Olympia wieder in Berlin?
"The games at the gate" - Wie der Mauerfall 1989 Berlins Traum von Gesamtberliner Olympischen Spielen platzen ließ.
Ulrich Eggestein
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In Berlin wird wieder für Olympische Spiele geworben - 2036 oder 2040. Ein historisch sensibles Feld, da die Nazis 100 Jahre zuvor im Jahr 1936 Olympia politisch missbrauchten. Im Blick zurück beschreibt ein ehemaliger Berliner Senatsbediensteter, wie 1987 schon einmal ein neuer Olympiaplan an der Spree reifte, damals mit deutsch-deutschem Kalkül. Doch dann kam der Mauerfall und vieles anders.
Seit dem 24. November 2023 ist es offiziell. Der Berliner Landessportbund hat ein Konzept in den Ring geworfen, damit sich Berlin für die Olympischen Spiele 2036 bewerben kann, ersatzweise vier Jahre später 2040. Nachhaltigkeit, Kieznähe und Werteorientierung werden im ersten Aufschlag betont – und ein historischer Bogen geschlagen:
"Die Spiele 2036 sind die nächsten, über die das IOC entscheidet. Wo auch immer sie stattfinden werden, alle werden auf Berlin schauen und auch wir selbst – 100 Jahre, nachdem die Nationalsozialisten die Spiele für ihre menschenverachtende Ideologie missbraucht haben. Als Austragungsort könnten wir selbst noch deutlicher die Spiele für eine sensible Vermittlung der Geschichte nutzen, etwa für Schüler*innen, für eine Erinnerungskultur und internationale Verständigung.....".
Die Spiele könnten, so heißt es weiter, "in eine von zunehmenden Spannungen geprägten Gesellschaft ein starkes verbindendes Element einbringen – mit der universellen Sprache Sport".
Quelle ist eine kompakte "Externer Link: Erklärung des Berliner Sports" vom 24. November 2023, die Rückendeckung von nahezu allen Berliner Sportverbänden hat, und auch die des Berliner Senats, der schon vorgreifend am 14.11.2023 im Rahmen eines „Memorandum of Understanding“ eine entsprechende Absichtserklärung verkündete.
Olympische Spiele nach 1936 noch einmal nach Berlin zu holen, die Idee ist nicht neu. Der Anfang 2021 verstorbene Berliner Journalist Ulrich Eggestein, der lange Jahre unter mehreren Berliner Regierenden Bürgermeistern im Senatspresseamt als Redenschreiber tätig war, hat kurz vor seinem Tod im Alter von 82 Jahren die Geschichte der Berliner Olympiabewerbungen noch einmal für das Deutschland Archiv aufgerollt. Hier sein Text:
Wer historisch gesehen zunächst den Finger hob und Olympische Spiele im gespaltenen Berlin ins Gespräch brachte, war am 12. Juni 1987 US-Präsident Ronald Reagan, der bei einem Staatsbesuch Station in West-Berlin machte und am Ende seiner öffentlichen Rede auf der Westseite des Brandenburger Tors einfließen ließ: „What better way to demonstrate to the world the openness of this city than to offer in some future year to hold the Olympic games here in Berlin, East and West?”. Für größere Schlagzeilen sorgte Reagans Äußerung damals nicht, glich sie doch eher einer zu utopisch anmutenden Vision.
Doch hinter den Kulissen der großen Politik spann eine Reihe sportbegeisterter Berliner_innen Reagans Gedanken weiter, und auch Willi Daume (von 1961 bis 1992 Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, NOK) machte sich fortan wieder für diesen Gedanken stark, den er 1963 schon einmal dem damaligen Regierenden Bürgermeister West-Berlins, Willy Brandt, nahegebracht hatte. Brandt schrieb damals einen Bewerbungsbrief Berlins für die Spiele im Jahr 1968 an das Internationale Olympische Komitee (IOC), in der Hoffnung, „dass die Ost-Berliner Behörden – nach entsprechenden Verhandlungen der beiden deutschen Nationalen Olympischen Komitees – ihre Bereitschaft zum Ausdruck bringen werden…“. Mit Ost-Berlin abgestimmt war der Vorstoß jedoch nicht und wurde im Politbüro als politische Provokation empfunden, um „die Mauer infrage zu stellen“.
