Das Interview mit Jessica Jacoby führte Sharon Adler für das Deutschland Archiv.
Biographischer Background und schwieriges Erbe. Kindheit und Jugend in Deutschland
Jessica Jacobys Großeltern väterlicherseits waren Arthur und Ella Jacoby (geborene Rosenthal), die 1941 ins Vernichtungslager Maly Trostinez bei Minsk deportiert und dort ermordet wurden. Am 28. August 2014 wurden zwei Stolpersteine in der Venloer Straße 11a in Düsseldorf verlegt. Dies war ihr letzter freiwillig gewählter Wohnort
Ihr Vater Klaus (Claude) kehrte Anfang der 1950er Jahre aus dem Exil in den USA, wohin er 1938 geflüchtet war, zurück nach Deutschland. Hier arbeitete er weiterhin als Journalist und Fotograf. Jessica Jacobys Mutter ist Susanne Körber, die Tochter von Veit Harlan, der mit dem NS-Propagandafilm "Jud Süß" zur Vertreibung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden Europas aufrief. Deren Mutter war die Schauspielerin Hilde Körber, die von 1951 bis zu ihrem Tod 1969 die Max-Reinhardt-Schule für Schauspiel in Berlin leitete. Jessica Jacoby hat sich mit den Kontinuitäten der NS-Ideologie in Nachkriegsfilmen u.a. in Vorträgen auseinandergesetzt.
Sharon Adler: Deine jüdischen Großeltern wurden von den Nazis entrechtet und ermordet, während dein nichtjüdischer Großvater mit den Nazis paktierte und durch sie profitierte. Wie hat das deine Kindheit geprägt?
Jessica Jacoby: Die Beschäftigung mit meinem nichtjüdischen Großvater Veit Harlan habe ich als Erwachsene über seine Filme gemacht. Darüber gibt es viel Material und es wurde öffentlich und kontrovers darüber diskutiert. Das ist der große Kontrast in meiner Familie, der prominente Teil auf der einen Seite, und auf der anderen Seite meine jüdischen Großeltern, von denen es nur zwei Fotos an der Wand gab. Das, was ich von ihnen wusste, war, dass sie umgebracht worden sind. Mehr wusste ich nicht.
Meine Eltern haben sich in Berlin kennengelernt, als mein Vater - damals Zivilangestellter des "Information Bulletin for the American Forces in Germany" ein Interview und eine Fotosession mit meiner Großmutter gemacht hat. Sie hat in der NS-Zeit zwar keinen offenen Widerstand geleistet, aber versucht, "Reichsfluchtsteuer" für jüdische Kollegen zu sammeln. Er kam nur nach Deutschland zurück, um herauszufinden, was mit seinen Eltern geschehen war.
Sharon Adler: Wusste deine Mutter davon, habt ihr euch als Tochter und Mutter dazu ausgetauscht?
Jessica Jacoby: Ja. Aber meine Mutter hat sich nicht ernsthaft mit den Filmen ihres Vaters auseinandergesetzt, hat auch „Jud Süß“ nicht gesehen. Sie wollte sich distanzieren, wurde aber immer mit dieser Geschichte verbunden. Im Gegensatz zu ihr hat ihre Schwester bis zuletzt immer sein Wirken für Goebbels verteidigt. Als Kind habe ich das als Minenfeld erlebt.
Sharon Adler: Im Film "Harlan – Im Schatten von Jud Süss"
Jessica Jacoby: Gute Frage. Ich habe das nicht als eine in Täter und Opfer gespaltene Familie erlebt, denn eine gemeinsame Familie gab es in der NS-Zeit und danach ja nicht. Das waren zwei verschiedene Welten. Für mich spielte nur meine Großmutter eine Rolle. Ich habe sie sehr geliebt und umgekehrt auch. Meine Mutter und Oma habe ich den Deutschen nie zugerechnet.
