Das Interview mit Rachel Shneiderman führte Sharon Adler für das Deutschland Archiv.
Sharon Adler: Rachel, du wurdest in der Sowjetunion geboren, hast 1972 mit deiner Familie Aliya
Rachel Shneiderman: Als ich nach Berlin gekommen bin, war mein Mann schon seit eineinhalb Jahren hier und stand auf beiden Beinen, hatte aber noch keine eigene Wohnung. Aus dem kleinen Zimmerchen, in dem er zur Untermiete lebte, sind wir in ein Apartmenthotel gezogen, in dem wir etwa ein halbes Jahr wohnten, bis wir eine Wohnung fanden. Ich hatte eigentlich keine großen Schwierigkeiten mich einzuleben, weil ich aus der Sowjetunion und aus Israel das Leben in einer Großstadt kannte und das insofern kein großer Unterschied war. Aber ich hatte am Anfang große Schwierigkeiten mit der Sprache und habe jeden Tag, acht Stunden lang, in der Hartnackschule Deutsch gelernt. In Berlin habe ich mich gleich wohl und heimisch gefühlt. Ich kann es nicht erklären, warum das so war, aber ich habe die Stadt damals geliebt und liebe sie auch heute noch.
Sharon Adler: War dir die NS-Geschichte Berlins bewusst?
Rachel Shneiderman: Ich habe natürlich gewusst, wohin ich komme, denn die NS-Geschichte Deutschlands wurde in Russland an jeder Ecke gepredigt, wobei aber über die Ermordung der Juden nicht gesprochen wurde. Ich habe erst in Israel durch meine Arbeit im Krankenhaus und durch den Kontakt mit – meist älteren – Menschen, die aus Deutschland, Polen oder Ungarn kamen, davon erfahren. Aber das Thema war immer noch sehr weit von mir persönlich entfernt. Als ich nach Israel kam, bin ich von Beer-Sheva, wo wir zuerst untergebracht wurden, nach Tel Aviv gegangen und habe in einem Versicherungsbüro für Bauwesen gearbeitet. Mein Chef war David Elefant, ein bulgarischer Jude, der mit 17 Jahren aus dem KZ befreit worden war. Bei ihm und bei seiner Mitarbeiterin Irene aus Polen habe ich das erste Mal die eintätowierte Nummer auf dem Arm gesehen. Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis miteinander und ich habe ihn sehr verehrt. Als er erfahren hat, dass ich nach Deutschland gehen würde, hat er den Kontakt zu mir abgebrochen. Das hat mich damals sehr betroffen gemacht, und es tut mir heute noch weh, dass ich ihn enttäuscht habe. Aber für mich hatte die Familiengründung Priorität, und so bin ich nach Berlin gegangen.
Sharon Adler: Was waren die großen Herausforderungen für dich in dieser Zeit?
Rachel Shneiderman: Ich bin, genau wie mein Mann, als Gastarbeiterin nach Deutschland gekommen. Daher durfte ich zwar einreisen, aber nicht unbegrenzt bleiben oder arbeiten. Da ich aber Krankenschwester war und weil das Thema Pflegekräftemangel Ende der 1970er-Jahre in Deutschland auch schon sehr aktuell war (was sich in den letzten 40 Jahren nicht groß verändert hat!), war es für mich kein Problem, eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zu bekommen, als ich noch in Israel gelebt habe. Damals, im Sommer 1977, hatte man ja auch 200 Krankenschwestern und Pflegekräfte aus Südkorea nach Deutschland geholt.
Aber es war trotzdem sehr schwer, eine Arbeit zu finden, weil ich die Sprache noch nicht gut genug beherrschte. Obwohl ich schon viel verstanden habe, konnte ich auch nach zwei Monaten noch nicht besonders gut sprechen und kein Wort rausbringen, es war wie eine Mauer. Such mal eine Arbeit, ohne die Sprache zu sprechen! Und ohne die Stadt zu kennen und zu wissen, welches Krankenhaus wo und wie ist, ging das gar nicht. Aber um überhaupt bleiben zu können, brauchte ich dringend eine Arbeit. So kam ich zur Jüdischen Gemeinde.
Erinnerungen an die Jüdische Gemeinde in den 1980er-Jahren. Der erste Zuzug der russischen Jüdinnen und Juden
Sharon Adler: Wie hoch (oder niedrig) war der Anteil der Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion zu dieser Zeit in der Jüdischen Gemeinde?
