Dieser Artikel beruht auf Interviews mit jüdischen Zeitzeuginnen, die im Rahmen einer Recherche zur Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit in der ostdeutschen Gesellschaft stattfanden. Die Gespräche führte ich zwischen 1985 und 1989 in der DDR. Unter den damaligen Gesprächspartnerinnen und -partnern waren sechs Frauen, von denen drei während der NS-Zeit im französischen Exil gelebt hatten, zwei weitere waren aus den USA und eine war aus der Sowjetunion zurückgekehrt.
Ich muss erwähnen, mit welcher Geisteshaltung ich in diese Gespräche ging. Als „Babyboomerin“ aus einem Frankreich, in dem die Erinnerung an den Krieg noch sehr lebendig war, aber auch aufgrund meiner familiären Herkunft konnte ich persönlich nicht verstehen, wie die Verstoßenen und Verfolgten des Naziregimes den Wunsch entwickelt hatten, in das Land zurückzukehren, in dem man das Verbrechen an den deutschen und europäischen Jüdinnen und Juden geplant und umgesetzt hatte. Daher wollte ich unbedingt die Motive für ihre Rückkehr verstehen. Der Teil von Deutschland, den ich zuerst kennengelernt hatte, war die Bundesrepublik, wo ich in jedem etwas älteren Menschen einen ehemaligen Nazi sah. Die DDR empfand ich damals als grau, karg und repressiv – kein besonders sympathisches Bild. Ich hatte aber auch Christa Wolfs „Kindheitsmuster“
Im Zuge meiner Feldforschung wandelte sich mein Bild von der DDR. Zunächst einmal stellte ich fest, dass in den Achtzigerjahren zwar die niedergeschriebene Meinungsfreiheit eingeschränkt war, das gesprochene Wort aber relative Freiheit genoss. Außerdem war der dortige Alltag nicht so karg, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es dauerte nicht lange, bis ich in die Gruppe „Wir für uns“ eingeführt wurde, die die Soziologin Irene Runge
„Hier waren die Kampfgenossen“
Im Januar 1988 lebte Dora Schaul
Ihr französisches Exil hatte sie verlassen, weil „die Mehrheit der Kameraden ziemlich schnell in die SBZ [Sowjetische Besatzungszone] zurückgekehrt ist […]. Wohin auch sonst? Ich hatte keine Familie mehr… Natürlich habe ich mit der Rückkehr nach Deutschland etwas gezögert, aber in der SBZ waren die Kampfgenossen.“
Im September 1988 traf ich die Schriftstellerin, Journalistin und Dramaturgin Hedda Zinner.
„Ich war hier zu Hause!“
Rosi von Wroblewsky
Sie bereute ihre Entscheidung nicht. Möglicherweise hatte die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) sie dazu angeregt, nach Deutschland zurückzukehren – die Partei hatte ihre patriotische Ader entdeckt und zog es vor, nicht zu viele Ausländer_innen in ihren Rängen zu haben. Das war weniger ein Zeichen von Ausländer_innenfeindlichkeit und Antisemitismus in der Partei, sondern vielmehr der reinste Opportunismus gegenüber der Wählerschaft. Möglicherweise – das ist eine meiner Hypothesen – gab es auch Instruktionen aus Moskau, dass die deutschen Kommunist_innen in die DDR gehen sollten, um dort ein neues sozialistisches Deutschland aufzubauen. Ursula Katzenstein,
Es gibt eine Tendenz, zu vergessen, dass Paranoia keineswegs ein Privileg des Generalsekretärs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), Josef Stalin, war. Sie existierte auf beiden Seiten, und genau daran erinnerte mich dieses Interview mit Ursula Katzenstein. Mit den Verbrechen Stalins kannte ich mich gut aus, doch die Intensität des Kalten Krieges in jener Zeit war mir nicht mehr ganz präsent. Später musste ich feststellen, wie ähnlich in mancherlei Hinsicht die Akten der US-amerikanischen Sicherheitsbehörde FBI über die deutschen Flüchtlinge, die sich in den USA aufhielten, jenen des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR – der Stasi – waren: Sie strotzten vor nutzlosen Details, und die Agenten vergaßen nie, die jüdische Herkunft der überwachten Personen zu erwähnen.
