So ist es, mein Joshua, ich bekenne mich zur heute so viel geschmähten und verachteten Nostalgie, zu einem schmerzlich-wehen Gefühl für die untergegangene DDR, die gerade begonnen hatte, zu meiner dritten Heimat zu werden. Verliere ich Dich mit diesem Bekenntnis, mein kleiner Schattenbegleiter? Denn so manchen werde ich verlieren, der eine solche Nostalgie verurteilt, manchen, an dessen Seite ich für immer zu stehen dachte. Diese Gemeinschaft war etwas Kostbares, sie gab mir ein Gefühl des unmittelbaren Zueinandergehörens, ein inneres Band, das ich für unzerreißbar hielt. Die Prediger des »Pluralismus« zerren an diesem Band, das nicht beliebig lange halten kann. Ein »Pluralismus«, der die pauschale Verurteilung der DDR und den Antikommunismus einschließt, zerschneidet alte, tiefe Gemeinsamkeiten, zerstört den politischen Richtungssinn und nimmt den Menschen die Kraft, an ihren Ideen festzuhalten. Ich meine, man soll freien Geistes prüfen, für welche Weltanschauung man sich entscheiden will. Aber entscheiden muss man sich, wenn man diese Welt, so wie sie ist, verändern will, entscheiden und dann miteinander einem gleichen Ziel zustreben.
Ich habe mein ganzes politisches Leben hindurch – vielleicht auch schon, als ich noch »unpolitisch«, christlich war – die Welt durch die Brille eines Arztes gesehen, dem Armut, Elend und Krankheit die Hauptfeinde sind. So bin ich zum Kommunismus gekommen und so habe ich das Glück gehabt, in der DDR ein Gesundheits- und Sozialwesen zu erleben, das ein großartiges Rahmenwerk schuf, eine soziale und gesundheitliche Vorsorge und Betreuung der Bevölkerung, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Dieser DDR – immerhin dem Kern eines jeden Sozialismus – gilt meine Nostalgie.
Ich bin der gewesenen DDR gegenüber nicht kritiklos und verherrliche ihre Vergangenheit nicht. Wäre ich ein Künstler oder Geisteswissenschaftler gewesen, so hätte ich sie aus anderen Blickwinkeln gesehen. Und wäre ich ein schärferer Denker, dann hätte ich auch schon damals umfassendere Kenntnisse und Erkenntnisse gewinnen können. Ob und wie ich dann anders gehandelt hätte, weiß ich nicht. Aber eines weiß ich mit Sicherheit: Es hätte mich nie und nimmer von den Ideen des Sozialismus abgedrängt, denn zu ihnen bin ich über unauslöschliche Erfahrungen und Erlebnisse im Kapitalismus gelangt.
Und wiederum steht die Frage, warum der Sozialismus im Wettstreit mit dem Kapitalismus um die bessere Gesellschaftsordnung am Ende unseres Jahrhunderts in Europa unterlag. Einige Gedanken dazu habe ich bereits im Zusammenhang mit der Sowjetunion geäußert. Manches mag auch für die DDR zutreffen. Aber man muss noch einmal auf ihre spezifischen Ausgangspositionen zurückgehen, ein Land, das keine eigene Revolution hatte. Die DDR begann ihren »realsozialistischen« Staat aufzubauen mit dem kleinen, geschundenen Häuflein alter Genossen, die aus Konzentrationslagern, Gefängnissen, Untergrund und Emigration zurückkamen, mit den jungen Genossen aus den Antifa-Schulen und mit einer Bevölkerung, die eine ganze Palette innerer Einstellungen zu diesem Wagnis aufwies: gutwillige und hoffende, abwartende bis pessimistische und verhärtet feindliche Menschen. An niemandem waren Hitlerfaschismus und Krieg spurlos vorübergegangen. Nur so kann ich mir zum Beispiel erklären, dass unsere Haftanstalten nicht makellos gewesen sind. Und doch bleibt es für mich ein Wunder, dass die DDR aus dieser historischen Belastung unter der Bevölkerung eine Atmosphäre schaffen konnte, die jedenfalls freundlicher, herzlicher und wärmer war als die in der »alten« BRD.
Unter den schlechteren Ausgangsbedingungen, verglichen mit der BRD, müssen natürlich auch die ökonomischen genannt werden. Die Last der alleinigen Verantwortung für die Zahlung der Reparationen – keinerlei finanzielle Unterstützung von außen – wie etwa für die BRD durch den Marshall-Plan –, die knappen Natur-Ressourcen: Die DDR hatte einen schweren Start. Aber daran ging sie nicht zugrunde.