Rachel Shneiderman: Als ich nach Berlin kam, hatte die Gemeinde etwa 3.500 alteingesessene Mitglieder. Der Anteil der Juden aus der UdSSR war sehr gering. Es gab sie, aber sie waren nicht sichtbar. Weil Deutschland die Juden aus der Sowjetunion Ende der 1970er-Jahre noch nicht legal aufgenommen hat,
Sharon Adler: Wie wurden die Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion in der Jüdischen Gemeinde in Berlin aufgenommen?
Rachel Shneiderman: Mit offenen Armen wurden ‚die Russen‘ nicht aufgenommen. Aber man hat trotzdem geholfen, denn ich vermute, dass es ein ungeschriebenes Gesetz ist, dass ein Jude dem anderen helfen muss. Auch [der damalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin] Heinz Galinski war erst gegen die Aufnahme, ich nehme an, aus Solidarität Israel gegenüber. Aber er hat dann eine Frau in der Sozialabteilung angestellt, die sich um die Menschen mit ihren Problemen, auch den Behörden gegenüber, gekümmert hat.
Sharon Adler: Wann und wie hat sich diese Haltung verändert, ab wann haben die Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion mehr Mitspracherechte bekommen?
Rachel Shneiderman: Mit der Zeit kamen immer mehr russischsprachige Juden, und die Ansprüche und auch die Empörung wuchsen. Die Menschen waren nicht zufrieden mit dem, was sie bekommen haben, sie haben mehr erwartet. Mitte der 1980er-Jahre musste der Vorstand neu gewählt werden und Moishe Waks
Sharon Adler: Wie hat man dir in der Jüdischen Gemeinde geholfen, anzukommen; womit und von wem wurdest du unterstützt?
Rachel Shneiderman: Die Gemeinde hat damals viele Menschen, die nicht gleich eine Arbeit gefunden haben, bei Bedarf mit einer kleinen Summe unterstützt. Das mussten wir zum Glück nicht in Anspruch nehmen, denn wir sind allein zurechtgekommen. Wir haben zwar ab und an mal um Hilfe gebeten, wenn es um die Unterstützung bei Formularen für Behörden wie bei der Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis ging, die jedes Jahr erneuert werden mussten, aber finanzielle Hilfe brauchten wir nicht.
Die Odyssee bei der Suche nach Arbeit
Rachel Shneiderman: Damals habe ich zunächst einmal die Adressen von Pflegeheimen und Altersheimen der Jüdischen Gemeinde herausgesucht. Das Altersheim war damals in der Invalidenstraße, gegenüber dem Jüdischen Krankenhaus, und das Pflegeheim befand sich auf dem Gelände vom Jüdischen Krankenhaus. Heimleiter im Altersheim
Das war natürlich sehr enttäuschend für mich. Auch bei der nächsten Vorstellung hatte ich kein Glück, was ich heute verstehen kann, denn damals war ich ein schüchternes Mädchen, das kaum ein Wort herausbrachte. Ich hatte große Angst davor, dass man mich abschieben würde. Man sagte mir dann, ich solle doch mal zur Sozialabteilung
Für die Gemeindezeitung jüdisches berlin habe ich einen Nachruf auf sie geschrieben:
HANNA SCHULZE SEL.A. 10.1.1926 – 7.2.2021
Am 7. Februar 2021 ist Hanna Schulze im Alter von 95 Jahren von uns gegangen. Seit Ende der 1950er-Jahre bis 1986 arbeitete Hanna bei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Als Leiterin des Jugendzentrums hat sie dieses mitaufgebaut. Sie hat die Kinder, die ins Jugendzentrum zu ihr kamen, immer »meine Kinder« genannt. Viele dieser Kinder, die in alle Welt verstreut sind, hielten bis heute Kontakt zu ihr: schrieben ihr Briefe und Ansichtskarten, riefen sie an und besuchten sie, so oft es ihnen möglich war. Für jeden hatte sie ein offenes Ohr, schenkte jedem ihre Aufmerksamkeit und ihre Herzlichkeit. Einige Jahre später übernahm sie die Leitung der Sozialabteilung und arbeitete dort bis sie 1986 in Rente ging. Es war keine leichte Aufgabe, die sie da hatte. Fast alle Menschen, die mit ihren Problemen hilfesuchend zu ihr kamen waren Shoah-Überlebende, wie sie selbst auch. Sie hat niemanden im Stich gelassen. Jedem hat sie ihre helfende Hand ausgestreckt. So habe auch ich sie vor 42 Jahren kennen und lieben gelernt. Mit den Jahren hat sich unsere Freundschaft vertieft. Nicht nur ich, sondern meine Familie, besonders meine Tochter, ihr Ehemann und ihre Kinder, hatten einen engen Kontakt mit ihr. Bis zum Schluss hat Hanna ihre Selbstständigkeit und ihren klaren Kopf behalten. Daphna
In Liebe und großer Dankbarkeit bleibt sie für immer in unserer Erinnerung. Sichrona le Bracha – möge ihre Seele in Frieden ruhen.