„Ich habe weggeschaut“
Eine meiner ersten Fragen hatte sich auf die Beziehung dieser Frauen zum Judentum bezogen – nicht zur Religion [in dieser Hinsicht wusste ich, woran ich war; die meisten von ihnen waren säkulare Jüdinnen], sondern zu möglichen spezifischen Gefühlen im Zusammenhang mit ihrer Rückkehr als Jüdinnen.
Hedda Zinner und Ursula Katzenstein wichen sofort aus. Ich war aber auch bei beiden Gesprächspartnerinnen nicht besonders hartnäckig. Lieber fragte ich Hedda Zinner, wie sie im sowjetischen Exil darauf reagiert hatte, dass bei den stalinistischen Säuberungen 1937 und 1938 in der Sowjetunion deutsche Kamerad_innen aus der KPD verschwanden. Ursula Katzenstein fragte ich indes, wie sie und ihr Mann, die beide in den USA studiert und ihre Ausbildung bei dem Psychiater und Kinderpsychologen Bruno Bettelheim absolviert hatten, ihren Beruf in der DDR hatten ausüben können.
Auch Hannah K. wich der Frage aus, allerdings auf eine andere Art und Weise: „Es gab hier so viel aufzubauen! Ich habe weggesehen.“ Sie versuchte zu vergessen, dass sie von Menschen umgeben war, die Hitler gefolgt waren, und sah stattdessen nur gleichgesinnte Kamerad_innen, die aus der Emigration zurückgekehrt waren. Sie lebte in einer Blase, in einem Teil von Pankow, in dem sich etliche weitere Remigrant_innen niedergelassen hatten. Fühlte sie sich als Jüdin? Aber gewiss. Sie kam aus einer religiösen Familie, aber sie selbst übte die jüdische Religion nicht aus. Sie trat sehr jung in die KPD ein, heiratete einen ebenfalls jüdischen „Genossen“. Nahm sie ihn deshalb zum Mann? „Aber natürlich nicht! Obwohl es praktisch war, dass es so keinen Konflikt mit den Eltern gab.“
In Frankreich kam dann ihr Kind zur Welt. Hatte sie den Eindruck, als Jüdin und Widerstandskämpferin doppelt bedroht zu sein? Als Jüdin nicht, sagte sie. Nur als Widerstandskämpferin – als solche wurde sie schließlich auch verhaftet, was sie vor Auschwitz rettete. In den Räumen der Gestapo lief ihr Ehemann ihr über den Weg, der auch gerade verhaftet worden war. Sie flüsterte ihm eine falsche Nachricht zu, damit er unter Folter nicht dazu gebracht werden konnte, den wahren Aufenthaltsort des Kindes preiszugeben, denn das Kind war wie sie selbst in Frankreich: „Yeled ist in der Schweiz.“ Ich fragte sie erstaunt: „Yeled? - das hebräische Wort für Kind? Konntest du also Hebräisch, Hannah?“ „Nein“, sagte sie etwas irritiert. „Yeled, das ist so ähnlich wie Schalom, jeder weiß, was das heißt.“
Tief in ihrem Gedächtnis hatte sie einige hebräische Ausdrücke gespeichert, die sie gewiss bei einem kurzen, inzwischen vergessenen Aufenthalt in einer zionistischen Organisation aufgeschnappt hatte. Ich fragte sie, ob ihr Junge beschnitten worden war. In der Besatzungszeit wäre das in Frankreich ein Zeichen starker Identifikation mit dem Judentum gewesen. Er war beschnitten, allerdings wohl wegen einer Infektion der Vorhaut. Zumindest habe sie dies in einem Telegramm an ihren Mann so geschrieben.
