Ein Buch einer außergewöhnlichen Frau: "Meine ersten drei Leben"
Daniel Rapoport zur Autobiografie seiner Großmutter Ingeborg
Daniel Rapoport
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Einleitend zur Neuauflage der Autobiografie seiner Großmutter "Meine ersten drei Leben" beschreibt ihr Enkel in einfühlsamen Worten das liebevolle Wesen Ingeborg Rapoports. Er nennt sie eine außergewöhnliche Frau und das war sie auch. Sie musste mehrfach fliehen: als Jüdin aus Deutschland vor den Nazis in die USA und vor den Häschern McCarthys·schließlich aus den USA in die DDR. Hier lebte die renommierte Kinderärztin mit ihrem Mann Mitja Rapoport und vier Kindern. Das Buch schrieb sie im Jahr 1997, es wurde jetzt neu aufgelegt.
Es geht um das Buch einer außergewöhnlichen Frau, Ingeborg Rapoport. Die Kinderärztin hat das Konzept einer Neugeborenenklinik aus den USA nach Deutschland gebracht. Zuvor hatte sie, als Jüdin verfolgt, aus Deutschland in die USA fliehen müssen. Dann floh sie, verfolgt als Kommunistin in der Ära des Mccarthyismus, aus den USA zurück nach Europa, in die DDR. Seit der ARD-Serie "Charité" im Winter 2021 ist sie einem breiteren Publikum bekannt. Nachfolgend das Vorwort ihres Enkels Daniel Rapoport, und anschließend Textauszüge von Ingeborg Rapoport, verfasst 1997.
Man fragt sich, wie jemand bei so viel Gefliehe überhaupt noch Wesentliches leisten kann. Ingeborg Rapoport konnte. Sie war eine große Ärztin, der älteste Mensch der Welt (mit 102 Jahren), der je eine Doktorprüfung bestanden hat. Und sie war meine Großmutter »Imo«. Eigentlich hatte sie diese Erinnerungen in den Jahren 1996 und 1997 für den familieninternen Gebrauch geschrieben. Sie sollten uns die Geschichte unserer Herkunft erzählen. Für Imo wurde es eine Lebensbeichte. Der Ton ist hier zwangsläufig ernster und nachdenklicher, als ich sie kannte. Sie war witzig, konnte komisch bis zur Albernheit sein und zugleich auf rührende Weise naiv und mädchenhaft.
In ihren späten Jahren habe ich meine Großeltern regelmäßig besucht und bei immer gleichem Gedeck – Käsekuchen und ein Kännchen stark gebrühten Earl Greys – über Politik, Wissenschaft und Kunst geredet. Nie ging es um Nebensächliches oder Irrelevantes. Imo richtet die Beichte an Joshua, ihren ungeborenen Enkel, meinen ungeborenen Bruder oder Cousin. Dieser kleine Kosmonaut im großen Raum der Möglichkeiten ist natürlich kein Zufall und auch kein bloßer erzählerischer Trick. Imos Leben kreiste um Ungeborene, Neugeborene, Ankünftige, Schutzbedürftige. Sie, die vielfach selbst des Schutzes bedurfte, hatte sich zur Aufgabe erkoren, das Leben, wo es ins Leben tritt, in Empfang zu nehmen, es zu behüten und ihm Wachstum und Entfaltung zu ermöglichen.
In der damals deutschen Kolonie Kamerun geboren, wuchs sie in Hamburg als Tochter eines christlichen Vaters und einer jüdischen Mutter auf. Wiewohl sie nie so recht an Gott glauben mochte (ihn aber auch nicht kategorisch ausschloss), rührte sie jener Teil der religiösen Tradition, der Barmherzigkeit predigt. Er formte, vielleicht von ihr unbemerkt, ihren Lebenskern. Handelnd hat sie den altehrwürdigen Begriff der Barmherzigkeit für sich und das 20. Jahrhundert aktualisiert, ihn aus einer duldenden und vereinzelten Tugend in eine tätige, organisierte, wissenschaftlich unterlegte Form überführt. Diese Form fand sie weltanschaulich im Kommunismus, professionell in der Neonatologie. Der Beruf stand früh fest, den Kommunismus lernte sie später kennen. Der ihn ihr nahebrachte, das war die Liebe ihres Lebens, Samuel Mitja, mein Großvater. Man kann sie nicht ohne ihn und ihn nicht ohne sie begreifen.
