 feierlich als weiterer Ausstellungsbestandteil der Stiftung Berliner Mauer eröffnet.
Für den Checkpoint Charlie in Berlins Stadtmitte verweist das Konzept auf seine „besondere historische Prägung“, die er „durch die Konkurrenz der Weltmächte“ erfahren habe. Der dortige Erinnerungsort solle sich dementsprechend den weltpolitischen Bezügen der Berliner Mauer, dem Kalten Krieg widmen. Für beide Orte und ihre Entwicklung stellt das Gesamtkonzept aber auch eine problematische Ausgangslage fest: East Side Gallery und Checkpoint Charlie waren und sind aufgrund ihrer attraktiven Lage auch für internationale Investoren interessant, die mitunter sehr viel Druck ausüben, hier möglichst viel vermietbaren Raum zu schaffen, was die Planung und Durchsetzung von Erinnerungsorten selten erleichtert. Das hat in der bislang bestehenden Bauplanung die eigentlich geplante Fläche für ein integriertes Museum über den Kalten Krieg am Checkpoint Charlie mittlerweile von ursprünglich einmal zugesagten 3.000 auf inzwischen nur noch 400 Quadratmeter reduziert.
Tragende Institution des Gesamtkonzepts ist seit 2009 die Stiftung Berliner Mauer, die unter ihrem Dach die Gedenkstätte Berliner Mauer, die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, die Gedenkstätte Günter Litfin in einem ehemaligen Wachturm sowie seit November 2018 die East Side Gallery vereint. Zudem ist sie seit 2016 durch das Land Berlin mit der Einrichtung eines Bildungs- und Erinnerungsortes am früheren Checkpoint Charlie beauftragt. Wenn die Beabauung dort in Gang kommt. Ihre bislang an diesen Orten gemachten Erfahrungen zeigen: Die treibende Kraft für die Besucherinnen und Besucher ist „die Mauer“ – das Bauwerk, das einst in kaum vorstellbarer Weise die Stadt geteilt hat und das heute das Symbol für den Kalten Krieg und seine friedliche Überwindung ist.
Die Erwartungen der Besucherinnen und Besucher sind jedoch je nach Ort leicht unterschiedlich gelagert – vor allem, wenn sie schon (historische) Bilder der Orte im Kopf haben: Die Bernauer Straße als „der Kristallisationspunkt des Mythos Mauer“ ist als Gedenk- und Informationsort etabliert, an dem zahlreiche Reste der Grenzanlagen zu entdecken sind.
Vor allem die „Grenzmauer 75“, die letzte Ausbaustufe der Berliner Mauer, hat für viele Besucherinnen und Besucher den größten Wiedererkennungswert und zeigt sich in der Bernauer Straße mit den Spuren der Mauerspechte von 1989/90 und mit ihrer charakteristischen Rohrauflage. Nicht selten suchen Touristinnen und Touristen hier auch die “bunten Bilder”, also die Kunstwerke der East Side Gallery. Dort ist die Grenzmauer 75 zwar ebenfalls erhalten geblieben, aber die Anziehungskraft dieses Ortes geht vor allem von jenen Kunstwerken aus, die seit 1990 geradezu ikonenhaft als Freiheitssymbole weltberühmt geworden sind.
Die Anziehungskraft des Checkpoint Charlie basiert hingegen auf dem Mythos, der ihn als Schauplatz des Kalten Kriegs umgibt und Besucherinnen und Besucher aus der ganzen Welt anlockt. Die meisten von ihnen kennen die an diesem Ort entstandene Bildikone: die US-amerikanischen und sowjetischen Panzer, die sich hier im Oktober 1961 bedrohlich gegenüberstehen. Und sie kommen oft auch in der Hoffnung, an diesem weltbekannten Ort die Mauer zu sehen – aber hier sind kaum historische Spuren erhalten geblieben. Nur historische Großfotomotive auf einem Bauzaun zur Begrenzung des geplanten Baugrundstücks ermöglichen anschaulich Zeitreisen in die Vergangenheit des Ortes zurück.
East Side Gallery und Checkpoint Charlie haben gemeinsam, dass sie mit jeweils etwas mehr als vier Millionen Besucherinnen und Besuchern im Jahr zu den Top-Sehenswürdigkeiten der Stadt zählen. Im Schatten ihrer starken touristischen Anziehungskraft steht ihr regelrechtes Verschwinden im Alltag der Stadtgesellschaft: Für viele Berlinerinnen und Berliner ist der Checkpoint Charlie eher ein Unort, den sie meiden – zu viele Touristinnen und Touristen, zu viel Verkehr, zu viel Trubel, zu viel Kommerz. Das Gleiche gilt für die East Side Gallery, auch wenn hier zumindest die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Anrainer die Parks an der Spree als Fitness- und Pausenraum nutzen und viele Kiezbewohnerinnen und -bewohner aus Kreuzberg und Friedrichshain den Wunsch äußern, an der Nutzung der Parks und der Entwicklung dieses Ortes teilhaben zu können.