Konzeption in kleiner Runde seit 1988
Nach meiner Kenntnis tauchte die Idee 1988 in einem kleineren CDU-Kreis in Spandau wieder auf, rund um den früheren Berliner Parlamentspräsidenten und Sportschützen Peter Rebsch. Berlins Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) griff im Januar 1989 den Gesprächsfaden auf und lud eine kleine Gruppe wichtiger West-Berliner Sportfunktionäre zum abendlichen Gespräch ins Senatsgästehaus im Grunewald ein. Als Sportfachmann wurde ich aus der Pressestelle des Senats zu diesem Gedankenaustausch hinzugezogen. Debattiert wurde, olympische „Friedensspiele“ anzustreben, gemeinsam und gleichberechtigt in West- und Ost-Berlin. Spiele im Westteil allein wurden sofort ausgeschlossen. West-Berlin wäre viel zu klein gewesen, um ein Sportevent in diesem Ausmaß zu stemmen. Auch hätte eine solche Wahl sofort einen Boykott des gesamten Ostblocks ausgelöst, waren sich die damaligen Teilnehmenden sicher. Auch wäre eine solche Überlegung ohne jeglichen internationalen Reiz gewesen.
Mauerübergreifende Spiele in Berlins Osten und Westen hingegen, und das im damals ausgehenden Zeitalter des Kalten Kriegs, das hatte aus Sicht der Gruppe „Wucht“, aber es erschien zugleich als eine Träumerei. Wir sagten uns dennoch: Warum eigentlich nicht? Vorsichtig und abwägend trat Eberhard Diepgen mit diesem Plan jedoch noch nicht an die Öffentlichkeit. Wir hatten viel Zeit, denn eine Bewerbung für das Jahr 2000 musste erst 1993 abgegeben werden, eine für das Jahr 2004 sogar erst 1997 – wir schrieben das Jahr 1989.
Für das Jahr 2004 sprach die Einschätzung, dass es weltweit einen Konsens gab, die hundertjährigen Olympischen Spiele der Neuzeit im Jahr 1996 an ihrem Geburtsort in Griechenland zu feiern. Wo anders denn sonst? Also kam das Jahr 2000 für europäische Bewerber nicht infrage. Denn Olympia auf einem Kontinent zweimal hintereinander auszutragen, sahen die olympischen Traditionen nicht vor, und für die Jahrtausendspiele war ohnehin Peking schon aussichtsreich im Gespräch.
Vermutete Sehnsucht des IOC nach dem Friedensnobelpreis
Mir war schon beim ersten Treffen mit Eberhard Diepgen und Berliner Sportfunktionären die Aufgabe zugefallen, eine inhaltliche Strategie für „unsere“ Spiele zu entwickeln. Ein Grundkalkül, das die Beteiligten optimistisch stimmte, war, dass das IOC in Lausanne auf den Friedensnobelpreis hoffte und sich – vermeintlich ungerechtfertigt – immer wieder übergangen sah. Berlin sollte dem IOC-Wunsch nun eine Steilvorlage bieten und eine politische Trumpfkarte spielen: Wenn es dem IOC gelingen würde, die Spiele an einem der historisch markantesten Orte des Kalten Krieges, also in Berlin, gemeinsam in Ost und West, auszutragen, wäre das mehr als nur nobelpreisverdächtig.
Dass das IOC in der Schweiz unter der damaligen Präsidentschaft des Spaniers Antonio Samaranch diesen Plan durchschauen und den Ball aufnehmen und weiterspielen würde, davon gingen wir aus, ohne dieses Kalkül nach außen zu tragen. Wir hofften, durch die Idee mauerüberwindender Spiele im Kreis der Mitbewerberstädte ein zündendes Alleinstellungsmerkmal zu haben und malten uns aus, wie sich Samaranch auf Englisch vor den Delegationen der so verschiedenen Stadthälften, der Bundesregierung in Bonn und dem DDR-Politbüro aus Ost-Berlin aus der Zwickmühle der Wortwahl retten könnte, indem er neutral verkündet: „The Winner is Germany“. Das wäre aus unserer Sicht ein innenpolitischer Volltreffer gewesen.