Kindheit und Jugend in West-Berlin
Sharon Adler: Welche Erinnerung hast du an die Zeit als Schülerin der John F. Kennedy Schule (JFKS)
Jessica Jacoby: Die JFKS hatte viele ambivalente Seiten, aber, und das war für mich ganz wichtig, ich habe da das erste Mal etwas Positives, Aufbauendes über das Judentum und auch etwas Hebräisch gelernt und hatte jüdischen Religionsunterricht. Es gab in meiner Klasse drei jüdische Mädchen, die meine Freundinnen wurden. Und Mitschüler und Mitschülerinnen aus unterschiedlichen Ländern. Da hatte ich das erste Mal ein Zugehörigkeitsgefühl. Meine Lehrerin war Ora Guttmann
Sharon Adler: War Ora Guttmann ein weibliches jüdisches Role Model für dich?
Jessica Jacoby: Ora hat für mich Stärke verkörpert, Selbstbewusstsein, Charme und Humor. Sie hatte so eine Strahlkraft. Das Thema der weiblichen Stärke stand auch bei uns zuhause im Vordergrund.
Sharon Adler: Du warst eine junge Frau, als eine Reihe von Anschlägen auf jüdische und auf israelische Menschen und Einrichtungen der Jüdischen Gemeinden verübt wurde. Wie hast du diese Zeit erlebt?
Jessica Jacoby: Das hat mich schockiert. Ich hatte einen nichtjüdischen Freund, und dass er nicht schockiert war, hat mich sehr getroffen. Bis heute noch präsent für mich ist der Brandanschlag 1982
Sharon Adler: Warst du im jüdischen Jugendzentrum aktiv?
Jessica Jacoby: Ja, ich war im Jugendzentrum und in der Zionistischen Jugend, der ZjD
Der lesbisch-feministische Schabbeskreis
Sharon Adler: 1984 hast du mit anderen Frauen den "Schabbeskreis“ gegründet. Wie und wodurch genau kam es dazu?
Jessica Jacoby: Als ich an der FU im Lesbenreferat war, habe ich die Frauen-Sommer-Uni mitorganisiert und fand, dass Jüdinnen und Jüdisches fehlten. Insgesamt gab es wenig Interesse, jüdische Frauen sichtbar zu machen. Nur eine einzige Veranstaltung, über Charlotte Wolff
Sharon Adler: Wer gehörte zum inneren Kern der Gruppe?
Jessica Jacoby: Das waren die jüdischen Frauen Cathy Gelbin, Maria Bader, Wendy Henry und ich. Ein nichtjüdisches Gründungsmitglied war Gotlinde Magiriba Lwanga, später kamen noch Kate Sturge, Mary Petters, und Gülşen Aktaş dazu. Zum erweiterten Schabbeskreis zählten eine Frau mit amerikanisch-französischem Hintergrund, die sich nach ihrem Großvater Jacob nannte, sowie die Schweizerin Rivka Jaussi, die nun schon seit längerem in Israel lebt. Rivka war als einzige von uns orthodox orientiert. Durch unsere englischen Mitglieder war Karen Adler, deren Eltern aus NS-Deutschland geflohen waren, eine Zeitlang bei uns.
Sharon Adler: Was waren eure Themen im Schabbeskreis?
Jessica Jacoby: Frauen und Judentum kann vieles beinhalten, beispielsweise die Veränderung der sozialen Rolle von Frauen in Deutschland. Wir haben aber auch Texte von amerikanischen Jüdinnen gelesen. Darunter von Susannah Heschel
Zum anderen ging es auch um die Auseinandersetzung innerhalb der Frauenbewegung oder um Theologie, beziehungsweise um antisemitische Klischees. Den Namen "Lesbisch-feministischer Schabbeskreis"
Sharon Adler: 1985 wart ihr mit dem Schabbeskreis auf der 1. Berliner Lesbenwoche vertreten. Wie wurdet ihr wahrgenommen?