Der vorliegende Beitrag gibt Einblick in die Entwicklung dieser drei unterschiedlichen Orte, die in den vergangenen 32 Jahren erinnerungskulturelle und geschichtspolitische Zuschreibungsprozesse durchlaufen haben. Die etablierte Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße dient dabei in erster Linie als Kontrastfolie für die beiden in der Entwicklung befindlichen Orte East Side Gallery und Checkpoint Charlie. Die Autorinnen fragen danach, mit welchen Erwartungen die Besucherinnen und Besucher kommen, wie die Stiftung Berliner Mauer damit in der Zukunft umgehen kann und welche Potenziale die historischen Orte haben, sich zukünftig zu zeitgemäßen Informations- und Bildungsorten zu entwickeln.
Touristenmagnete: Die Orte und ihr Ruf
Viele der Besucherinnen und Besucher der East Side Gallery haben die Vorstellung im Kopf, an einen authentischen Ort zu kommen, der als Beweis steht für die Möglichkeit und Aussicht, Diktaturen friedlich zu beenden. Ein Ort, an dem sich die Überwindung der Vergangenheit Berlins als geteilte Stadt manifestiert hat und deutlich sichtbarer ist als an anderen Mauerorten.
Als die mehr als hundert Künstlerinnen und Künstler 1990 ihre Bilder auf die usprünglich weißgraue Ostseite der Grenzmauer 75 malten, ahnten sie nicht, dass diese nur ein Jahr später durch die Eintragung in die Denkmalliste des Landes Berlin einen nachhaltigen Schutzstatus erhalten würden.
Für sie waren die Bilder vor allem eher spontane Kommentare des Umbruchs, Rückblicke auf das Leben in oder mit einer Diktatur und gleichzeitig Ausblicke in ein vereintes Europa. Heute, über 30 Jahre später, zeugen die Kunstwerke der East Side Gallery nicht nur von der friedlichen Überwindung, sondern auch von der Eroberung, der Aneignung und Inbesitznahme dieses früheren Sperrelements.
Die in der Interner Link: Nacht zum 10. November 1989 beginnende Umdeutung der Berliner Mauer von der trennenden und todbringenden Grenze hin zu einem Freiheitssymbol findet hier wie an keinem anderen Ort ihren Ausdruck. Die Kunstwerke stehen für die Menschenmassen, die von Ost nach West strömten, für die geöffneten Schlagbäume, für die sich umarmenden Menschen und den Freudentaumel im November 1989. Sie sind aber nicht allein Ausdruck eines glücklichen historischen Moments, sie sind auch Verheißung und vermeintliches Versprechen für die Zukunft: Der friedliche Protest von Vielen kann Mauern zum Einsturz bringen.
Die Aneignung der Berliner Mauer durch die Kunst macht die East Side Gallery in den Augen vieler Besucherinnen und Besucher zu einem Ort, an dem Vorstellungen artikuliert und künstlerisch zum Ausdruck gebracht werden können. Dies zeigt sich in den zahlreichen Writings, Graffitis und in der Street Art, die bereits ab 1990 auf der Rückseite der East Side Gallery angebracht wurden und die bis heute unaufhörlich ergänzt werden. Sie können einerseits als Ausdruck der ungebrochenen Magnetkraft der Mauer und der Bedeutung der East Side Gallery als künstlerischer Aneignungsort gesehen werden: „Ich wollte einmal auf die Berliner Mauer malen! Deswegen bin ich nach Berlin gekommen", erklärte zum Beispiel ein Besucher aus Israel sein Writing an der East Side Gallery. Sie reagieren andererseits auch auf die Neugestaltung der Stadt, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite eindrücklich vollzieht.
Als unerlaubte Eingriffe in den Stadtraum folgen die Graffitis und die Street Art teils einer politischen, teils einer künstlerischen Motivation. Sie sind Ausdruck eines Partizipations- und Aneignungsbedürfnisses, zu gestalten, mitzuentscheiden und Raum für sich zu beanspruchen. Mit den im Sinne des Denkmalrechtes genehmigungsbedürftigen Veränderungen an der Rückseite der East Side Gallery, die sich (zumeist) einem kommerziellen wie kuratorischen Eingriff entzieht, stehen die Bemalungen im Gegensatz zu den Kunstwerken von 1990. Diese resultierten aus einer geplanten, organisierten und kuratierten Aktion, die sogar durch den Ministerrat des untergehenden Staates DDR genehmigt worden war und für die man überdies Verkaufsstrategien entwickelt hatte.
Ein „bislang unkuratiertes Gelände“
Die East Side Gallery hat zum jetzigen Zeitpunkt noch das Image eines nahezu unkuratierten Geländes, das ein Eintauchen in die kreative und hippe Metropole ermöglicht, in das „Berliner Gefühl“ von Individualität, Laisser-faire und Freiheit. Ist sie gerade auch deshalb für die internationalen Touristinnen und Touristen ein must-see, haben die Bebauungen und der Verkauf von Grundstücken in dieser attraktiven Spree-Lage, die vielen neuen Hotels, das große Entertainment-Areal mit Arena, Kino, Veranstaltungshalle und Shopping-Mall, die Büroräume und Eigentumswohnungen das Areal für viele Berlinerinnen und Berliner in einen Unort verwandelt und alteingesessene Kiezbewohnerinnen und -bewohner verdrängt.