Konzept eines “lebendigen Hinüber und Herüber“
Wir hielten es auch nicht für utopisch, über Vermittler DDR-Staatschef Erich Honecker für einen solchen Schritt zu gewinnen, zumal durch die Reformpolitik Michail Gorbatschows in der Sowjetunion auch aus Moskau Rückendeckung für solch eine Überlegung denkbar war. Spiele im gespaltenen Berlin, das war unsere Philosophie, hätten ein lebendiges Hinüber und Herüber zwischen Ost und West ausgelöst:
Engste Verwaltungszusammenarbeit auf vielen Gebieten, wie zum Beispiel eine gemeinsame Verkehrslenkung durch ganz Berlin oder eine gemeinsame weltweite Telekommunikation, wären täglich notwendig gewesen. Neue Sportstätten in Ost und West wären entstanden, viele Turnhallen in Ost und West wären als Trainingshallen für die späteren Olympioniken renoviert worden, und für den Radsport wären Routen sogar ins Umland möglich gewesen. Die zu Olympia strömenden Touristen und Touristinnen sowie Presseschwärme sollten unter erleichterten Bedingungen über die Grenze gelotst und auf beiden Seiten der Mauer beherbergt werden.
Auch an ein völlig neues Olympisches-Dorf wurde gedacht. Verkehrstüchtig, sicherheitsgeschützt und doch offen nach Ost und West hätte es aus dem Boden gestampft werden müssen. Vielleicht sogar mitten im Ostteil der Stadt: Verwiesen wurde beispielsweise auf die Stralauer Halbinsel nahe dem Ost-Bahnhof, dem damaligen Hauptbahnhof von Ost-Berlin. Auf der anderen Mauerseite wäre das damals altersschwach gewordene Olympia-Stadion nicht erst zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 modernisiert und auf Vordermann gebracht worden. Die telegenen olympischen Visitenkarten der Gastgeberländer, die meist regional inspirierten Eröffnungs- und Schlussfeiern, hätten gerecht verteilt in Ost und West stattgefunden. Das waren einige der Grundideen aus diesen ersten Brainstormings, an die ich mich erinnere.
Nicht nur die Menschen in Ost- und West-Berlin hätten große Teile der Olympischen Spiele hautnah miterleben können, auch die DDR-Bevölkerung in Warnemünde (Segelwettbewerbe) und in der Mark Brandenburg (Ruder- und Kanu-Regattastrecke auf einem der vielen Seen) sollte mit einbezogen werden, um die DDR-Regierung leichter für das Projekt zu gewinnen.
Regierungswechsel, aber kein Utopiewechsel
Diese Planspiele hören sich auch heute noch an wie ein verrückter Traum. Berlin wäre in den Tagen der Spiele und der anschließenden Zeit der automatisch folgenden Paralympics eine mehr oder weniger offene Stadt, ja wiedervereinigte Stadt gewesen. So jedenfalls der Gedanke Eberhard Diepgens, der im September 1989 eine erste Machbarkeitsstudie in Auftrag gab.
Aber: Die Großwetterlage zwischen den beiden Teilen Deutschlands hätte bis zu diesem Zeitpunkt heiter bis sonnig sein müssen. Doch in Ost-Berlin verhärtete sich seinerzeit der Kurs des zeitweise erkrankten Erich Honecker, selbst Michail Gorbatschow blitzte schroff mit Reformgedanken bei der DDR-Führung ab, und auch der Innerberliner Dialog, der 1987 zur 750-Jahr-Feier Berlins mühsam in Gang gekommen war, schien wieder zu verebben.
Aber auch auf West-Berliner Seite änderte sich die politische Lage abrupt.
Am 29. Januar 1989 brachte die Wahl zum Abgeordnetenhaus im eigenständigen West-Berlin ein überraschendes Ergebnis. Die CDU Eberhard Diepgens verlor über acht Prozent der Stimmen, die SPD unter Walter Momper gewann dagegen deutlich hinzu und konnte mit der Alternativen Liste eine rot-grüne Koalition bilden. Erstaunlicherweise war der Olympiatraum damit aber nicht vom Tisch. Diepgens Nachfolger Momper spielte die olympische Karte sogar öffentlich, zunächst in einer Rede vor Sportfunktionären, die ich für ihn formulierte. Senatssprecher Werner Kolhoff musste den Text absegnen. Er fragte mich nur: „Verstößt das auch nicht gegen den Koalitionsvertrag mit den Grünen?“ Das sahen wir nicht. Ich brachte das Manuskript zu Momper, der zu dieser Zeit mit Gesprächen mit den Alliierten über die angespannt gewordene innerdeutsche Entwicklung beschäftigt war. Er blickte kurz auf den Text und fragte: „Worüber rede ich denn heute?“. Ich antwortete: „Sie bewerben sich um die Olympischen Spiele.“ Er nickte nur, ging ans Rednerpult und gewann Berlins Sportfunktionäre im Nu. Nun bekam die Sache Drive.