Jessica Jacoby: Obwohl nicht alle der Frauen jüdisch waren, wurden wir als Gruppe von Jüdinnen wahrgenommen. Die Meinung war, dass sie sonst nicht so offensiv in ihrem Engagement für eine größere Sichtbarkeit von Jüdinnen auftreten würden. Unterstellt wurde uns auch, dass wir religiös wären, obwohl keine von uns fromm war. Daraus hat sich später eine merkwürdige Art von Identity Politics entwickelt, wo es weniger um Individuen ging, sondern um eine bestimmte Art von Klischee.
Sharon Adler: Wart ihr darauf vorbereitet, hattet ihr das erwartet?
Jessica Jacoby: Teils, teils. Ich habe innerhalb der Frauenbewegung und als Kind und Jugendliche schon sehr früh Ausgrenzung erlebt. Von daher hat mich das nicht besonders überrascht. Aber für die nichtjüdischen Schabbeskreis-Frauen war das eher schockierend.
Sharon Adler: 1986, auf der 2. Berliner Lesbenwoche, habt ihr das Thema "Juden als feministisches Feindbild" auf die Agenda gesetzt. Wie wurde darauf reagiert?
Jessica Jacoby: Um das Klischee sichtbar zu machen, dass wir Frauen als Männer wahrgenommen wurden, haben wir uns Bärte angeklebt. Dabei ging es uns um die Projektion von Männlichkeit auf jüdische Frauen. Das war für die meisten sehr schockierend und löste Irritationen aus.
Die Anthologie "Nach der Shoa geboren – Jüdische Frauen in Deutschland". Herausgegeben von Jessica Jacoby, Claudia Schoppmann und Wendy Henry
Das Buch "Nach der Shoa geboren - Jüdische Frauen in Deutschland. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2020)
Das Buch "Nach der Shoa geboren - Jüdische Frauen in Deutschland. (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2020)
Sharon Adler: Wodurch entstand der Gedanke, dieses Buch
Jessica Jacoby: Erwachsen und entstanden ist die Idee aus unserer Schabbeskreis-Arbeit, wo wir uns mit jüdischen Frauenbiografien beschäftigt haben. Außerdem wollten wir die Brüche in den Biografien der Zweiten Generation in den Mittelpunkt stellen. Claudia hatte sehr viel publizistische Erfahrung und hat aus einem Riesen-Konvolut an ganz unterschiedlichen Texten ein Buch gemacht. Das ist ihr Verdienst! Was mich damals inspirierte, war das Buch "Nice Jewish Girls. A Lesbian Anthology“
Sharon Adler: Was war euch als Herausgeberinnen und den Autorinnen besonders wichtig? Welche Themen sollten sichtbar werden?
Jessica Jacoby: Wir wollten die weibliche Seite vom Judentum sichtbar machen. Wir wollten ganz klar ein Zeichen dagegensetzen, dass Judentum immer nur mit bärtigen Männern assoziiert wird. Im Buch sind Frauen aus den verschiedensten Kontexten. So entstand die Idee, etwas über unsere Generation zu machen und auch darüber, wo sich die Wege ihrer weiblichen Mitglieder überkreuzen. Über Frauen, die nach Berlin gekommen sind, und über Frauen, die aus Deutschland weggegangen, aber in Berlin aufgewachsen sind. Diese Art von Bewegung hat mich sehr interessiert: Was treibt Frauen weg, und was zieht Frauen an in dieser Stadt? Wie haben ihre jeweiligen biografischen Hintergründe das mitgeprägt, wie erleben sie das Hiersein, oder wie kontrastieren sie mit dem Ort, wo sie hingegangen sind.
Sharon Adler: Im Buch beschreiben viele Autorinnen die Schwierigkeiten, sich auf das Leben "im Land der Täter" einzulassen. Gleichzeitig haben sie sich hier für Frauenrechte eingesetzt. Für dich ein Widerspruch?
Jessica Jacoby: Jein. Das transitäre Gefühl, auf gepackten Koffern zu sitzen, hat uns sehr lange begleitet. Ich denke mir, dass sich das teilweise verändert hat, aber teilweise war das auch ein Bürgerrecht auf Widerruf. Speziell in den letzten Jahren, wo wir ein verstärktes Auftreten von gewalttätigem Antisemitismus sehen, wird es reaktiviert. Nicht nur in Deutschland. In Frankreich, der größten kontinentalen jüdischen Gemeinschaft in Europa, ist es noch stärker, da wandern viele aus.