Experten meinen, sie wäre aus ökonomischen Gründen gescheitert. Die Abhängigkeit von der industriell rückständigen Sowjetunion, der anhaltende Wirtschaftskampf mit dem Westen, Embargo und Valutamangel, der Kalte Krieg mit seinen forcierten Rüstungszwängen, die eigene Armut an Energiequellen – jeder Schritt vorwärts, den die DDR trotz alledem machte, wurde raffiniert von der anderen Seite gekontert.
Westberlin wurde zur Frontstadt, zur »billigsten Atombombe« des Kalten Krieges. Unzählige Geheimdienste, Fluchthelferzentralen, Menschen«schlepper« durchlöcherten förmlich die Stadt und verdarben die Moral »hüben« und »drüben«. Allein die CIA der USA arbeitete damals mit einem Milliarden-Budget, um das »sozialistische Lager« zu destabilisieren. Zugleich wurde Westberlin zum verführerischen Schaufenster des westlichen Luxus subventioniert.
Die Gefahr eines heißen Krieges war 1961 so unmittelbar bedrohlich, dass die Staaten des Warschauer Vertrages die Errichtung der »Mauer« beschlossen. Als eine Grenze des Friedens war sie gedacht, und als solche habe ich sie damals begrüßt. Sie machte der massenhaften Republikflucht, die wie eine Hypnose über die Menschen der DDR gekommen war, und dem Ausverkauf ihrer preisgestützten Konsumgüter durch Ströme von Käufern aus Westberlin und der BRD ein Ende. Ich meinte, man könnte aufatmen und sich in größerer Ruhe entwickeln. Und doch erwies sich die »Mauer« als eine steigende innere Last für die DDR. Familien-, Liebes- und Freundschaftsbande wurden zerrissen. Tragische Schicksale schufen Zorn und Verzweiflung. Die Isolierung von der westlichen Welt erzeugte an vielen Stellen die Gefahr des geistigen Provinzialismus, man kannte das Ausland wenig, westliche Fremdsprachen kaum, die Konfrontation mit dem Weltniveau wurde nur schwer gefunden, häufig gar nicht mehr gesucht. Modernes Wissen und Können war vom Zurückbleiben bedroht, was sich auch auf die Produktion auswirkte.
Die mangelnden Möglichkeiten, die Welt außerhalb der sozialistischen zu entdecken, führten zur Unzufriedenheit, zu Gefühlen des Eingeengt-, ja des Eingesperrtseins – insbesondere unter der Jugend. Und dann gab es natürlich doch Menschen, die reisen durften, ja mussten. Hier schieden sich die Bürger in bedrückender Weise in solche, denen man vertraute, und solche, denen man misstraute, zu Recht und zu Unrecht. Das Problem der »Reisekader« wurde besonders unter der Intelligenz zu einem Problem höchster Brisanz. Unsere Familie durfte sich zum Beispiel zunächst frei in der Welt bewegen, da wir österreichische Pässe besaßen. Dieses beschämende Gefühl, privilegiert zu sein, war für mich damals ein wesentlicher Grund für unser Ansuchen, DDR-Staatsbürger zu werden.
Hätte es eine Möglichkeit gegeben, die »Mauer« anders zu handhaben? War sie überhaupt zu vermeiden? Alles hängt davon ab, ob die Einschätzung der damaligen politischen Lage richtig war. Diese Frage müssen künftige Historiker beantworten. Ich glaube aber, dass die Errichtung der »Mauer« zwischen Ost und West zu den tragischen Zwängen unseres Jahrhunderts gehörte. Ebenso wie sie den Frieden zwischen den beiden feindlichen Lagern des Kalten Krieges sichern half, trug sie zu vielschichtigen Schwierigkeiten im Inneren der DDR bei. Und ob man das Ganze anders hätte handhaben können, ohne gleichzeitig die erwartete friedenssichernde Funktion wieder aufzugeben, weiß ich nicht.
Rede ich zu viel von »historischen Zwängen«? Hat die DDR keine Fehler gemacht? – Doch, sie hat Fehler gemacht, große und unverzeihliche Fehler, solche, die sich aus der Konstellation der Menschen ergaben, sowohl derer, die die DDR »führten«, als auch derer, die »das Volk« bildeten. Wir hatten nicht das Glück, historisch herausragende, weitsichtige Politiker an der Spitze unseres Staates zu haben. So wurden die weltweiten Fortschritte in der Kommunikation, im Computerwesen anfangs verschlafen, die wissenschaftlich-technische Revolution zu spät erkannt und genutzt und durch das Misstrauen gegenüber der Intelligenz viele Möglichkeiten des schnelleren Vorwärtskommens verpasst. Übrigens haben mich nicht nur das tiefwurzelnde Misstrauen, sondern oft auch die mangelnde Menschenkenntnis unserer »Spitzenpolitiker« schockiert.