Der Senatssprecher begriff schnell, welch starke innerdeutsche Wirkung von einer offiziellen Olympia-Bewerbung Berlins im August 1989 ausgehen könnte. Sinngemäß sagte er damals zu mir: „Was für Diepgen die Wiedervereinigung, das ist für uns die gemeinsame Olympia Bewerbung in Ost und West.“
Also machten wir uns zunächst in einem kleinem Arbeitsstab an die Arbeit – wir, das waren eine versierte Bürokraft, ein kundiger Verwaltungsbeamter und ich (intern zu Mompers Olympia-Beauftragtem ernannt). Weitere Grundsatzreden mussten formuliert und ein zustimmungsfähiger Senatsbeschluss musste erarbeitet werden.
Für den rot-grünen Senat war es offensichtlich wichtig, sich auch auf dem innerdeutschen Feld zu profilieren, ein Terrain mit Nachholbedarf, zumal Walter Momper (selbst nach dem 9. November 1989) lange Zeit nicht an die Möglichkeit einer Wiedervereinigung glaubte. Sein Sprecher Kolhoff war es dann auch, der in sehr kontroversen Debatten innerhalb des rot-grünen Senats mit olympischen Totalverweiger_innen auf Seiten der grünen Koalitionspartei die Bewerbung vehement verteidigte, sodass im August 1989 ein Senatsbeschluss zustande kam, nunmehr eine offizielle Olympia-Projektgruppe einzusetzen.
„Gleichzeitig und gleichberechtigt“
Auf einer Pressekonferenz während der Internationalen Funkausstellung begründete Momper am 29. August 1989 diesen Schritt und trug als Ziel vor, „Olympische Sommerspiele gleichzeitig und gleichberechtigt in beiden Teilen Berlins 2004 zu verwirklichen“. Er beschrieb dies als „faires Kooperationsmodell“ zwischen beiden Stadthälften und führte weiter aus:
„Der Senat hofft und arbeitet dafür, daß Berlin 1997, wenn das Olympische Komitee entscheidet, keine Stadt der Konfrontation ist, sondern daß die Stadt von guter Nachbarschaft geprägt sein wird. Der Senat hält eine solche Entwicklung angesichts der Veränderungsprozesse in Europa nicht für ausgeschlossen … Olympische Spiele in beiden Teilen der Stadt wären die Krönung des Prozesses der Friedenssicherung in Mitteleuropa und gleichzeitig der größte Triumph der olympischen Idee in der Neuzeit“.
Ein 40-köpfiges Team sollte ab dem 12. September bis Ende 1989 ein erstes Konzept ausarbeiten, darunter 25 Mitarbeitende aus Senatsverwaltungen und 15 aus Wirtschaft, Sport und Sponsorenkreisen. Die Firma Siemens stellte uns dafür kostenlos Büroräume in Charlottenburg zur Verfügung, auch eine namhafte Unternehmensberatung versprach, unentgeltlich bei der Konzeption zu helfen.
Danach ging es zum NOK-Präsidenten Willi Daume nach München, wo wir mit den vier anderen deutschen Bewerberstädten zusammentrafen. Das waren seinerzeit Hamburg, Frankfurt am Main, Stuttgart und das Ruhrgebiet. Daume setzte auf dieser Sitzung mit sanfter Gewalt – nur Hamburg musste erst noch „bearbeitet“ werden – Berlin als deutsche Kandidatin durch.
Honecker für Leipzig
Eine rasche Zustimmung Ost-Berlins wurde allerdings nicht erwartet. Bei einem Treffen mit Erich Honecker am 6. Juni 1989 in Hohenschönhausen hatte Walter Momper bereits vorgefühlt und eine Abfuhr durch den DDR-Staatsratsvorsitzenden erhalten. Honecker brachte stattdessen verlegen Leipzig ins Spiel.