Sharon Adler: Thema vieler Beiträge im Buch ist die "Wiedervereinigung", womit Ängste vor dem Entstehen eines "Großdeutschen Reiches" verbunden wurden. Wie hast du das erlebt?
Jessica Jacoby: Mich hat das nicht gewundert. Ich hatte ein ähnlich mulmiges Gefühl. Bei mir war kein Funken Euphorie, sondern eine große Skepsis, eine Frage im Raum.
Jüdische Frauen und Lesben und ihre Auseinandersetzung innerhalb der Neuen Frauenbewegung, oder: der Widerstand gegen antisemitische Klischees
Sharon Adler: Wovon war dein jüdisch-feministisches Engagement geprägt?
Jessica Jacoby: Zum einen war das, was ich von Jüdischer Frauenbewegung aufnahm sehr von den USA geprägt. In Deutschland gab es nur einzelne jüdische Frauen, die sich als Feministinnen verstanden und sich in der nichtjüdischen Frauenbewegung engagiert haben. Zum anderen kommt mein feministisches Bewusstsein von meiner Mutter und meiner Oma. Die Verbindung meines Jüdisch-Seins und meinem Engagement für jüdische Themen mit dem Feminismus ist erst während meines Studiums entstanden. Das hing damit zusammen, dass ich anfangs die "Courage“
Sharon Adler: War das das erste Mal, dass du erlebt hast, dass sich eine nichtjüdische Frau für jüdische Themen interessiert hat?
Jessica Jacoby: Ja, ganz klar. Bei meinen vorherigen Beziehungen war das kein Thema. Da ging es immer nur um das Patriarchat und ob ich mich durch Männer unterdrückt fühle – was ich nicht bestätigen konnte. Denn in meiner Familie waren die Frauen die Starken. Meine Vorbilder waren Rosa Luxemburg, meine Tante Inge oder Ora Guttmann. Aber auch Marianne Awerbuch, die ich während meines Studiums bei der Judaistik kennengelernt hatte. Frauen, die mich durch ihre Stärke beeindruckt haben. Ich habe mich während des Studiums mit den verschiedenen Strömungen innerhalb der Frauenbewegung auseinandergesetzt. Was am Anfang meines Studiums eine Rolle spielte, war mein Coming-Out, das ich aber nicht in einen feministischen Kontext gestellt habe. Für mich waren Frauen- und Lesbenbewegung eins. Ich hatte deswegen von Anfang an heftige Auseinandersetzungen – gerade in der Lesbenszene.
Sharon Adler: Warum gab es kaum Berührungspunkte zwischen der nichtjüdischen und der jüdischen Frauen- und Lesbenszene?
Jessica Jacoby: Ich denke, weil es ein Bestreben nach Homogenisierung gab, in einer Bewegung, die eigentlich ziemlich zersplittert war. Diese ursprüngliche Einigkeit hat sich nicht sehr lange halten können, denn es gab die Polit-Frauen, die Spiri-Frauen, die Matriarchats-Anhängerinnen und noch mehr. Wir passten in keine dieser Richtungen hinein. Und mit Antisemitismus und Rassismus hätten sie als Frauen nichts zu tun, hieß es, aber wir kamen nun und erzählten denen, dass dem nicht so sei. Ich glaube, das war der Grund der Ablehnung. Wir haben ein bestimmtes Normenverständnis, was sich dort durchgesetzt hatte, gestört.
Sharon Adler: Wurdet ihr als Provokation empfunden?