„Obwohl ich Jüdin war, fühlte ich mich als Deutsche“
Dora Schaul, die bei Kriegsende einen kleinen Jungen zur Welt gebracht hatte, musste bei der gleichen Frage lachen: Aber natürlich war das Kind nicht beschnitten worden! Sie stammte aus einer alteingesessenen, assimilierten Berliner Familie. Obwohl sie zu Pessach und Jom Kippur, den beiden wichtigsten Festen, in die Synagoge gingen, waren ihre Eltern nicht religiös. Auch ihr Ehemann war Jude und, genau wie sie, Kommunist und Atheist. Die Rückkehr nach Deutschland war eine Art Pflichterfüllung: „Ich war zwar Jüdin, aber ich fühlte mich als Deutsche und dachte, dass die Deutschen sich ändern könnten.“
Und wie nahm die Bevölkerung sie nach ihrer Rückkehr auf? „Es war schon so, dass wir uns anhören mussten: Ihr, ihr hattet ja das schöne Leben in Frankreich, während wir im Krieg waren.“ Doch das Elend in Deutschland war damals so groß, dass sie eine Art Mitleid verspürte, auch wenn sie keineswegs vergessen hatte, was geschehen war. Sie erinnerte sich, dass sie häufig erwähnt hatte, dass sie Jüdin war – Antisemitismus erlebte sie in der DDR nie, ebenso wenig ihr Mann und ihr Sohn.
Aber was war 1953, als Stalin anfing, seinen Antisemitismus zu zeigen? Sie war der Meinung, dass Walter Ulbricht, Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED, die Menschen jüdischer Herkunft geschützt hatte, und dass man dafür sorgte, dass sie unauffälligere Tätigkeiten ausübten. Der Antisemitismus sei aus der UdSSR gekommen – in der KPD habe es ihn nicht gegeben und in der SED selbstverständlich auch nicht. Sie war der Auffassung, es liege am sowjetischen Antisemitismus, dass man in der DDR nicht genug darüber gesprochen habe, was den Juden während des Krieges zugestoßen war. Sie kommentierte: „Das hätte man den Deutschen stärker ins Bewusstsein rufen müssen.“
Allerdings war sie auch der Meinung, dass inzwischen zu viel darüber geredet wurde. Es war das Jahr 1988 und die DDR bereitete sich gerade auf den 50. Jahrestag der sogenannten Kristallnacht am 9. November 1938 vor. Durch die Agitation rund um das Gedenken erinnerte sie sich wieder an ihre Familie, die sie mit 19 Jahren verlassen hatte und die später deportiert worden war. „Heute mache ich mir Vorwürfe, dass ich nichts für sie getan habe. Ich hatte das verdrängt, und jetzt kommt es wieder hoch.“ Mit ihren Enkelkindern sprach sie über diese Vergangenheit; mit ihrem Sohn hatte sie sich nicht die Zeit dafür genommen. Sie freute sich, dass die Enkelkinder sich für dieses Thema interessierten.
„Nicht sehr jüdisch, nicht besonders deutsch. Aber Kommunistin…“
Rosi von Wroblewsky betonte besonders, dass sie in ‚ihren Teil‘ Berlins zurückgekehrt war. Im Hinblick auf die politischen Gründe wies sie mehrfach darauf hin, es sei ja auch genau der Teil der Stadt, den die Faschisten am schnellsten verlassen hätten. Aus Angst vor den Sowjets! Gab es etwa keine Altnazis in der DDR? Bei dieser Frage zögerte sie: „Die echten Faschisten sind weggegangen und die alten Nazis können hier sowieso nichts unternehmen […]. Ich habe mir den Teil der Stadt ausgesucht, in dem ich keine Menschen mehr treffen muss, die mit den Faschisten zusammengearbeitet haben […].
Zunächst kannte ich niemanden. Das war nicht besonders angenehm, aber ich war zu Hause.“ Auf die Frage, ob sie in der DDR Antisemitismus erlebt hatte, antwortete sie so direkt wie kategorisch: „Judenhasser gibt es vielleicht, aber die können sich hier nichts mehr erlauben!“ Sie räumte allerdings ein, dass sie nach wie vor misstrauisch war: „Lieben kann ich dieses Volk nicht. Die haben meine Mutter und meinen Bruder umgebracht […]. Sie meiden mich und ich meide sie auch.“ Fühlte sie sich als Jüdin, wollte ich wissen. „Ich fühle mich nicht sehr jüdisch und nicht besonders deutsch. Aber ich bin Kommunistin, jawohl …“, sagte sie. In dieser Antwort ist die Sehnsucht nach einem Kommunismus zu spüren, von dem sie geträumt hatte und der vielleicht nicht den realen Verhältnissen entsprach. Sie war froh, dass ihr Sohn sich der Gruppe „Wir für uns“ angeschlossen hatte, in der sich die Kinder von Remigrant_innen trafen.
