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Die durchlaufene Mauer Heraus aus der "Sackgasse unseres Lebens". Erinnerungen an die (Wahlkampf-)Zeit nach dem Mauerfall.

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Der ehemalige Volkskammerabgeordnete der SPD, Steffen Reiche, beschreibt jenes „Unbegreifliche“ aus 1989, wie es überhaupt zur ersten freien Parlamentswahl im März 1990 kommen konnte: durch Überwindung der Mauer. Er erinnert auch an die Rolle Willy Brandts und reflektiert, warum die damals in der DDR neu gegründete SPD bei der Volkskammerwahl schlechter abschnitt, als erwartet.

Nicht wird mehr so sein wie es war. Der ehemalige Bundeskanzler und Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, am 10. November 1989 bei seiner Rede am Tag nach der Maueröffnung auf dem Balkon des Rathaus Schöneberg. Im Vordergrund Außenminister Hans-Dietrich Genscher und im Hintergrund der damals amtierende Bundeskanzler Helmut Kohl.

"Nichts wird wieder so werden, wie es war". Der ehemalige Bundeskanzler und Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt (SPD), am 10. November 1989 bei seiner Rede am Tag nach der Maueröffnung auf dem Balkon des Rathaus Schöneberg. Im Vordergrund der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und im Hintergrund der damals amtierende Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU). (© picture-alliance)

Am 9. November 1989, so weist es mein Amtskalender von damals aus, bekamen wir morgens früh in Berlin Kohlen, die uns einfach in den Hof geschüttet wurden und die ich dann nach oben tragen musste. Zur Auflösung der Fußnote[1] Unsere Tochter konnte das Schreien der Kohlenmänner vom Kohlenhof in der Lychener Straße wunderbar nachmachen. Mit tiefer Stimme rief sie, so laut sie konnte: „Reiche, Menzel-Kohlen.“ Um 16.30 Uhr traf sich meine Christenlehregruppe und um 19 Uhr der Mütterkreis in meinem Pfarrhaus in Christinendorf.

Ich musste Tee kochen, als mein Nachbar Ralf plötzlich hereinkam – glücklich und aufgeregt. Er wohnte zwei Häuser weiter, zwischen uns war die Kneipe, er war Karosserieschlosser, und seine Mutter kam auch zum Mütterkreis und war im Gemeindekirchenrat. Wir hatten Freundschaft geschlossen, denn wir waren gleichaltrig und mit ihm machte es Freude, offen zu reden und zugleich ein wenig über den Tellerrand der Gemeinde zu gucken. Ralf erzählte mir, dass die Mauer wohl an dem Abend geöffnet würde. Er habe eben etwas im Fernsehen gehört, was ihm Hoffnung machte.

Wir beide konnten das zunächst nicht glauben, aber zugleich wussten wir, wie viel sich in den letzten Tagen schon ereignet hatte, wie viel von dem, was wir bis dahin für unmöglich hielten, plötzlich möglich wurde. Deshalb entschieden wir uns, es für unwahrscheinlich, aber denkbar zu halten. Wir verabredeten, uns am Abend noch einmal zu treffen, er weiter Nachrichten sehen und uns informieren solle. Wenn die Grenze tatsächlich geöffnet werden sollte, wollten wir unbedingt zur Berliner Mauer fahren.

Nach der Tagesschau kam er erneut in den Gemeindesaal und bestätigte, die Grenzen gehen auf. Wir konnten es nicht glauben, überlegten, welcher Trick das nun wieder sein könnte, und hatten große Sorge, dass die Mauer nur wie ein Ventil geöffnet würde – und wenn genug Druck abgelassen ist, wieder dichtgemacht wird. Deshalb wollten wir unbedingt noch an diesem Abend dorthin, um mit eigenen Augen das Unbegreifliche zu sehen. Kaum war der Mütterkreis zu Ende, war auch Ralf mit seiner Freundin wieder da, fassungslos tranken wir zu dritt eine Flasche Sekt, die er mitgebracht hatte, wohlwissend, dass wir noch fahren wollten und dass in der DDR eigentlich null Promille galt.