Jessica Jacoby: Wir wollten uns einbringen, auch mit unserem jüdischen Hintergrund und unserem jüdischen Bewusstsein, aber die Ablehnung in der damaligen Zeit war durch die Mainstream-Frauenbewegung recht stark ausgeprägt. Jüdische Frauen wurden ausschließlich über ihre Religionszugehörigkeit definiert. Deswegen hatten wir auch so viel "Erfolg" bei Theologinnen. Die wollten immer ganz viel von uns wissen und haben uns von vornherein in die religiöse Ecke gesteckt. Das schwankte zwischen Ablehnung und Anbiederung. Nach dem Motto, dass Jesus schließlich auch Jude gewesen sei und die Ehebrecherinnen verteidigt habe. Das war immer vor dem Hintergrund des patriarchalen Judentums. Das sind uralte Denkformen. Ich behaupte mal, dass sich das in der Zwischenzeit ein bisschen verändert hat. Zumindest weist unser Auftritt
Sharon Adler: Gab es in den 1980er Jahren eher einen Austausch zwischen der jüdischen Frauenbewegung in Deutschland und der jüdischen Frauenbewegung in den USA?
Jessica Jacoby: Der Einfluss ging erstmal nur in eine Richtung. Wegen der kritischen Masse konnte sich in den USA viel früher eine Frauenbewegung bilden. Es fanden sich etliche amerikanische jüdische Frauen im Schabbeskreis, darunter die US-Amerikanerin Suzie Heschel, eine sehr exponierte feministische jüdische Theologin. Es kamen auch jüdische Frauen aus England nach Berlin. Teilweise, weil sie deutsch-jüdische Eltern oder Elternteile hatten. Das war auch Teil des Schabbeskreis-Geschehens, dass jüdische Frauen hierherkamen und in uns eine Anlaufstelle fanden. Meist aber nicht dauerhaft in Deutschland geblieben sind. Auch Daniela Thau
Die AG Frauen gegen Antisemitismus
Sharon: Nach dem Ende des Schabbeskreises formierte sich 1989 die Gruppe 'Frauen gegen Antisemitismus'
Jessica Jacoby: Es waren mehrheitlich nichtjüdische Frauen, die da zusammenkamen. Die Initiatorin war Birgit Rommelspacher. Die jüdischen Frauen waren: Rivka Jaussi, Marguerite Marcus, Lara Dämmig und anfangs ich. Aber ich war nicht sehr lange dabei, weil ich dem Schabbeskreis nachgetrauert habe, da es dort eine sehr viel engere und persönlichere Bindung gab, die sich in keinster Weise wiederholen ließ. Das Thema in der Gruppe "Frauen gegen Antisemitismus" war ausschließlich Antisemitismus, was es beim Schabbeskreis nur teilweise war. Dadurch war für mich ein breites Themenspektrum weggefallen. Außerdem war es mir zu verschult und zu universitär. Wir haben zwar auch Texte gelesen, aber in der Gruppe kam es mir wie ein Uni-Seminar vor.
Sharon Adler: Was war der Unterschied zur Stiftung Zurückgeben, die 1994 gegründet wurde und in der du dich auch engagiert hast?
Jessica Jacoby: Das war sehr anders. Die Brücke zur Stiftung Zurückgeben
Auseinandersetzung mit den Frauen als Täterinnen – ein Tabubruch
Sharon Adler: 1993 erschienen Beiträge, die sich mit der Mittäterinnenschaft von Frauen in der NS-Zeit beschäftigten. Dörthe Jung schreibt in ihrem Artikel "Abschied zu neuen Ufern – Frauenpolitik in der Krise": "Auch die alte Frauenbewegung hat sich gegenüber der Entwicklung zum Nationalsozialismus schweigend verhalten."