Der Faktor der Persönlichkeit in der Geschichte ist sicher größer, als viele von uns dachten. Wir hatten keinen Ho Chi Minh, keinen Fidel Castro, geschweige denn einen Lenin. Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl waren beliebt und geachtet, aber doch keine großen Staatsmänner. Walter Ulbricht war vielleicht klüger als sie, aber seine selbstherrliche Energie richtete viel Schaden an. Erich Honecker fehlte es an Weitsicht und er ließ am Ende seines Lebens, als er schon krank war, das Ruder gänzlich aus seinen Händen gleiten.
Aber ist damit der Untergang der DDR erklärbar? Gab es nicht tiefergehende Fehler, selbstverschuldete, solche, die nicht mit historischen Zufälligkeiten oder Gesetzmäßigkeiten zusammenhängen?
Ich glaube nicht, dass der Sozialismus an seinem Wesen zugrunde gegangen ist. Aber er wich allmählich von seinen ureigenen Prinzipien ab. Ein Kernstück – vielleicht sogar das Kernstück überhaupt – geriet mehr und mehr in den Hintergrund: das Prinzip von Kritik und Selbstkritik. Die Selbstkritik wurde zur sogenannten »Kritik nach vorn«, sie entstand nicht mehr aus gründlichen, schonungslosen Analysen und wurde nicht mehr in voller Offenheit dargelegt, sondern fast im Vorübergehen mit dem Vortragen neuer Pläne und Ideen erledigt. Während an der Basis bis zur »Wende« eine lebendige schöpferische Kritik existierte, nahm die Kritik »von unten nach oben« in vielen Bereichen nach und nach ab. Diese fatale Entwicklung beruhte auf mehreren Faktoren: auf einem weit verbreiteten Mangel an Zivilcourage, auf dem Karrierismus ehrgeiziger Personen, auf der Resignation zunehmender Zahlen von Menschen infolge mangelnder Akzeptanz und Verarbeitung ihrer Kritik durch die Partei- und Staatsorgane und schließlich auch auf einer blinden oder sogar sehenden »Parteidisziplin« guter, getreuer Genossen.
Kritik und Selbstkritik sind meines Erachtens die Grundlagen jeder wirklichen Demokratie. Sie sind mit Sicherheit die unerlässlichen Vorbedingungen für die Elastizität und Lebensfähigkeit eines sozialistischen Staates, der auf die freudige und initiativreiche Mitarbeit eines größeren Teiles der Bevölkerung angewiesen ist.
Aber in meinen Augen gibt es noch weitere schwerwiegende Fehler: Die ungenügende Gewaltentrennung des Staates, vor allem das schmerzliche Fehlen einer wenigstens relativ unabhängigen Justiz habe ich angesprochen. Auch die Partei fand kein rechtlich akzeptables Verhältnis zu den Staatsorganen. Sie hätte viel größere Zurückhaltung üben und ihre Aufgaben in der Herausarbeitung von Ideen und Entwicklungen sehen sowie über die Einhaltung von Moral und Gerechtigkeit für ein optimal funktionierendes Gesellschaftssystem wachen müssen – eine Aufgabe, die größtes Feingefühl, hohe geistige Kapazität und eine elastische Festigkeit erfordert. Gängelei, Einmischung in staatliche Angelegenheiten, ja sogar Übernahme von Regierungsaufgaben hätte eine solche Partei vermeiden müssen. So aber hat es in der DDR eine dreifache Sicherung der »Macht« gegeben: durch Partei, Staat und Staatssicherheit – mit oft völlig undurchsichtiger Kompetenz der Instanzen. Das war mit Sicherheit ein ungesunder Zustand.
Aber er entstand nicht aus dem Ideengehalt des Sozialismus selbst, sondern bildete sich unter schwierigsten äußeren und inneren Bedingungen gegen den erbitterten Widerstand des anderen – von reichen Gönnern gestützten – Deutschlands sowie aller anderen Westmächte heraus, in einer DDR, die Schritt für Schritt aus den Trümmern des Nationalsozialismus heraus den Sozialismus aufbauen wollte.