Sharon Adler: Durch die Hilfe von Hanna Schulze hast du 1984 bei der Jüdischen Gemeinde eine Anstellung als Gemeindeschwester bekommen. Wie kam es dazu?
Rachel Shneiderman: Ich hatte damals schon sechs Jahre lang im Krankenhaus Moabit in der Geriatrie und Urologie gearbeitet und wollte da weg. Inzwischen hatte ich viel über die Nazizeit gelesen und gehört, und es hat mich belastet, dass ich dort mit Menschen gearbeitet habe, die potenziell Täter gewesen sein könnten. Es konnte sogar passieren, dass sich Täter und Opfer begegneten. Damals lief die TV-Serie Holocaust
In der Zeit sind die Sozialstationen entstanden, von der Caritas und anderen Verbänden. Ich habe Hanna darauf angesprochen, ob nicht auch die Jüdische Gemeinde eine Sozialstation habe. Das gab es damals noch nicht, es gab nur eine Gemeindeschwester, die die Menschen zuhause und im Krankenhaus besucht hat. Hanna, die wusste, dass meine finanzielle Situation damals nicht sehr rosig war – mein Mann war arbeitslos, und wir hatten zwei kleine Kinder – rief mich sofort an, als kurz darauf die Gemeindeschwester in Rente ging. Und eine Woche später hatte ich den Job. Dafür werde ich Hanna immer dankbar sein. So fing alles an.
Blick in das Buch mit den Kurzberichten, die Rachel Shneiderman vom 2.1.86 bis 31.12.87 geführt hat. (© Sharon Adler/PIXELMEER)
Blick in das Buch mit den Kurzberichten, die Rachel Shneiderman vom 2.1.86 bis 31.12.87 geführt hat. (© Sharon Adler/PIXELMEER)
Sharon Adler: Bitte erzähle von deinen Erinnerungen an die Pflege von Shoah-Überlebenden in dieser Zeit. Hattest du schon vorher einmal so direkten Kontakt mit Überlebenden?
Rachel Shneiderman: Damals waren alle älteren Mitglieder der Gemeinde Shoahüberlebende. Ob KZ, Ghetto, Versteck oder Emigration, sie waren alle geprägt von ihrer Vergangenheit. Die meisten haben versucht, ein ‚normales‘ Leben zu führen, und haben versucht zu vergessen. Aber mit dem Alter kam die Erinnerung und damit kamen sie nicht mehr zurecht. Und da kam ihnen die Gemeinde zur Hilfe. Wir haben versucht, sie aufzufangen, ihre Probleme zu lösen, einfach für sie da zu sein. Ich hatte bis zu dieser Zeit keine enge Berührung mit Shoahüberlebenden. Für mich war es wie ein Sprung ins eiskalte Wasser. Die Begegnung mit den Überlebenden war ein Schock für mich. Es war keine leichte Aufgabe. Aber ich bin froh, dass ich sie erfüllen durfte. Ich sehe sie als die Berechtigung dafür, dass ich in Deutschland lebe.
Unter den Menschen, die ich im Jüdischen Seniorenzentrum, im Hermann-Strauß-Pflegeheim, im Jeanette-Wolff-Haus und im Leo-Baeck-Haus betreut habe, war ein ganz schwerer Fall, den ich übernommen habe. Eine ältere Dame, die mit niemandem sprechen wollte; niemand durfte sie baden oder duschen. Allmählich fasste sie Vertrauen zu mir und die Behandlung schlug an. Aber sie hatte noch immer regelmäßig depressive Schübe und hat sich dann doch eines Tages das Leben genommen. Das war sehr schwer für mich, denn wir hatten ein gutes Verhältnis zueinander aufgebaut. Es gab viele solcher Fälle. Man müsste sie alle aufschreiben.
Sharon Adler: Haben die Überlebenden mit dir über ihr Überleben gesprochen?
Rachel Shneiderman: Ich habe nicht gefragt, weil ich keine alten Wunden aufreißen wollte. Die Menschen haben nicht gleich darüber gesprochen, aber nach und nach doch etwas erzählt. Vor allem die Frauen. Darüber, wie sie im Versteck missbraucht wurden. Wie sie sich aus Mülleimern ernähren mussten. Ganz furchtbare Dinge. Das alles hat mich sehr mitgenommen. Wir haben auch manchmal miteinander gestritten, wenn sie meine Hilfe nicht annehmen wollten, aber ich habe sie alle gemocht.