Wir setzten aber darauf, Honecker oder seine Vertrauten mittelfristig „weichzuklopfen“, denn er musste einsehen, dass die sächsische Hauptstadt, ebenso wie Bologna (Italien) viel zu klein und unbekannt für das große Olympia-Festival, schon bei der Vorwahl ausscheiden würde. Die DDR-Oberen sollten erkennen, dass sie nur mit uns zusammen die Chance hätten, auch einmal in das damals noch verzaubernde Licht der Olympischen Flamme getaucht zu werden. Wir konnten, so dachten wir, geduldig warten, bis der olympische Funke übersprang und auch jenseits der Mauer zündete.
Umdenken nach dem 9. November
Doch dann kam der 9. November 1989. Ost-Berliner und -Berlinerinnen stürmten die Mauer und rissen die Türen nach West-Berlin ganz weit auf. Die Arbeit an der Wiedervereinigung Berlins und Deutschlands begann; auch für uns persönlich eine höchst erfreuliche Tatsache. Aber wir mussten für Olympia plötzlich eine Stadt bewerben, mit der ein Friedensnobelpreis nicht mehr zu gewinnen war. Wir fühlten uns wie der Kaiser ohne Kleider. Wir waren als Olympia-Bewerber auf Normalmaß zurückgestutzt.
Weitermachen oder aufhören? Das war nun die Frage. Gleich zwei Projekte wie die Wiedervereinigung und die Olympischen Spiele auf einmal zu stemmen, das überforderte aus Sicht der Skeptiker im Berater_innenkreis die Kräfte dieser Stadt. Andere, wie auch ich, waren dagegen der Ansicht, Olympia und Zusammenwachsen könnten sich gut ergänzen, denn schon die Vorbereitung der Spiele würde zusätzliche Gelder in den Berliner Haushalt spülen. Die Antwort nahmen uns nach dem Machtwechsel an der Spitze der DDR im Zuge der Friedlichen Revolution die neuen Mitspieler der Ost-Berliner Stadtregierung ab. Befreit aus der jahrelangen abgeschotteten Isolation durch die DDR, wirkten sie in Gesprächen über die Olympische Idee richtig begeistert. Die Möglichkeit, auf dem glänzenden internationalen Spielfeld dabei zu sein, überwog, so mein Eindruck, alle bisherigen Einwände, auch unter DDR-Sportfunktionären. Es ging also weiter.
Gezielte Einladung in das sich wiedervereinigende Berlin: Der spanische IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch (m.) nimmt am 17. August 1990 in Ost-Berlin an der Sitzung der NOK der DDR und der Bundesrepublik teil, hier im Gespräch mit Joachim Weiskopf (l.), Präsident des NOK der DDR, und mit Willi Daume (r.), Präsident des NOK der Bundesrepublik.
Unerwartete Rückendeckung erfuhren wir am 2. Dezember 1989 auch durch Zuspruch von höchster politischer Ebene: Bei einem Gipfeltreffen beider Regierungschefs von Sowjetunion und USA, Michail Gorbatschow und George Bush Senior, auf einem Schiff vor der Insel Malta trug Bush auch die Idee Olympischer Spiele in Berlin vor. Auch wenn Gorbatschow zunächst zauderte, weil er den Berlin-Status nicht infrage gestellt sehen wollte, sahen wir uns dem Ziel etwas näher, zumal Michail Gorbatschow am Ende des Treffens den Kalten Krieg für überwunden erklärte: „Wir beide haben in den Gesprächen festgestellt, dass die Welt eine Epoche des Kalten Krieges verlässt und in eine andere Epoche eintritt … Wir sind am Beginn unseres langen Weges zu einer dauerhaften, friedvollen Periode".
Friedenstiftende Spiele, das sollte nun zur Maxime für die weiteren Bewerbungskonzepte werden.