Es ist dieses aus mehreren Aspekten zusammen gesetzte Image, das die Attraktivität der East Side Gallery ausmacht. Es ist so stark, dass ihm auch die Tatsache, dass es sich bei den Kunstwerken dort inzwischen um Kopien handelt und nicht mehr um Originale, keinen Abbruch tut. Denn die Mauerbilder von 1990 sind heute, mit einer Ausnahme, nicht mehr erhalten.
Aufgrund der Witterung, der Zerstörungen und der Beschmierungen wurde die East Side Gallery immer wieder in Teilen und 2008/2009 schließlich vollständig saniert. Um das Mauerwerk instand zu setzen, wurden die Kunstwerke abgestrahlt, also zerstört, und von den Künstlerinnen und Künstlern selbst neu aufgetragen oder von Künstlerinnen und Künstlern anderer Bilder kopiert – in diversen Fällen wichen diese dabei vom Original von 1990 ab. Es zeigt sich, dass die Authentizität diesem historischen Ort durch die Besucherinnen und Besuchern zugeschrieben wird und sich nicht aus der Originalität der historischen Überreste selbst ergibt.
Dazu gehört, dass die East Side Gallery schließlich ein Mauerort ist, dessen Dimension sich nicht von sich heraus vollständig erschließt. Es gibt bisher weder zur Kunst, noch zur Mauer Informationen am Ort, weil ein langfristiges und nachhaltiges Erhaltungs-, Pflege- und Vermittlungskonzept sowie eine Finanzierung fehlten. Beides konnte erst vor dem Hintergrund des bürgerschaftlichen Engagements gegen den erneuten Verkauf von Teilen der East Side Gallery 2013 und durch die Übertragung an die Stiftung Berliner Mauer erreicht werden. Aus diesem Grund sind bisher der ehemalige Grenzverlauf, die besondere Ausführung der Hinterlandmauer als „Grenzmauer 75“, und die topographischen Besonderheiten dieses Mauerortes nicht erkennbar. Auch die Vergangenheit der Mühlenstraße als Teil eines florierenden Hafen- und Industriegeländes, stark geprägt durch die Nähe zum Schlesischen (heutigen Ost-)Bahnhof, und als funktionierender urbaner Raum stellt sich nicht dar. Die zerstörende Aneignung dieses Raums durch das DDR-Grenzregime sowie die Einzigartigkeit der Malaktion von 1990, die Eingriffe in die East Side Gallery im Zuge von Bauprojekten in den vergangenen Jahren und der Denkmalschutzstatus erschließen sich nicht. Dieser Umstand evoziert bei Besucherinnen und Besuchern die am häufigsten gestellte Frage: „Wo war Ost-Berlin , wo verlief hier die Grenze?", der nicht selten nachfolgt: „Wieso sieht die Mauer hier so aus?" und „Darf man die Mauer bemalen?"
Das Fehlen authentischer Spuren
Ein ähnliches Bild zeigt sich am Mauerort Friedrich-/ Ecke Zimmerstraße, wo das Fehlen authentischer Spuren noch gravierender zutage tritt. Hier sind die DDR-Grenzübergangsstelle und die Grenzanlagen nahezu vollständig verschwunden. Größtenteils wurden sie bereits 1990 aus dem Stadtbild getilgt. Ein Wachturm in Gestalt einer Führungsstelle blieb noch bis ins Jahr 2000 erhalten, bevor er im Zuge der Vorbereitung eines nie realisierten Neubauprojektes abgerissen wurde.
Kaum noch historische Spuren. Am Checkpoint Charlie im Juni 2021.
Die Besucherinnen und Besucher sehen heute nur noch das rekonstruierte Häuschen des einstigen alliierten Kontrollpunkts in der Version von 1961, das in den Folgejahren mehrfach umgebaut wurde und 1989 aus einem Containerbau bestand, und die Nachbildung des einstigen Sektorenschilds als vermeintlich authentische Spuren. Ferner gibt es verschiedene, in den 1990er Jahren eingebrachte Erinnerungszeichen, unter anderem die doppelte Pflastersteinreihe zur Markierung des Grenzverlaufs und eine Kunstinstallation mit großformatigen Portraits von einem US-amerikanischen und einem russischen Soldaten. Informationshungrige finden bislang (temporäre) Angebote wie die "BlackBox Kalter Krieg", eine Bauzaunausstellung zur Geschichte des Ortes, das Asisi-Panorama “Die Mauer” sowie das private Museum “Haus am Checkpoint Charlie/Mauermuseum”, das schon seit 1963 an diesem Ort ist.