Sharon Adler: Wie hast du diese Arbeit verkraftet, was hat das mit dir gemacht?
Rachel Shneiderman: Die Arbeit war sehr schwer, mental gesehen. Ich habe nicht abschalten können, habe alles mit mir rumgeschleppt, Tag und Nacht. Die Arbeit ging für mich immer vor, denn mir war klar, dass die Menschen mich brauchten. Sogar meine Familie habe ich darüber vernachlässigt. Ich hatte auch keinen Arbeitszeitrahmen. Am Anfang war ich halbtags angestellt, aber ich hatte kein Büro, kein Telefon, kein gar nichts. Ich musste alles von zuhause aus regeln. Es war ein 24-Stunden-Job, denn jeder konnte mich jederzeit anrufen, auch in der Nacht oder am Wochenende. Auch den Schreibkram musste ich ja erledigen, die Berichte über meine Tätigkeiten. Das habe ich damals alles noch mit der Schreibmaschine erledigt.
Sharon Adler: Welchen Status hatte deine Tätigkeit?
Rachel Shneiderman: Etwa zweieinhalb Jahre später wurde meine Stelle auf offiziell 30 Stunden erhöht, was im Prinzip auch noch viel zu wenig war. Denn es kamen immer mehr Menschen aus Russland, die auch Hilfe benötigt haben, zum Beispiel bei Übersetzungen. Das habe ich dann auch übernommen. Erst 1990 habe ich die volle Stelle bekommen. Bis dahin habe ich halbtags gearbeitet, denn die Gemeinde hatte lange nicht eingesehen, dass mehr Arbeitsstunden nötig sind.
Sharon Adler: Die Sozialdezernentin der Jüdischen Gemeinde war Maria Brauner.
Rachel Shneiderman: Wir haben wunderbar zusammengearbeitet. Sie hat verstanden, dass ich die Menschen nicht mitten in ihrer Geschichte unterbrechen kann, wenn sie von ihrer Zeit in Auschwitz erzählten. Sie war auch eine, die selber mit angepackt hat. Es gab nach ihr keine Sozialdezernenten, die annähernd so tatkräftig und hilfsbereit waren wie sie. Dazu nur ein Beispiel: Als sie gehört hat, dass ein Patient keine Waschmaschine besaß, hat sie mich damit beauftragt, seine Wäsche zu ihr nach Hause zu bringen, wo sie gewaschen, getrocknet und gebügelt wurde. Jede Woche hat sie das Seniorenheim und das Pflegeheim besucht. Jede Woche Mittwoch hatte sie eine Sprechstunde in der Sozialabteilung. Sie war eine tolle Sozialdezernentin und ein ganz großes Beispiel für Menschlichkeit und Mizwoth.
Sharon Adler: 1989 wollte die Gemeinde eine Sozialstation einrichten, und doch kam es erst 1997 dazu. Wie kam das, auf wessen Initiative ging das zurück und warum hat das so lange gedauert?
Rachel Shneiderman: Da beinahe alle Wohlfahrtsverbände schon überall Sozialstationen hatten, kam ein Mitarbeiter der Gemeinde auf die Idee, es sei nicht verkehrt, ebenfalls eine einrichten. Also kam die Personalabteilung der Gemeinde auf mich als einzige Gemeindeschwester zu, und fragte mich, was ich davon halten würde, eine Sozialstation einzurichten. Natürlich war ich gleich Feuer und Flamme. Daraufhin hat man mich 1989 zu einer Weiterbildung vom Berliner Senat für die Anleitung von Mitarbeitern geschickt und mich danach aufgefordert, ein Konzept für eine Sozialstation zu schreiben. Dieses Konzept hat Frau Brauner 1990 bei einer Vorstandssitzung vorgelegt, aber wegen der Wiedervereinigung wurde es erstmal auf Eis gelegt. Ich arbeitete weiter als Gemeindeschwester und hatte wie immer viel zu tun. So ging es weiter bis 1997. Ich habe in diesen sieben Jahren bestimmt noch drei weitere Konzepte geschrieben, die aber auch alle abgelehnt wurden. Es kam erst zustande, als irgendwann, auch auf Druck der Krankenkassen wegen der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995, neue Kriterien zur Führung der Pflege- und Seniorenheime beschlossen wurden.
Sharon Adler: 1997 hat die Jüdische Gemeinde einen Ambulanten Pflegedienst eingerichtet, den du bis zu deiner Pensionierung im Jahr 2011 geführt hast: als Pflegedienstleiterin, als Qualitätsbeauftragte und die letzten sieben Jahre als Geschäftsführerin. Bitte erzähle doch etwas über deine Arbeit. Was gehörte zu deinen Aufgaben?