„Hier, zwischen dem Volk von Theresienstadt und Auschwitz“
Wenn man diese kurz vor dem Ende der DDR dokumentierten Äußerungen mit jenen von Anna Seghers im April 1947 vergleicht, wird deutlich, dass die emotionale Last im Vergleich zu damals abgenommen hatte. Anna Seghers
Da ist aber auch jener getragen formulierte Brief von Dita (Beatrice) Zweig,
Man konnte ihr nur Recht geben. Zumindest standen sie nicht an der Spitze des Staates, wie in der Bundesrepublik, und man lief in der Sowjetzone oder später in der DDR nicht Gefahr, auf der Straße unbeschwert und erhobenen Hauptes daherkommende Altnazis zu treffen, wie es die Ehefrau des bekannten Literaturkritikers, Autors und Publizisten Marcel Reich-Ranicki fürchtete, die „trotz aller Erfolge ihres Mannes niemals das Gefühl verlor, in Gefahr zu sein, weil der Kommissar des Ghettos, das sie überlebt hatten, unbehelligt in Köln als Rechtsanwalt arbeitete.“
Während es im Osten, wo die alten Antifaschisten nun an der Macht waren – und Rechnungen zu begleichen oder aufgrund der Lage der Dinge einfach in dieser Hinsicht viel weniger zu tun hatten –, „schnell und konsequent“
Es war bekannt, dass diese Menschen bei der Bevölkerung nicht wohlgelitten waren, da sie, insbesondere als Jüdinnen und Juden, das schlechte Gewissen der Nation verkörperten. Zweifellos war das im Osten nicht anders, doch man konnte nicht offen darüber sprechen. Egal ob sie Jüdinnen waren oder nicht, blieben die Remigrantinnen genau wie die Remigranten ohnehin unter sich und bildeten eine verschworene Gemeinschaft von Exilheimkehrer_innen.
So beschreibt es Hanna K., die indessen die „anderen“ gar nicht wahrnahm. Selbst wenn sich alle Gesprächspartnerinnen ohne zu zögern zu ihrer jüdischen Herkunft bekannten, stellte sich doch die Frage nach ihrer Haltung zur Politik des Völkermordes im sogenannten Dritten Reich, für die es damals in der DDR keine Gedenkstätte und auch keine Gedenkveranstaltungen gab. Hatte man dieses Thema vielleicht unterschätzt und gewissermaßen in der kollektiven Erinnerung durch den institutionellen Antifaschismus aufgelöst?
Eine Überlebensstrategie
Hedda Zinner begnügte sich mit dem Kommentar, in der DDR entwickelten sich die Dinge. In ihrem letzten Buch, „Selbstbefragung“, erzählt sie 1989, wie sie es bei ihrer Ankunft in der UdSSR 1935 vermied, die Verfolgung der Jüdinnen und Juden in Deutschland zu betonen: „Ich war sonst gar nicht dafür, dass man die Judenverfolgungen besonders hervorhob, weil dadurch die Akzente verschoben wurden – was mit Kommunisten, Sozialdemokraten, Zigeunern, überhaupt geschah, war nicht weniger entsetzlich…“
Wenn man vom de facto offiziellen Antisemitismus der UdSSR einmal absieht, passt dieses Schweigen auch dazu, dass es damals im Osten wie im Westen zur kommunistischen Kultur gehörte, das Leid der Jüdinnen und Juden nicht so sehr in den Vordergrund zu stellen. Das war keine Besonderheit der DDR, sondern bei vielen Kommunist_innen jüdischer Herkunft in Frankreich und andernorts zu beobachten. Es war nur besonders erstaunlich, diese Einstellung auch auf deutschem Boden zu beobachten. Es gibt Grund zu der Annahme, dass eine derartige Distanzierung Teil einer mentalen Überlebensstrategie war. Die nachträglichen Gewissensbisse von Dora Schaul deuten darauf hin: Während die DDR im Herbst 1988, am 50. Jahrestag der Ereignisse vom 9. November 1938, der sogenannten Kristallnacht gedachte, fühlte sie sich an ihre Eltern erinnert, die sie, so kam es ihr vor, durch ihre Emigration nach Frankreich verlassen hatte.