Über die Beschuldigungen, die DDR sei ein »Unrechtsstaat« gewesen, in dem Sinne, dass ihre Obrigkeit und ihre Bevölkerung sich vor einem internationalen Gerichtshof pauschal zu verantworten hätten, habe ich schon ausführlich gesprochen.
An Unmoral ist die DDR nicht zugrunde gegangen. Ihre sozialistische Weltanschauung hatte hohe ethische Standards. Dass diese sich nicht – wie ersehnt – realisieren konnten, lag an den historischen Umständen und an der Tatsache, dass sie sich durch Menschen wohl nie vollkommen verwirklichen lassen – auch dem Christentum ist dies selbst in den 2000 Jahren seines Bestehens nicht gelungen.
Joshua – mein unersättlicher Fragegeist –, Du drängst mich, an den Problemen von Macht und Demokratie in der DDR nicht schweigend vorüberzugehen. Aber Du überforderst mich, und ich kann Dich keinesfalls mit meinen Antworten befriedigen. Macht ist eine gefährliche Leihgabe – sei es für eine Partei, eine Regierung oder eine Einzelperson. Auf längere Dauer scheitert sie meist an der Verletzung des Prinzips von Kritik und Selbstkritik. Was das Problem der Demokratie angeht, so muss ich Dir gestehen, dass ich sie in meinen nunmehr vier verschiedenen »Leben« noch nie in ihrem schönsten und umfassendsten Sinne erfahren habe. Eine rein parlamentarische Demokratie erfüllt offensichtlich den Kern des Begriffes nicht. Die sozialistische Demokratie mit ihrem Aufruf »Plane mit, arbeite mit, regiere mit« hat meines Erachtens mehr Anspruch auf diese philosophische Kategorie. Sie ist uns auch zeitweise und in manchen Bereichen geglückt – aber leider nicht durchgehend.
Immerhin hat es im Zusammenleben der Menschen lebendige Züge von Demokratie gegeben – in den Wohngemeinschaften zum Beispiel und vor allem in den Arbeitskollektiven. Hierzu gehört auch die ökologische Verantwortung, die selbst Kinder mit einbezog. Unzweifelhaft hatte sich in der Bevölkerung ein gewisses spezifisches DDR-Gefühl herausgebildet, das demokratische Grundzüge aufwies und bis heute nicht vollständig verlorengegangen ist. Je größer ein Staatswesen ist, desto schwieriger erscheint mir die Verwirklichung einer aktiven, alles durchdringenden Demokratie. Mit der Tendenz der Menschheit zu immer mehr Globalisierung stehen uns für das Bedürfnis der Menschen nach wahrer Demokratie noch tiefschürfende theoretische Überlegungen bevor.
Ich fühle, mein Joshua, Du bist unzufrieden mit Deiner Imo. Sie hat Dir auf die Frage, woran der Sozialismus hier und in unserer Zeit gescheitert ist, keine klare, eindeutige Antwort gegeben. Vielleicht findest Du in den konkreten Erlebnissen Deiner Großmutter deutlichere Hinweise über den Strom des Geschehens, seinen Puls, seine Stockungen, seine Um- und Irrwege. So unzulänglich all mein Grübeln, die wissenschaftliche Durchdringung der Frage auch sein mögen – sie beschäftigen Tausende und Abertausende einfache und auch weitaus klügere, sachkundigere Menschen, die ihre Hoffnungen auf eine bessere Lösung der Menschheitsprobleme gesetzt hatten und im Sozialismus weiterhin eine Alternative zum Kapitalismus sehen.
Was hatte es auf sich mit diesem Experiment, auf deutschem Boden erstmalig einen sozialistischen Staat aufzubauen? Wohl noch kein Staatsgebilde in der deutschen Geschichte hatte eine solche Wandlung in Bezug auf humanistische Zielstellung, Strukturen, Systemlösungen und Beziehungen der Menschen zueinander und zu anderen Staaten versucht wie diese DDR. Auch sind noch nie in so kurzem Zeitraum derart einschneidende Umbrüche alter Vorstellungen und Lebensweisen erfolgt wie in den 40 Jahren der DDR. Die Neuartigkeit der Umwälzungen und ihr Tempo, das Spannungsfeld dieses Staates zwischen Wollen und Können, seine ökonomische und ideologische Störanfälligkeit durch innere und äußere Faktoren, seine ständige Existenzbedrohung von der Gründung bis zum Ende – mit all ihren tragischen restriktiven Konsequenzen – werden selbst bei größerem zeitlichem Abstand dem wahrheitssuchenden Historiker große Schwierigkeiten bereiten, ein umfassendes und realistisches Bild zu gewinnen.
