Einleitung
Dem „Großen Sprung nach vorn“ (1958–1962) – in der Menschheitsgeschichte (bisher) wohl eine der katastrophalsten von Menschenhand initiierte Landwirtschafts- und Industrialisierungskampagne – fielen bis zu 40 Millionen Chinesen zum Opfer. Es handelt sich hier um die gleiche Kampagne, die von Walter Ulbricht, dem Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED, und den von der Partei kontrollierten DDR-Staatsmedien anfangs als großer Erfolg im Kampf gegen den westlichen Imperialismus gefeiert wurde – und das noch, als selbst Mao Zedong, der Vorsitzende der kommunistischen Partei Chinas, bereits Ende 1959 einsehen musste, dass der Sprung zu einer landesweiten Hungersnot geführt hatte.
Maos Kulturrevolution (1966-1976) wurde in Ostberlin hingegen von Anfang an sehr kritisch beurteilt, allerdings nicht, weil diese Millionen von Opfern kostete und das Land in einem von den Roten Garden initiierten Chaos und Terror versinken ließ. Vielmehr warnte Ostberlin in seiner staatlich gelenkten und kontrollierten Presse etliche Male davor, dass die Kulturrevolution und das Propagieren der vermeintlich „falschen“ Version des Marxismus-Leninismus den von der Sowjetunion geführten Kampf gegen den westlichen Imperialismus schwächen würde. Der Terror, das Töten und das Foltern durch die Roten Garden von 1966 bis 1969 wurden nur am Rande thematisiert. In Teilen wohl auch deswegen, weil in den ersten drei Jahren der Kulturrevolution das landesweite Chaos und die Gewalt derart explodierten, dass der Zugang zu belastbaren Informationen für ausländische Journalisten in China ohne Zweifel begrenzt war.
Der Große Sprung nach vorn – Katastrophe mit Ansage
Mitte der 1950er-Jahre entschied Mao, dass eine Steigerung von Chinas Stahl- und Landwirtschaftsproduktion durch eine radikale Kollektivierung zu erreichen sei. China sollte fortan gemäß Mao auf „zwei Beinen laufen“: Schwerindustrie und Landwirtschaft. Der Sprung hatte seine Anfänge im Jahre 1956 in der Provinz Henan, wo viele kleine Bauernhöfe in eine große Landwirtschaftskooperative eingegliedert wurden. Mao war begeistert, und Ende 1957/Anfang 1958 wurden daraufhin die ersten Volkskommunen in den Provinzen Henan und Hebei eingerichtet. Zuerst im Verwaltungsbezirk Xushui, wo der Parteioffizielle Zhang Guozhong Landbewässerungsprojekte im Stile einer Militärkampagne organisierte. Er rekrutierte
Die Arbeiter_innen und ihre Familien lebten fortan nicht mehr in Dörfern, sondern in separaten Lagern und Barracken. Bauern waren nicht mehr Bauern, sondern „Milizen“. Ende des Jahres 1958 war Chinas Landwirtschaft in den ländlichen Gebieten mit 26 000 Volkskommunen nahezu vollständig kollektiviert. 1957 belief sich Chinas Stahlproduktion auf 5,3 Millionen Tonnen. Bis zum Ende des Jahres 1958, so fantasierte Mao, sollte sich die Produktion verdoppelt haben. 1962 sollten es sogar 100 Millionen Tonnen werden. Mehr als die USA produzierten. Viel zu gut, um wahr zu sein, und ohne jeden Zweifel (zumindest außerhalb des Politbüros der KP Chinas) war absehbar, dass die in Stahlarbeiter umgeschulten und ungeschulten chinesischen Bauern nicht binnen weniger Monate Millionen Tonnen hochwertigen und für den Export geeigneten Stahl produzieren konnten. Die Felder von 40 Millionen Amateur-Stahlarbeitern blieben in der Folge unbestellt, was wiederum dazu beitrug, dass sich die anbahnenden Hungersnöte in ganz China weiter und schneller verbreiteten. Der Historiker und Sinologe Frank Dikötter dokumentiert, dass die „Hinterhofstahlarbeiter“ sich zusätzlichen Drucks in Form von körperlicher Misshandlung, Entzug von Nahrungsmitteln und Bezahlung ausgesetzt sahen, als sich herausstellte, dass nicht einmal ein Drittel der Stahlöfen Stahl von Qualität produzierte.