Aber wir dachten uns, dass die Polizei an diesem Abend wohl nicht kontrollieren würde, da sie mit der neuen Situation bestimmt überfordert war. Er hatte das wesentlich bessere Auto, einen Shiguli, eine russische Fiat-Gestattungsproduktion (so hieß das, wenn in der DDR Waren im Auftrag westlicher Unternehmen gefertigt wurden). Ich hatte Mühe, mit meinem Auto mitzuhalten. Wir wollten zur Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße, die als Ort der Grenzöffnung im Fernsehen zu sehen gewesen war und die auch in der Nähe meiner Berliner Wohnung lag. Die Straße war weit vor der Grenze voller Menschen und Autos, alle waren in einem sonst toten Raum der Stadt unterwegs. In die Bornholmer Straße ging man sonst nicht. Es gab da wenig zu sehen und was man sah, frustrierte nur, und zugleich musste man sich eventuell dumme Fragen gefallen lassen.

Nun aber strömte alles in diese Richtung. Ich fuhr, nachdem wir uns getrennt hatten, schnell nach Hause, in die nahe gelegene »Lychener«. Ich hatte nicht anrufen können, denn wir hatten ja kein Telefon. Katrin lag mit Rebecca schon im Bett. Ich weckte sie und sagte ihnen, dass wir unbedingt zur Grenze müssten. Sie protestierten erst schlaftrunken, aber dann waren sie hellwach und mussten nicht lange überlegen. Wenig später fuhren wir mit dem Auto Richtung Grenze, Eiserner Vorhang, Richtung Mauer, Richtung Ende unserer Welt, in die bisherige Sackgasse unseres Lebens. Wir fanden sogar noch einen Parkplatz in der Ostseestraße, obwohl fast alles zugeparkt war. Wir waren begeistert und überglücklich, aber wussten zugleich gemeinsam mit allen anderen nicht, was nun eigentlich weiter passieren würde. Alles war denkbar, aber im Grunde konnten wir vor lauter Glück und Überraschung nicht denken.

Mauerfall ein falscher Begriff

Da, wo wir bisher nie hingegangen waren, weil es da nichts für uns zu sehen gab, strömten nun Tausende Menschen und gingen durch den Eisernen Vorgang, durchliefen die Mauer. Die Mauer ist in jener Nacht nicht „gefallen“! Es ist ein genauso falsches Wort wie „Wende“. Wenn man Mauerfall sagt, klingt es so, als wäre die Mauer so altersschwach gewesen, dass sie einfach eingestürzt oder umgefallen wäre. Aber das geschah nicht in dieser Nacht. Die Mauer ist durchlaufen worden und war damit überflüssig. Mauerspechte haben sich anschließend lustig gemacht über sie, sie weiter durchlöchert, bis sie dann in monatelanger Arbeit zu Straßenbelag geschreddert wurde.

Das Bild zeigt viele Menschen, die an und auf der Berliner Mauer in der Nähe des Brandenburger Tores den Mauerfall feiern.

Tausende feiern nach dem Fall der Mauer in der Nähe des Brandenburger Tores. (Thomas Hackmann / wir-waren-so-frei.de) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Ebenso war es keine Wende. Das hätten sie zwar gerne gehabt, dass wir Krenz und seinem neuen Politbüro die Wende geglaubt hätten. Wir sind jedoch geradeaus weitergelaufen, ohne uns von Egon Krenz betören zu lassen. Es war eine friedliche, tiefgreifende Reformation, denn der Osten wurde in die Form gebracht, in der der Westen schon war. Oder, so könnte man mit Habermas sagen, dass es eine nachholende Revolution war. Zur Auflösung der Fußnote[2] Der Osten holte nach, was im Westen schon 40 Jahre entwickelt worden war.

Eine Nacht lang das glücklichste Volk der Welt

Wir liefen durch das Spalier der begeisterten West-Berliner Richtung U-Bahnhof Osloer Straße und waren in dieser Nacht wohl wirklich das glücklichste Volk der Welt. Wir waren mit diesem Empfang spürbar ein Volk, denn die West-Berliner begrüßten uns bei sich, als wären wir nach Hause zurückgekommen. Vom Osloer Bahnhof fuhren wir zum Bahnhof Zoo, dem legendären Sehnsuchtsort, den jeder auch im Osten vom Namen her kannte, aber nicht besuchen konnte. Die Züge der Deutschen Reichsbahn, die aus Westdeutschland durch Ostdeutschland fuhren, endeten hier. Nun waren wir als Familie da und konnten nicht fassen, was wir erlebten.