Der Umstand, dass hier kaum bauliche Reste der DDR-Grenzanlagen – abgesehen von unterirdischen Kabelschächten und einer wenig aussagekräftigen Mauer der einstigen Vorfeldsicherung, die eine Nutzfläche innerhalb der Grenzübergangsstelle separierte – und nichts Originales des früheren alliierten Kontrollpunkts zu entdecken sind, mindert den Bekanntheitsgrad und die Besucherzahlen bislang aber keineswegs.
Auch wenn die Abwesenheit authentischer Spuren durchaus wahrgenommen wird: „I wanted to see Checkpoint Charlie because of its historical meaning, but I don´t like the appearance, it has no authenticity.”, lautete ein Kommentar in einer kleinen Besucherbefragung 2018.
Mit dem Verlust der öffentlichen Förderung aufgrund finanzieller Unregelmäßigkeiten ging eine Privatisierung des Museums einher. Die veraltete Ausstellung bietet beeindruckende Exponate, missachtet aber museale Standards. Vgl. Frank, Der Mauer um die Wette gedenken (Anm. 2); Hanno Hochmuth, Zwischen Panzern und Raketen. Geschichtspolitik am Checkpoint Charlie, in: Frank Bösch und Martin Sabrow (Hg.), Potsdamer Almanach zur Zeitgeschichte 2019, Göttingen 2019, S. 81–91. Eine 70-jährige Berlinerin, die mit ihrer Tochter und Enkelin vor Ort war, konstatierte bei einer Befragung 2014: „Die Mauer ist ja überall weg! Die authentische Mauer fehlt, um zu begreifen, was hier am Checkpoint Charlie war. Wie es hier mal aussah, das kann man nicht mal erahnen, wenigstens die Soldaten geben ein bisschen das Gefühl wieder.” Mit den Soldaten meinte sie Darsteller in US-Uniformen, die sich bis 2019 als Fotomotive vor dem rekonstruierten Kontrollhäuschen anboten, aber kaum vermitteln konnten, wie die Situation vor Ort bis zum 9. Nobember 1989 real war.
In der Fachöffentlichkeit ernteten die Darsteller viel Kritik, sie galten als Inbegriff der „Disneyfizierung“ des historischen Ortes. Bei Touristinnen und Touristen waren sie hingegen durchaus beliebt. Ihr Fehlen ändert allerdings nicht die Fixierung der Besucherinnen und Besucher auf das Kontrollhäuschen. Es macht den Checkpoint Charlie – zusammen mit zwei L-förmigen Mauersegmenten der „Grenzmauer 75“ und damit den Sinnbildern „der Mauer“, die im Vorhof der BlackBox Kalter Krieg stehen – zu einem der meistfotografierten Orte Berlins.
Dass insbesondere das in der Version von 1961 rekonstruierte Kontrollhäuschen am einstigen Checkpoint und die Neufassungen der Kunstwerke der East Side Gallery von 2008/09 eine solche Wirkung haben, bestätigt eine für alle drei Mauerorte geltende Beobachtung: Die Besucherinnen und Besucher suchen häufig nach einer Bestätigung für die Vorstellungen, die sie mitbringen.
Was bedeuten diese Gemengelagen für die weitere Entwicklung der Mauerorte? Wie können die historischen Spuren des DDR-Grenzregimes und der Alliierten in Berlin lesbar gemacht, die bisweilen stereotypen Vorstellungen aufgegriffen und das Gewordensein der Orte selbst veranschaulicht werden? Wie kann es der Stiftung Berliner Mauer gelingen, Besucherinnen und Besucher auf die facettenreichen Geschichten der Orte neugierig zu machen?
Mauerorte kuratieren
An der East Side Gallery ist die Stiftung Berliner Mauer vom Land Berlin beauftragt, das Denkmal zu erhalten, die zugehörigen Grünflächen zu pflegen und historisch-politische Bildungsarbeit an diesem Erinnerungsort zu etablieren. Die Stiftung hat die ersten zwei Jahre nach der Übertragung der East Side Gallery intensiv genutzt, um die Nutzungen und Interessen, das Gewordensein und die Zeitschichten, die Besucherinnen und Besucher und das Image des Ortes zu verstehen. Daraus resultiert das Verständnis, für die East Side Gallery nach Ansätzen und Formaten der Vermittlung zu suchen, die den Ort nicht überfrachten, ihn sich aneignen oder „fertig stellen“, sondern sein Potenzial unterstützen, das sich aus seiner Charakterisierung und seinen Nutzungen ergibt.
Die wichtigsten Akteure des Mauerortes sind die Künstlerinnen und Künstler, die konsequent in die Angebote einbezogen werden und Botschafterinnen und Botschafter des euphorischen Moments von 1990 sind. Ebenso wichtig sind die Besucherinnen und Besucher, die nicht allein ein Informationsbedürfnis haben, sondern, angeregt durch den Ort und seine Kunst, den Impuls haben, sich mitzuteilen und einzubringen. Für sie vermittelt sich der Ort nicht ausschließlich geschichts- und faktenbasiert, weil es für sie vielmehr ein emotionaler Ort ist, ein Ort der Hoffnung auf eine bessere Welt. Die Stiftung bezieht als dritte Gruppe die Bewohnerinnen und Bewohner des Kiezes sowie die Berlinerinnen und Berliner ein, um sie stärker als bisher an der Gestaltung des Ortes teilhaben zu lassen.