Jessica Jacoby: Das war damals ein gewisser Tabubruch. Auch ich bin damals wahnsinnig angeeckt, als es um die alte Frauenbewegung ging. Insofern, dass Gertrud Bäumer und die konservativen Teile der deutschen Frauenbewegung ihre jüdischen Mitglieder und den Jüdischen Frauenbund ausgeschlossen haben. Das war etwas, was wir als Schabbeskreis thematisiert haben und was zu einem Aufruhr geführt hat. Insofern, als eine gängige Lesart Frauen qua Geschlecht die moralische Oberhoheit zuschrieb und den Nationalsozialismus als die Spitze des Patriarchats darstellte, was für ein großes Identifikationsbedürfnis mit der Mütter- und der Großmüttergeneration sprach. Wir als Schabbeskreis haben uns dagegen gewandt und ausgesprochen, dass die deutschen Frauen mitnichten nur Opfer waren, sondern dass sie auf verschiedensten Ebenen mitgemacht haben. Später gab es eine Studie über die weibliche SS-Gefolgschaft in Konzentrationslagern und von Christina Thürmer-Rohr die "Mittäter-These"
Mit dem Schabbeskreis oder der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland
Die Dokumentarfilm-Trilogie "Roads" und "Roads to reconnection". Jessica Jacoby, Filmjournalistin und Dokumentarfilmautorin
Sharon Adler: Um das Schicksal deiner Großeltern vor dem Vergessen zu bewahren, hast du deren Briefe sowie Tagebuchaufzeichnungen deines Vaters mit Interviews von überlebenden Familienangehörigen verknüpft. Wann begann deine filmische Recherche-Reise und wohin hat sie dich geführt?
Jessica Jacoby mit ihrem privaten Fotoalbum, Berlin 2020. (© Sharon Adler/PIXELMEER 2020)
Jessica Jacoby mit ihrem privaten Fotoalbum, Berlin 2020. (© Sharon Adler/PIXELMEER 2020)
Jessica Jacoby: Seit den ersten freien Wahlen in Südafrika 1994 war ich häufig dort bei meiner Tante Inge. Sie war neben Ora Guttmann ein Vorbild für mich. Eine sehr starke, unerschrockene und unkonventionelle Frau, zu der ich eine ganz enge Bindung hatte. Inge hatte ein Damenkränzchen, bestehend aus überwiegend älteren deutschen Jüdinnen, die sich regelmäßig getroffen, Karten gespielt und gequatscht haben. Ihre Freundschaft stammte aus der Zeit von 1939, als sie auf dem letzten Schiff nach Mosambik auf ihre Visa nach Südafrika gewartet haben. Das waren für mich sehr starke deutsche Jüdinnen, die sich alle durchgeboxt hatten. Englisch haben sie mit einem starken deutschen Akzent gesprochen. Inges Standardsatz war: "This is my niece. She speaks better English than us."
In dieser Zeit habe ich die Idee entwickelt, einen Film über dieses Damenkränzchen zu machen. Das ließ sich so nicht realisieren und hat sich etwas verschoben, so dass ich dann nicht nur etwas über meine Tante und ihre Geschichte, sondern auch über die meines Vaters machen wollte. Ich fing an zu recherchieren, was Inge mit ihren eigenen Erinnerungen unterstützte. Ich wollte auch diesen Recherche-Prozess filmen und damit nicht mehr allzu lange warten, da Inge damals schon 90 Jahre alt war. Dann habe ich privat Geld gesammelt und von der Stiftung Zurückgeben 1.000 Euro bekommen. Das Gros ist durch Spenden von Freundinnen zusammengekommen.
Durch den Südafrika-Kontext habe ich weitere Verwandte gefunden und in den USA, in Portugal und in den Niederlanden mit der Kamerafrau Petra Sattler gedreht. Was mich sehr gefreut hat, war eine Einladung zu Limmud Australia
Würdiges Gedenken
Sharon Adler: Heute sind nur noch wenige Zeitzeug_innen am Leben und können berichten. Wie kann die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten wachgehalten werden?
Jessica Jacoby: Die Erinnerungen an die Verbrechen der Nationalsozialisten wachzuhalten, entspricht meinem Selbstverständnis. In dem Kontext habe ich mich gefreut, dass die Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf eine Kurzfassung meines Films "Roads", auf Düsseldorf bezogen, finanziert hat. Sie waren bereits sehr hilfreich bei der Recherche gewesen, als ich Stolpersteine für meine Großeltern an ihrer letzten freiwillig bezogenen Wohnung hatte verlegen lassen. Das war ein Geschenk, weil ich nun noch tiefer recherchieren konnte.