Wie in alten Filmen, wo auch ein Abendblatt verteilt wird, kamen plötzlich Menschen und verteilten eine frisch gedruckte BILD-Zeitung, in der davon berichtet wurde, dass sich der Bundestag am Abend erhoben und »Nun danket alle Gott« gesungen habe. Wir waren dabei, als sich Geschichte ereignete, hatten Geschichte miterlebt und mitgeschrieben. Ich schlug meiner Familie irgendwann tief in der Nacht vor, dass wir meine Freundin Susanne besuchen sollten. Als wir klingelten, gegen 3 Uhr in der Nacht, war sie verwundert und verärgert, aber als sie Katrin und Rebecca sah, wusste sie, dass etwas geschehen war, was diesen späten Besuch rechtfertigte. Wir erzählten bis in den Morgen, denn schlafen konnten wir sowieso nicht und wir wollten die Geschichte spüren, wollten, dass unser Verstand uns wieder einholte. Am nächsten Tag waren wir nach dem Frühstück lange in der Stadt unterwegs. Ich meldete mich bei vielen guten Bekannten, um gemeinsam Fassung zu finden.

Begegnung mit Willy Brandt

Am Abend des 10. November ging ich zum Schöneberger Rathaus, denn dort wollte Walter Momper als Regierender Bürgermeister zu den Berlinern und an seiner Seite sollten Willy Brandt und Helmut Kohl sprechen. Den Jubel der Menschen im Osten hatte ich miterlebt und war Teil dieses Jubels gewesen. Nun wollte ich miterleben, wie der Westen reagierte. Zugleich war nach der Kundgebung ein Ad-hoc-Treffen der anwesenden Sozialdemokraten aus dem Westen mit dem Vorstand der SDP im Ostberliner Hospiz in der Albrechtstraße geplant, so hieß ein evangelisches Hotel in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof Friedrichstraße.

Unvergessen aus jenen Tagen ist mir jener Satz geblieben von Willy Brandt, der Geschichte schreiben sollte, weil er von dem gesagt wurde, dem man aus meiner Sicht durch seine Entspannungpolitik letztlich diese Geschichte verdankte und weil er das Geschehen in genialer Einfachheit zusammenfasste: "ich bin dem Herrgott dankbar dafür, dass ich dies miterleben darf – wir erleben, dass die Teile Europas wieder zusammenwachsen", formulierte er auf dem Rathausbalkon in seiner Rede. Und in anschließenden Interviews und auch den Gesprächen mit uns im Gründerkreis der Ost-SPD formulierte er jene einprägsamen fünf Worte, die die den Westen in die Pflicht nahmen und die der Welt erklärten, dass ein jahrzehntelanges Unrecht zu Ende ging: "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört!". Ab jetzt öffneten sich komplett neue Wege. Auch das formulierte Brandt damals weissagend auf dem Rathausbalkon:

"Das Zusammenrücken der Deutschen, darum geht es, das Zusammenrücken der Deutschen verwirklicht sich anders, als es die meisten von uns erwartet haben. Und keiner sollte in diesem Augenblick so tun, als wüßte er ganz genau, in welcher konkreten Form die Menschen in den beiden Staaten in ein neues Verhältnis zueinander geraten werden. Dass sie in ein anderes Verhältnis zueinander geraten, dass sie in Freiheit zusammenfinden und sich entfalten können, darauf allein kommt es an. Aber eines ist sicher: Nichts wird wieder so werden, wie es war." Zur Auflösung der Fußnote[3]

Der Weg hin zu einer - schon vier Monate später - frei gewählten Volkskammer, die dann mehrheitlich über die Vereinigung entschied, war allerdings zu diesem Zeitpunkt noch unvorstellbar. Aber letzten Endes hat die selbstbewusst „durchlaufene“, dann zerhämmerte und schließlich abgerissene Mauer diesen Weg unausweichlich freigemacht.