Eine Angst, die niemals im Bewusstsein angekommen ist
Als ich mich mit diesen Frauen traf, gab es in der westlichen Welt auf einmal eine ganze Welle „jüdischer Erinnerungen“, darunter auch Claude Lanzmanns Dokumentarfilm „Shoah“ von 1985. Auch in der DDR gab es kurz vor der ‚Wende‘ ein neues Interesse an jüdischer Geschichte. Die Gruppe „Wir für uns“ entstand in diesem kulturellen Klima. Sie hatte das Ziel, die Defizite bei der Vermittlung jüdischer Geschichte und Kultur zu beheben.
Die von mir befragten Remigrantinnen hatten tendenziell eine positive Haltung gegenüber dieser Initiative. Sie waren allesamt nahezu 80 Jahre alt oder sogar noch älter. Und so war es auch schwierig, die in ihnen schlummernde jüdische Identität wieder zu erwecken. Nach wie vor hielten sie trotz allem und vor allem an ihrer Entscheidung fest, in ein sozialistisch gewordenes Deutschland zurückgekehrt zu sein. Dort hatten sie ihre berufliche Erfüllung gefunden und Förderung erhalten – ganz im Sinne des emanzipatorischen Projekts und der Sozialpolitik der DDR. Darüber hinaus hatten sie die Vorteile im Zusammenhang mit ihrem Status als „Opfer des Faschismus“ genossen. Die Entschädigungspolitik der DDR, insbesondere gegenüber den Jüdinnen und Juden, war unübersehbar: Sie kamen leichter an eine Wohnung, ein Auto, bekamen eine bessere medizinische Versorgung und ihre Kinder erhielten Studienplätze, die nicht an Vorbedingungen geknüpft waren.
Darüber hinaus hatten sie in den 1980er-Jahren das beneidenswerte und tatsächlich viel beneidete Privileg, ins Ausland reisen zu dürfen – einschließlich Israel, damit sie dort Familienmitglieder treffen konnten. Was die Fehler des DDR-Regimes betraf, waren sie keineswegs naiv, doch jede einzelne von ihnen fürchtete sich spürbar vor einer Renaissance des Nationalsozialismus. Diese Angst prägte sie für den Rest ihres Lebens, und auf diese Weise wurden sie auch wieder zu Jüdinnen.
Eine Kommunistin konnte aufhören, Kommunistin zu sein; eine Jüdin hatte solche Spielräume nicht. Das einzige Thema, bei dem die sonst so zurückhaltende Hedda Zinner im Gespräch mit mir etwas heftiger wurde, war das Erstarken der Neonazis „drüben“ in der Bundesrepublik, von dem damals die Rede war. Ihrer Auffassung nach gab es so etwas in der DDR nicht. Über eine rechtsradikale Skinhead-Szene, die in den 1980er-Jahren von der Stasi beobachtet wurde, wusste sie nichts oder wollte sie nichts wissen. Keine einzige dieser Frauen ist heute noch am Leben. Mit ihnen ist auch die kommunistische Identität verschwunden, wie sie sie in jener DDR erlebten, die ich als den letzten Ort der „jüdisch-deutschen Symbiose“ analysieren durfte – jenen Ort also, an dem der Widerspruch zwischen dem Universalismus auf der einen Seite und der Einzigartigkeit einer jüdischen Existenz andererseits überwunden werden konnte. Die Wahrnehmung der Rückkehr eines Antisemitismus, wie wir ihn heute in Deutschland und in anderen europäischen Staaten erleben, ist diesen mutigen Frauen erspart geblieben.
Zitierweise: Sonia Combe, „Hier können die Faschisten nichts unternehmen“, in: Deutschland Archiv, 31.3.2021, Link: www.bpb.de/330704.