Jubel in Ostberlin
1958 machten sich das Neue Deutschland und die anderen politisch gelenkten Presseorgane in der DDR daran, einen „Weltrekord“ in falscher Berichterstattung aufzustellen. Die Berichte in ostdeutschen Zeitungen zu den vermeintlichen Fortschritten des Großen Sprungs – dokumentiert durch chinesische Daten und Statistiken, die mit der Wirklichkeit wenig beziehungsweise gar nichts gemein hatten – suggerierten, dass die Steigerung der Stahl- und Weizenproduktion Chinas unglaubliche Ausmaße angenommen hätte. Insbesondere der Korrespondent des Neuen Deutschlands in Peking Lutz Zempelburg (1957– 1960) machte es offensichtlich zu seiner Mission, den Großen Sprung nach vorn nicht nur als spektakulären wirtschaftlichen und industriellen, sondern auch als politischen und ideologischen Erfolg zu feiern.
Im August 1958 schrieb er, dass der Große Sprung dafür gesorgt habe, dass sich die „kapitalistische Bourgeoisie“ einer erfolgreichen „Umerziehungskampagne“ unterziehen musste. Chinas Kapitalisten, berichtete er, würden fortan von den Fortschritten des Großen Sprungs profitieren können.
Im Oktober 1959 feierte die DDR-Führung den Sprung im Rahmen der Feierlichkeiten des zehnjährigen Bestehens der Volksrepublik China. Er sei ein Beleg für den Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus.
Ulbricht und die Volkskommunen – Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt
Walter Ulbricht gab sich anfangs begeistert von den Volkskommunen, die de facto nichts anderes bedeuteten als die Enteignung von Millionen von Bauern und ihren Familien, den Zwang, im Akkord zusammenzuarbeiten, und in Gemeinschaftsunterbringungen wie „Legehennen“ zu leben. Anders wurde dieses Vorhaben vom großen Genossen in Moskau, dem Generalsekretär des ZK der kommunistischen Partei der UdSSR, Nikita Chruschtschow, bewertet, der die Volkskommunen in China – wahrscheinlich nicht zuletzt aufgrund der negativen Erfahrungen mit radikaler Kollektivierung in der UdSSR in den 1930er-Jahren – als zum Scheitern verurteilt ansah.
Der britische Theaterwissenschaftler Martin Esslin schrieb in der renommierten Zeitschrift China Quarterly 1960, dass die DDR-Führung über die Einführung sogenannter sozialistischer Hausgemeinschaften in der DDR in den späten 1950er-Jahren nachgedacht haben soll. In diesen Hausgemeinschaften sollten die Bewohner_innen Küchen und Badezimmer gemeinschaftlich nutzten. Dieses Gemeinschaftsmodell, schrieb Esslin, sei von den chinesischen Volkskommunen inspiriert worden.
Ostberlin und die Kulturrevolution
Im August 1966 gab Mao Zedong einer Million Studierenden – viele von ihnen wurden zu den gewaltbereiten Roten Garden – auf dem Tiananmen-Platz in Peking das Signal zu einer Kampagne, das Land von seinen vermeintlichen Feinden zu befreien: Kapitalisten, Revisionisten, Landbesitzer, Bourgeoisie, hochrangige Parteifunktionäre wie Deng Xiaoping, Liu Shaoqi und Lin Biao inbegriffen.