Der Pfarrer und Mitbegründer der SPD in der DDR, Steffen Reiche, war von 1994 bis 1999 Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur und von 1999 bis 2004 Minister für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg. Von 2005 bis 2009 gehörte der ehemalige Volkskammerabgeordnetedem Deutschen Bundestag an.

Der Pfarrer und Mitbegründer der SPD in der DDR, Steffen Reiche, war von 1994 bis 1999 Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur und von 1999 bis 2004 Minister für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg. Von 2005 bis 2009 gehörte der ehemalige Volkskammerabgeordnetedem Deutschen Bundestag an. (© picture-alliance, ZB)

In dieser Reihe bereits erschienen:

- Sabine Bergmann-Pohl, Interner Link: "Ein emotional aufgeladenes Parlament"

- Rüdiger Fikentscher, Interner Link: "Die 10. Volkskammer als Schule der Demokratie"

- Gregor Gysi - Externer Link: Ein urdemokratischer Impuls, der buis ins Heute reicht

- Hinrich Kuessner Interner Link: „Corona führt uns die Schwächen unserer Gesellschaft vor Augen“

- Klaus Steinitz, Interner Link: "Eine äußerst widersprüchliche Vereinigungsbilanz"

- Richard Schröder -Interner Link: "Deutschland einig Vaterland"

- Maria Michalk, Interner Link: "Von PDS-Mogelpackungen und Europa?"

- Markus Meckel, Interner Link: "Eine Glücksstunde mit Makeln"

- Hans-Peter Häfner, Interner Link: "Brief an meine Enkel"

- Konrad Felber, Interner Link: "Putins Ausweis"

- Walter Fiedler, Interner Link: "Nicht förderungswürdig"

- Hans Modrow, Interner Link: "Die Deutsche Zweiheit"

- Joachim Steinmann, "Interner Link: Antrag auf Staatsferne"

- Christa Luft, Interner Link: "Das Alte des Westens wurde das Neue im Osten"

- Dietmar Keller, "Interner Link: Geht alle Macht vom Volke aus?"

- Rainer Jork, Interner Link: "Leistungskurs ohne Abschlusszeugnis"

- Jörg Brochnow, Interner Link: "Vereinigungsbedingte Inventur"

- Gunter Weißgerber, "Interner Link: Halten wir diese Demokratie offen"

- Hans-Joachim Hacker, Interner Link: "Es gab kein Drehbuch"

- Marianne Birthler - Interner Link: "Das Ringen um Aufarbeitung und Stasiakten"

- Stephan Hilsberg - Interner Link: "Der Schlüssel lag bei uns"

- Ortwin Ringleb - Interner Link: "Mensch sein, Mensch bleiben"

- Martin Gutzeit, Interner Link: "Gorbatschows Rolle und die der SDP"

- Reiner Schneider - Interner Link: "Bundestag - Volkskammer 2:2"

- Jürgen Leskien - Interner Link: "Wir und der Süden Afrikas"

- Volker Schemmel - Interner Link: "Es waren eigenständige Lösungen"

- Stefan Körber - "Interner Link: Ausstiege, Aufstiege, Abstiege, Umstiege"

- Jens Reich - Interner Link: Revolution ohne souveränes historisches Subjekt

- Carmen Niebergall - Interner Link: "Mühsame Gleichstellungspolitik - Eine persönliche Bilanz"

- Susanne Kschenka - Interner Link: "Blick zurück nach vorn"

- Wolfgang Thierse - Interner Link: "30 Jahre später - Trotz alldem im Zeitplan"

- Rainer Eppelmann, Die Rolle des „Staates“ in der Wahrnehmung der Ostdeutschen

- u.a.m.

Mehr zum Thema:

- Die Interner Link: Wahlkampfspots der Volkskammerwahl

- Die Interner Link: Ergebnisse der letzten Volkskammerwahl

- Film-Dokumentation Interner Link: "Die letzte Regierung der DDR"

- Analyse von Bettina Tüffers: Interner Link: Die Volkskammer als Schule der repräsentativen Demokratie

, Deutschland Archiv 25.9.2020

- Die Interner Link: Geschichte der Ostpolitik

Fussnoten