Die Arbeit der Stiftung sieht vor, die Vielschichtigkeit der East Side Gallery zu vermitteln, Zeitschichten sichtbar zu machen und historische Spuren zu erhalten. Im Zentrum steht eine kostenfreie dauerhafte Open-Air-Ausstellung, dieseit dem 30. September 2022 die Geschichte des Ortes einem breiten Publikum näherbringen soll, Schilder, Informationsstelen und multimediale Veranstaltungen sollen dabei helfen, dabei werden Filme mitunter open-air an die weiße Rückseite der Mauer projeziert. Ausgehend von der einzigartigen künstlerischen Aneignung des früheren Sperrelements im Jahr 1990 durch 118 Künstlerinnen und Künstler aus 21 Ländern, beschäftigt sich die Ausstellung sowohl mit der Geschichte des Ortes als Teil des DDR-Grenzregimes bis 1989/90 als auch mit den Geschichten des Transformationsprozesses von 1990 bis heute. Dieser doppelte Charakter ist das Alleinstellungsmerkmal des historischen Ortes, der sich als inhaltliche Leitlinie durch alle Angebote der Stiftung Berliner Mauer zieht.
Im Mittelpunkt stehen dabei die Kunstwerke der East Side Gallery, die nicht nur Freude über die Überwindung des Kalten Kriegs zeigen, sondern an denen auch Sorgen über eine ungewisse Zukunft ablesbar sind. Die Künstlerinnen und Künstler kommen zu Wort, in Videos wenden sie sich an die Besucherinnen und Besucher und bringen ihre Kunstwerke zum Sprechen. Auch die Veränderungen des Ortes sind ein wesentliches Thema, ist doch die stadträumliche Erschließung rund um das seit 1991 eingetragene Denkmal East Side Gallery bis heute eine Geschichte von Aneignungen und Zurückdrängungen aus dem öffentlichen Raum beziehungsweise. der Verwertung durch unterschiedliche Nutzungsinteressen. Dessen historische wie gegenwärtige Dimension werden in der Ausstellung ebenso behandelt wie der Wandel der vielfältigen Nutzungen an diesem Ort.
Die Ausstellung wird in den Parks entlang der Spree realisiert. Entstanden sind Informationsinseln in einer zurückhaltenden Gestaltung, die sowohl dem Freizeit- und Erholungscharakter der Parks, aber auch dem Denkmal East Side Gallery gerecht werden. Die Ausstellung liefert Basisinformationen, um den Ort zu verstehen. Vertiefende Inhalte werden auf einer begleitenden mobilen Webseite angeboten: Externer Link: www.stiftung-berliner-mauer.de/de/east-side-gallery. Beide Angebote sollen das forschende und entdeckende Lernen unterstützen und die Besucherinnen und Besucher zum eigenständigen Entdecken von Spuren und Geschichten einladen.
Schleppende Bearbeitung
Weitreichender als an der East Side Gallery ist am ehemaligen Checkpoint Charlie in den vergangenen Jahrzehnten eine touristische Infrastruktur gewachsen, die zum Großteil und in erster Linie kommerziell geprägt ist. Daneben sind die bereits erwähnten (temporären) Informationsangebote entstanden. Die Einrichtung eines Erinnerungsortes auf dem Grundstück nordöstlich der Kreuzung Friedrich- und Zimmerstraße hatte das Land Berlin zwar schon 1992 – nicht zuletzt aufgrund zivilgesellschaftlichen Engagements – vertraglich festgehalten, als es das Grundstück an einen Investor verkaufte. Da das Bauvorhaben nie realisiert wurde, das Grundstück mehrfach den Besitzer wechselte und mittlerweile immense Grundschulden auf dem Grundstück lasten, wartet der geplante Erinnerungsort aber bis heute auf seine Realisierung. Mittlerweile wird der Baubeginn auf 2008 geschätzt.
Seit einigen Jahren setzt sich die Berliner Landesregierung nun stärker für seine Einrichtung ein. Ein wichtiger Schritt erfolgte Anfang 2020, als das Abgeordnetenhaus einen Bebauungsplan für die beiden Grundstücke an der Ecke Friedrich-/Zimmerstraße verabschiedete. Der Bebauungsplan sicherte auf dem nordöstlich der Zimmerstraße gelegenen Grundstück eine Gemeinbedarfsfläche von 1.150 Quadratmetern, auf der ein musealer Bau errichtet werden durfte, und auf dem nordwestlichen Grundstück einen Stadtplatz von ähnlicher Größe. Doch diese Planung ist seit einem neuerlichen Besitzerwechsel erneut in der Diskussion.