Was bisher in dieser Richtung geschah, ist getrübt auf der einen Seite von unzähligen Schmähungen und Verleumdungen in den öffentlichen Medien, von ungenügend geprüften und vorschnellen Verurteilungen durch staatliche und gesellschaftliche Institutionen sowie durch Individuen und auf der anderen Seite durch den Schock, Schmerz, Selbstbezichtigungen Verzweiflung und Resignation von Millionen Menschen, die sich fragen, ob sie 40 Jahre ihres Lebens in der DDR vergeudet haben. Vernichtete Existenzen, tausendfache Entlassungen, »Abwicklung« ganzer wissenschaftlicher Institutionen, die ersatzlose Streichung von Forschungsprojekten, von ideenreichen Neuerungen, die Auflösung funktionierender Strukturen verzerren heute die Erinnerung an das Originalbild der DDR und vermitteln den unwissenden Nachkommen ebenso wie der heutigen manipulierten Umwelt, die die DDR nicht aus eigenem Erleben kennengelernt hat, falsche Vorstellungen, die ihren Höhepunkt in der pauschalen Charakterisierung der DDR als »Unrechtsstaat« finden.
Unwissenheit, Vorurteile, Hass und blinde Nostalgie verhindern mit ihren widersprüchlichen Emotionen eine gerechte und sachliche Betrachtung und Einschätzung dessen, was die DDR wirklich anstrebte und wie viel ihr in der Realität gelang, welche Ursachen zu ihrem Untergang führten und in welchen historischen Zusammenhängen diese vernetzt waren.
Ohne Zweifel erfordert auch die Gesamtbewertung der DDR eine höchst differenzierte Analyse und Einschätzung ihrer verschiedenen staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen. Es ist sicherlich nachdenkenswert, dass in den Erinnerungen der früheren DDR-Bürger das Gesundheits- und Sozialwesen der DDR, einige Facetten des Bildungswesens und die Landwirtschaft immer wieder als besonders positiv »auftauchen«. Nach der »Wende« riefen wir die »Interessengemeinschaft Medizin und Gesellschaft« ins Leben, die eine ihrer Aufgaben darin sieht, das Bewahrenswerte vom Gesundheits- und Sozialwesen der DDR zu dokumentieren – solange es noch Zeitzeugen gibt, um somit Nostalgie in Schöpferisches umzuwandeln.
Abschiedsworte an Joshua
Soll ich wirklich in dieser frivolen Tonart zum Schluss kommen – noch dazu mit den kulturhistorischen Schnitzern, die der »unziemliche Exkurs« enthält? Nein, mein Joshua, denn es gilt ja auch, von Dir Abschied zu nehmen, Dir zu danken, der Du eine so wichtige Gestalt für mich angenommen hast, weit über ein »literarisches Hilfsmittel« hinaus. Nicht nur, dass Du ein geduldiger Zuhörer warst – Du hast mich ständig zur Wahrhaftigkeit angehalten, mir selbst, meinen Gedanken und meinem Erlebten gegenüber. Du hast mir gestattet, ja sogar geboten, Dinge auszusprechen, die ich in mir begraben oder noch nicht genügend durchdacht hatte, und tatest dies alles ohne Ermahnungen, sondern allein durch Deine stillschweigende, verständnisvolle Erwartung. Durch Dich habe ich das süße und bittere Geschehen der vergangenen acht Jahrzehnte noch einmal durchlaufen, Menschen aus Vergangenem hervorbeschwören und einen Überblick gewinnen können über die unzähligen Stückchen eigenen Lebens, die sich in die große Geschichte unseres Jahrhunderts einfügen. Mir ist es weh ums Herz, mein Joshua, mich von Dir zu lösen. Es ist merkwürdig, wie wirklich Du für mich geworden bist, während ich Dir mein Leben anvertraut habe. Möchte ich, dass Du für immer ungeboren bleibst? Nein, ich wünsche mir, dass Du Dich eines fernen Tages der Welt mit eigenen Gedanken und Taten stellst. Wähle Dir den richtigen Zeitpunkt für die Gestaltung einer glücklicheren und besseren Gesellschaft, reihe Dich ein in den Kreis hochgemuter Menschen und schaffe mit ihnen gemeinsam, was uns noch nicht gelungen ist.
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Das Buch »Meine ersten drei Leben« erscheint Externer Link: im Verlag Neues Leben, einem Imprint der Eulenspiegel Verlagsgruppe.
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