All das geschah im Namen der von Mao und seiner vierten Frau Jiang Qing ausgerufenen Kulturrevolution, die selbst der nordkoreanische Diktator Kim Il-sung
Mitte 1966 begann die ostdeutsche Presse davon zu berichten, dass die Roten Garden damit begonnen hätten, „Kapitalisten“, „Konterrevolutionäre“ und sonstige Feinde inner- und außerhalb der Partei zu verhaften.
Dieser Vorwurf wurde in der ostdeutschen Presse in den Jahren 1966 bis 1969 unzählige Male wiederholt. Zudem wurde postuliert, dass China es unter Mao verpasst habe, den von der Volksbefreiungsarmee praktizierten „Kriegskommunismus“
Im Oktober 1966 berichtete die Berliner Zeitung von den Eindrücken ostdeutscher Touristen auf Reisen in China. Eine DDR-Reisegruppe war zwei Monate nach Ausbruch der Kulturrevolution, zu einer Zeit, in der sich die Beziehungen zwischen Ostberlin und Peking stetig verschlechterten (und sich 1967 und 1968 weiter negativ entwickeln sollten, inklusive Gewalt gegen ostdeutsches Botschaftspersonal in Peking), in China unterwegs. Die Touristengruppe, so berichtete die Berliner Zeitung, sah, wie Maos Rote Garden Bauern auf den Feldern terrorisierten und misshandelten.
Seinerzeit – schenkt man der Zeitung Glauben – demonstrierten Studierende und Rote Garden gegen den Rauswurf chinesischer Studenten und Studentinnen aus Universitäten in der Sowjetunion. Die Berliner Zeitung behauptete jedoch, dass sie lediglich gezwungen wurden, ihre Studien in der Sowjetunion zu unterbrechen, um diese nach einem Jahr wiederaufnehmen zu können.
Es bedurfte zugegebenermaßen keiner Klarstellung in der ostdeutschen Presse, dass chinesische Arbeiter und Bauern nicht im Namen eines wie auch immer gearteten sowjetischen Revisionismus, sondern gegen die Schließung ihrer Fabriken und den Verlust ihrer Arbeitsplätze demonstrierten.
Im Februar 1967 berichtete das DDR-Außenministerium, dass die in der DDR verbliebenen chinesischen Studierenden die Absicht hätten, die DDR zu verlassen, um ihren Beitrag zur Großen Proletarischen Kulturrevolution zu leisten. Die ostdeutschen Behörden warnten daraufhin, dass chinesische Studenten und Studentinnen, die an der Kulturrevolution beteiligt seien, nicht in die DDR zurückkehren dürften.
In der zweiten Hälfte des Jahres 1968 ebbte die Berichterstattung zur Kulturevolution in der ostdeutschen Presse merklich ab. Die wenigen Artikel konzentrierten sich, wie in den Jahren davor, darauf, die Kulturrevolution als eine gegen die Sowjetunion gerichtete Kampagne zu beschreiben. 1969 berichtete die DDR-Presse über den von Mao Anfang März 1969 entfachten Grenzkonflikt mit der Sowjetunion entlang des Ussuri-Flusses als eine der vermeintlichen Konsequenzen der Kulturrevolution und des von Ulbricht beklagten „chauvinistischen Großmachtstrebens“ Chinas. Seinerzeit gab Mao der Volksbefreiungsarmee den Befehl, die von der Sowjetunion beanspruchte Insel Damanski
Danelius lag allerdings damit mindestens terminologisch daneben, da die KP Chinas im März 1969 im Rahmen ihres 9. Parteikongresses beschlossen hatte, dass das, was „Marxismus-Leninismus Mao Zedong Ideologie“
Zitierweise: Axel Berkofksy, "Ostberlin, Chinas „Großer Sprung nach vorn“ und die Kulturrevolution - Fake News-Journalismus à la DDR", in: Deutschland Archiv, 27.04.2021, Link: www.bpb.de/332037