Die zunächst zugesagten Freiflächen sind dringend erforderlich und werden bei gleichbleibendem oder sogar wachsendem Interesse kaum ausreichen. Ziel der Neugestaltung sollte es sein, mehr Aufenthaltsqualität und Rückzugsräume zu schaffen, die eine Auseinandersetzung mit dem Ort und seiner Geschichte ermöglichen. Zu denken ist hier an eine Verkehrsberuhigung wie sie in der angrenzenden Friedrichstraße schon modellhaft praktiziert wird und an einen musealen Bau, um die Freiflächen zu entlasten und einen Raum für inhaltliche Vertiefungen zu offerieren. Der museale Bau sollte durch seine Architektur über eine besondere Sichtbarkeit und Offenheit (als Kommunikationsraum) verfügen, aber möglichst viel Freifläche bewahren, zum Beispiel durch den Bau unterirdischer Räume. Soweit das Wunschprojekt.
Die bereits im Gesamtkonzept von 2006 definierte Idee zur inhaltlichen Ausrichtung des neu zu gestaltenden Erinnerungsorts trägt noch immer: der Kalte Krieg als internationale Dimension der Berliner Mauer.
„Wir brauchen einen Ort der reflektierten Erinnerung an die Teilung Europas und ihrer vielfältigen Dimensionen in Politik, Wirtschaft und Kultur, die den Riss durch Berlin als Ausdruck des ein halbes Jahrhundert in die Tiefe prägenden Gegensatzes zwischen zwei Welten erlebbar und erkennbar macht“, konstatierte Dieter Vorsteher vom Deutschen Historischen Museum damals.
Die 2006 errichtete Bauzaunausstellung und die 2012 eröffnete BlackBox Kalter Krieg – die mittlerweile viel länger vor Ort zu sehen sind als geplant – haben diesen Ansatz aufgegriffen und das globale Phänomen des Externer Link: Kalten Kriegs in Bezug zu Berlin und zum Checkpoint Charlie gesetzt.
Nun gilt es diesen Ansatz weiterzuentwickeln. Denn das ist das Potenzial des Ortes, das nicht nur Fachexpertinnen und Fachexperten im In- und Ausland konstatieren, sondern das auch durch die große Zahl von Touristinnen und Touristen aus der ganzen Welt sichtbar wird. Dabei scheinen vor allem Besucherinnen und Besucher aus dem Ausland dem Ort eine höhere historische Bedeutung beizumessen als die Berlinerinnen und Berliner selbst. Sie sind nicht nur auf der Suche nach Spuren der deutschen Teilungsgeschichte, sondern auch des Kalten Kriegs, der Teilung der Welt durch die Systemkonkurrenz zweier Machtblöcke.
Für die zukünftige Gestaltung des Erinnerungsortes bedeutet das: Zum einen muss der historische Ort lesbar gemacht werden, das heißt, die Geschichte des alliierten Kontrollpunktes und der DDR-Grenzübergangsstelle sollte mit den (noch vorhandenen und verschwundenen) Spuren veranschaulicht werden. Die Erwartungen vieler Besucherinnen und Besucher, authentische Reste zu sehen, müssen dabei aufgefangen werden, ohne durch weitere Rekonstruktionen den Ort zu verfälschen. Gerade um das Ausmaß der DDR-Grenzübergangsstelle von der Zimmer- bis zur Krausenstraße sichtbar zu machen, ist hierbei auch über gestalterische Elemente im Stadtraum nachzudenken. Zum anderen sollte hier – vertiefend in einem musealen Bau – der Kalte Krieg in seiner Vielschichtigkeit und aus unterschiedlichen Perspektiven thematisiert werden.
Ausgehend vom Checkpoint Charlie können Bezüge zu anderen Schauplätzen des Kalten Kriegs in der Welt hergestellt und die lokalen Erfahrungen mit den Erfahrungswelten der Menschen in anderen Ländern zur Zeit des Kalten Kriegs verknüpft werden. Ziel ist es, einen Ort zu schaffen, an dem Menschen aus dem In- und Ausland, Touristinnen und Touristen, Berlinerinnen und Berlinern miteinander ins Gespräch kommen über ihre Erfahrungen und Vorstellungen vom Kalten Krieg und dessen Nachwirkungen bis in ihre Gegenwart. Eine solche Ausrichtung könnte den Ort auch für die Stadtgesellschaft wieder interessanter machen.
Beide Orte bewegen sich dabei zugleich in einem Spannungsverhältnis, dem sich die Gedenkstätte Berliner Mauer schon seit ihrer Entstehung ausgesetzt sieht. Es geht darum, die Orte mit Informationen zu hinterlegen und Besucherinnen und Besucher zu ermöglichen, diese Orte „zu lesen“. Dabei dürfen sie jedoch nicht mit belehrendem und bildungspolitischem Impetus an ihre Besucherinnen und Besucher herantreten. Vielmehr müssen die Orte ihnen offen entgegentreten, Raum für Denkangebote und Denkanstöße schaffen und dürfen sich nicht auf eine Top-down-Adressierung staatlicher geschichtspolitischer Ziele verengen lassen.
Mauerorte öffnen für neue Formen der Teilhabe
Am Checkpoint Charlie wie an der East Side Gallery hat es die Stiftung Berliner Mauer mit Orten zu tun, die unter einem erheblichen Nutzungsdruck stehen und die nicht nur als Touristenorte, sondern insbesondere als öffentliche Orte im Stadtraum einem besonderen Interesse ausgesetzt sind.