Sieht man einmal ab von Philemon und Baucis ist mir keine Erzählung bekannt, die ein Liebespaar zeichnet, das einander so ergänzt, beflügelt und ein Leben lang entzückt. Dabei wäre solch ein Paar gewiss unsterblich und der Ruhm seines Autors unverlöschlich. Das Leben, das ja bekanntlich die besten Geschichten schreibt, ist trotzdem ein seltsam ruhmloser Autor. Es mag wohl daran liegen, dass ihm dann doch vieles recht gründlich misslingt. Seinen Hang zum Fragment sieht man ihm ungern nach. Glücklicherweise waren meiner Großmutter und ihrem Mitja ein sehr langes und auf eine Weise wildes Leben beschieden. Imo wurde 104 Jahre alt und blieb bis zum Schluss ganz und gar beisammen und wunderbar alert. Nein, die mieseste Volte, die das Leben meinen Großeltern schlug, war wohl das Ende des Sozialismus in der DDR. An dessen Gelingen hatten sie ihre Hoffnung geknüpft und auf seine Einrichtung und Verbesserung einen großen Teil ihrer Anstrengungen verwendet. Als sie begriffen, wie viele dieses Ziel nicht teilten, und die Freude im Land sahen, als es mit dem Sozialismus zu Ende ging, da hätten sie leicht den Boden unter den Füßen verlieren können. Haben sie aber nicht. Mag sein, sie schwankten etwas.
Aber Wissenschaftler, die sie waren, gingen sie sofort in die Analyse, suchten nach Fehlern im Versuchsaufbau und zogen ihre Schlüsse. Ein Teil dieser Suche ist das vorliegende Buch. Auch deshalb wurde es so interessant. Und trotz des schweren Themas wunderbar leicht zu lesen. Leichtigkeit entsteht nie aus Zufall. Imo konnte schreiben. Sie war mit vielen Talenten gesegnet, manche hat sie nie voll entfaltet. Es lässt sich kaum ermessen, welche künftigen Aufgaben unserer noch harren, wenn Entfaltung das Ziel sein soll und nicht einmal 104 Jahre dafür auszureichen scheinen. Joshua, kleiner Bruder, sag, wie verhält sich das im unendlichen Raum der Möglichkeiten? Ist dort die Regel, was hier ausgeschlossen scheint: Ein Immerweiterwirken und Immerhöherwachsen? Oder muss selbst dort an Grenzen stoßen, was dauernd wachsen will? Und, Brüderchen, hat Imo Dir auch dies anvertraut: Es liegt die Hoffnung der Menschheit nicht nur in jedem neu Ankommenden, sondern auch in jedem, der geht.
Lesen Sie hier das Kapitel Interner Link: "Menschen aus der Nachbarschaft" aus dem dritten Teil der Autobiografie von Ingeborg Rapoport. Darin beschreibt die Kinderärztin den Start ihrer Familie in der DDR. Dorthin musste sie mit ihrem Mann Mitja Rapoport und ihren vier Kindern vor Joseph McCarthy und seiner Kampagne gegen Kommunisten aus den USA fliehen. Lesen Sie auch das Kapitel Interner Link: „Kinderklinik der Charité", darin schreibt Ingeborg Rapoport über die Kinderklinik und die politische Verortung des medizinischen Personals Ende der 1950er-Jahre und in den Sechzigerjahren. Und lesen Sie „Interner Link: Bekenntnis zur Nostalgie und Abschiedsworte an Joshua“: Diese Kapitel aus Ingeborg Rapoports Buch „Meine ersten drei Leben“ liegen ihrem Sohn Tom Rapoport besonders am Herzen. Es ist ihr Bekenntnis zum Sozialismus im humanistischen Sinne, trotz ihrer durchaus kritischen Haltung zur DDR-Führung unter Erich Honecker.
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