Nicht zuletzt sind an beiden Orten auch die Vorstellungen bestehender bürgerschaftlicher Initiativen von großer Bedeutung. Diese Gruppen sollen über partizipative Formate während der Neugestaltung und darüber hinaus einbezogen werden. Dabei darf der Umstand, dass es sich um stark touristisch frequentierte Orte handelt, nicht als Manko gesehen werden. „Der Checkpoint Charlie ist einer der inklusivsten Orte Berlins und daher ein Glücksfall.“, konstatierte Sybille Frank im Beteiligungsverfahren zum Bebauungsplan am Checkpoint Charlie 2018. „Er zieht breite soziale Gruppen aus unterschiedlichsten Herkunftsregionen und Geschichtskulturen an.“
Dies gilt in gleichem Maße für die East Side Gallery: An beiden Orten gilt es, dieses Potenzial zu nutzen und sie auch für Berlinerinnen und Berliner wieder attraktiver zu machen.
An der East Side Gallery und am Checkpoint Charlie soll die interessierte Öffentlichkeit bereits in den Entstehungsprozessen beteiligt werden. Es wird dabei um die Einbindung der Stadtgesellschaft und der Besucherinnen und Besucher aus aller Welt gehen. Am Checkpoint Charlie gilt es darüber hinaus aber auch Wege zu finden, Vertreterinnen und Vertreter anderer Erinnerungsorte des Kalten Kriegs im In- und Ausland teilhaben zu lassen, denn hier sieht die Stiftung Berliner Mauer das Interesse am Ort und die Nutzungen des Areals als große Chance, gemeinsam einen demokratischen Erinnerungs- und Zukunftsort zu entwickeln, durch Informationen und eine dem Ort angemessen unkonventionelle historisch-politische Bildungsarbeit aufzuwerten sowie eine aus vielen Perspektiven resultierende Identität aufzubauen.
„Lebendiges Denkmal“
Die East Side Gallery soll indessen als ein lebendiges Denkmal und prozesshaft weiterentwickelt werden. Sie soll ein Ort für viele bleiben, ein Ort für Aktion, Kooperation und Interaktion. Ein sozialer Raum für Begegnungen, wo sich nicht nur die Stiftung Berliner Mauer mit Besucherinnen und Besuchern austauscht, sondern diese auch untereinander ins Gespräch kommen. Zu diesem Zweck wird die Open-Air-Ausstellung im Rahmen eines “Ausstellungslabors“von partizipativen Angeboten begleitet. Kiezbewohnerinnen und -bewohner, interessierte Berlinerinnen und Berliner sowie die internationalen Besucherinnen und Besucher werden eingeladen, ihre Betrachtung der East Side Gallery als Komplizen, Berater und Co-Architekten einzubringen und mit ihren Vorstellungen den Ort East Side Gallery mitzugestalten. Sie sollen darüber hinaus einbezogen werden in die kollaborative Entwicklung eines "Open Space Labs“.
Diese Aktionsfläche richtet sich an die Individualbesucherinnen und -besucher und stellt Angebote zur Verfügung, die nicht vorab gebucht werden müssen, sondern an denen sich jede/r spontan beteiligen kann, die genutzt werden können, sich aber nicht aufdrängen, die dazu einladen, sich mit den Geschichten des Ortes auseinanderzusetzen und die eigenen Erwartungen und Authentizitätszuschreibungen zu diskutieren und einzubringen. Gerade weil viele Besucherinnen und Besucher ein spezifisches Bild im Kopf haben, erscheint es wichtig, mit ihnen in einen Austausch zu kommen und eine Wissensvermittlung von ihren Fragen und Interessen ausgehend und dialogisch zu gestalten.
Der Zugang erfolgt darüber hinaus gegenwartsbezogen und orientiert sich an den Lebenswelten und Erfahrungsräumen der Teilhabenden. Sie erhalten eine historische Tiefe, in dem sie entlang der Fragen „Wem gehört die Stadt?", „Was kann Kunst?" und „Welche Freiheit?" mit der Ausstellung verknüpft sind. Unterstützt von den Berlinerinnen und Berlinern soll das Lab den Weg öffnen hin zu einer East Side Gallery, die Denk- und Freiräume bietet für ein heterogenes Stimmungsbild und unterschiedliche – orts- und themenbezogene – Nutzungen, die von der Stiftung kuratiert werden. Die East Side Gallery der Zukunft präsentiert sich in diesem Sinne als Raum für die Menschen dieser Stadt und ihre Besucherinnen und Besucher.
Die Beteiligungs- und Begegnungsräume dienen nicht allein der Erweiterung der eigenen Perspektiven und sie resultieren auch nicht ausschließlich aus der Charakterisierung eines historischen Ortes, der geprägt ist von Aneignungs- und Verdrängungsprozessen, der viele verschiedene Akteure einbezogen hat und einbezieht. Ganz wesentlich erscheint hier vielmehr auch, dass die thematische Ausrichtung der Kunstwerke und die sich geradezu verselbstständigte Botschaft der East Side Gallery trotz ihrer mehr als 30-jährigen Existenz in Bezug auf Aktualität und Kontroversität nichts eingebüßt haben.
Fazit
Die Berliner Mauer ist ikonisches Symbol des Ost-West-Konfliktes geworden, der die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte und Auswirkungen bis in die Gegenwart hat. Die verschiedenen Mauerorte im Stadtgebiet widmen sich diesem Kapitel mit seinen zahlreichen Facetten. Ihre Verbindung und aufeinander abgestimmte inhaltliche Schwerpunktsetzung, wie das Gesamtkonzept von 2006 sie vorgesehen hat, scheint den Besucherinnen und Besuchern allerdings kaum bekannt beziehungsweise bewusst zu sein.
In der Vermittlungsarbeit an den Mauerorten sollten ihre Mehrdimensionalität und ihre Vielschichtigkeit stärker als bisher zum Gegenstand der aktiven individuellen Auseinandersetzung gemacht werden und die Orte, nicht zuletzt auch im Rahmen neuer digitaler Möglichkeiten, stärker miteinander vernetzt und aufeinander bezogen werden. Den im Beitrag vorgestellten Orten fällt hier ein besonderes Gewicht zu, da sie die meistbesuchten Punkte an der ehemaligen Mauer sind und als solche auch eine Verteilungs- und Verweisfunktion haben um auch andere Standorte von Mauer und innerdeutschen Grenze wieder ins Bewusstsein zu rücken.
Ein weiterer Auftrag resultiert aus ihrer „Möglichkeit, Geschichte konkret zu verorten und sie mit ihrer materiellen Manifestation in den baulichen Relikten erfahrbar zu machen.“ Zu dieser Verortung von Geschichte gehört es auch, die verschiedenen Zeitschichten, Überformungen und Veränderungen historischer Orte aktiv zu thematisieren. Diese Mehrdimensionalität kann Besucherinnen und Besucher irritieren, bietet jedoch zugleich großes Potenzial. „Gerade die Irritation durch das Nebeneinander von Relikten aus mehreren Epochen kann ein Anstoß sein, die gängigen Authentizitätszuschreibungen und -erwartungen kritisch zu reflektieren und zu verstehen, warum die historischen Orte heute so sind, wie sie sind.“
Neben dieser eher erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Dimension haben gerade die East Side Gallery und der Checkpoint Charlie noch ein weiteres Potenzial, das in die Gegenwart beziehungsweise Zukunft führt. Sie fungieren als öffentliche Räume in einer dynamischen Metropole. Die gestalteten Mauerorte können so nicht nur Mittlerin zwischen historischem Ort und Besucherinnen und Besuchern, zwischen Vergangenheit und Gegenwart sein, sondern auch zwischen der Stadtbevölkerung und Touristinnen und Touristen, zwischen Stadtteilen sowie zwischen kommerzieller Stadtraumerschließung und Kiez.
Zitierweise: Anna von Arnim-Rosenthal / Susanne Muhle / Julia Reuschenbach, "Der Teilung auf der Spur – Orte der Berliner Mauer zwischen Authentizität, Massentourismus und Gedenken", in: Deutschland Archiv, 07.06.2021, aktualisiert von der DA-Redaktion am 30.9.2022. Link: www.bpb.de/334361
M.A., Politik- und Kulturwissenschaftlerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Berliner Mauer und dort Leiterin der East Side Gallery. Schwerpunkte ihrer wissenschaftlichen Arbeit sind die deutsche Teilung, die Erinnerungskultur und Denkmalpolitik sowie die schulische Bildung, das außerschulische Lernen an historischen Orten und die Zeitzeugenarbeit.
Dr., Historikerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Berliner Mauer und dort Leiterin des Projekts Erinnerungsort Checkpoint Charlie. Schwerpunkte ihrer Forschungs- und Ausstellungsarbeit sind die Wiedergutmachungspraxis von NS-Unrecht, das Ministerium für Staatssicherheit (insbesondere in den 1950er Jahren), die deutsche Teilung und der Kalte Krieg sowie die Erinnerungskultur in Deutschland.
MA, Politik- und Geschichtswissenschaftlerin, ist wissenschaftliche Referentin der Direktion der Stiftung Berliner Mauer. Schwerpunkte ihrer wissenschaftlichen Arbeit sind die deutsche Erinnerungs- und Geschichtspolitik (und deren politische Akteure im Besonderen), die Entwicklung des politischen Systems seit 1945, das außerschulische Lernen an historischen Orten und in Museen sowie Fragen der politik- und geschichtswissenschaftlichen Hochschuldidaktik.
Ihre Meinung ist uns wichtig!
Wir laden Sie zu einer kurzen Befragung zu unserem Internetauftritt ein. Bitte nehmen Sie sich 5 Minuten Zeit, um uns bei der Verbesserung unserer Website zu helfen. Ihre Angaben sind anonym.