Nur einen Monat später, am 2. Januar 1990, machten die Bürgermeister von West- und Ost-Berlin, Walter Momper und Erhard Krack, das Olympia-Projekt für Gesamt-Berlin öffentlich. Auch nach der ersten freien Kommunalwahl am 6. Mai 1990 in Ost-Berlin, aus der Tino Schwierzina (SPD) als neuer Oberbürgermeister Ost-Berlins hervorging, setzten sich die Bemühungen Seite an Seite fort. Rund eine Woche vor der Deutschen Wiedervereinigung, am 25. September 1990, beschlossen der rot-grüne Berliner Senat und Ost-Berlins rot-schwarzer Magistrat (der sogenannte Magi-Senat) die Gründung einer Olympia Berlin 2000 GmbH als landeseigene Gesellschaft, um in die Detailplanung zu gehen. Walter Momper und Tino Schwierzina erklärten zu diesem Anlass, die Olympischen Spiele in Berlin sollten brückenbauend zu einer „Feier des Friedens und der Überwindung der Ost-West-Gegensätze“ werden. Der Beschluss fiel allerdings ohne die Stimmen der drei Senator_innen aus Berlins Alternativer Liste, die Konstruktionsmängel der GmbH und Voreiligkeit beklagten.
Wieder 2000 statt 2004
Zu diesem Tempo war es auch deshalb gekommen, weil das Zieldatum inzwischen vier Jahre nach vorne gerückt war, denn am 18. September 1990 hatte das IOC eine Überraschung verkündet. Die US-Stadt Atlanta, Heimat des olympischen Groß-Sponsors Coca-Cola, hatte überraschend den Zuschlag für die Jubiläums-Spiele 1996 erhalten und brüskierte damit in der Endphase der Wahl den wohl etwas zu selbstsicher aufgetretenen griechischen Favoriten Athen. Geld und Geschäft hatten über Tradition und Stil gesiegt. Doch damit hatte sich nun wieder für das Jahr 2000 ein Olympia-Fenster für Europa geöffnet. Somit fiel der Beschluss, sich auch schon für „Olympia Berlin 2000“ zu bewerben, und wenn dies scheitere, dann eben für 2004.
Ein olympisches Sportereignis bot die Bühne, dies öffentlich zu verkünden. Zum Start des „Wiedervereinigungsmarathons“ am 30. September 1990, nunmehr quer durch das ganze Berlin, drückte Walter Momper unsere, nun den Zeitumständen etwas angepasste, Bewerbungsphilosophie folgendermaßen aus:
„Berlin bewirbt sich um die Olympischen Spiele im Jahr 2000 oder 2004. Mit diesen Friedensspielen wollen wir das Ende der Ost-West-Konfrontation, die Überwindung der Teilung Europas, die Befreiung auch der Olympischen Familie vom Druck des Kalten Krieges feiern. Europa bricht zu neuen Ufern auf. Die klassische Idee des olympischen Friedens fließt hier nahtlos ein in die Idee der europäischen Sicherheit und Zusammenarbeit. Für solche Olympischen Spiele in Berlin ist die Zeit reif.“
Dann kam erneut ein Wahltermin.
Am 2. Dezember 1990 wurde erstmals ein Gesamtberliner Senat gewählt – überraschend wurde die CDU wieder stärkste Kraft und Eberhard Diepgen erneut „Regierender“. Aber er knüpfte in Sachen Olympia nahtlos an seine Urüberlegungen aus dem Januar 1989 und an die fortgeschrittenen Planungen Walter Mompers sowie Tino Schwierzinas an. Und er holte sich parteiübergreifend die Rückendeckung aller seiner noch lebenden bisherigen Amtsvorgänger. Gemeinsam bekräftigten Diepgen am 21. Februar 1992 die ehemaligen West-Berliner Regierenden Bürgermeister ihre Unterstützung für Berlin als Olympiastadt 2000 bei einem Treffen im Gästehaus der Stadt: Walter Momper, Dietrich Stobbe, Hans-Jochen Vogel, Richard von Weizsäcker, Klaus Schütz und Willy Brandt. Ehemalige Ostberliner Bürgermeister fehlten allerdings auf dem damals entstandenen Gruppenfoto.
Als Präsident der Deutschen Rheuma-Liga warb Diepgen betont auch für die Paralympics, die Spiele der Menschen mit Behinderungen. Denn der Grundgedanke der Berliner Olympia-Bewerbung, „der das Überwinden von Grenzen in den Mittepunkt stellt, schließt die Integration behinderter Menschen in die Gesellschaft als Selbstverständlichkeit mit ein“, argumentierte er und versuchte auf diese Weise, auch Berliner Olympia-Kritiker ins Boot zu holen: „Wer Olympia Berlin 2000 ablehnt, nimmt gleichzeitig den vielen behinderten Sportlern in Berlin die großen Vorteile einer erfolgreichen Bewerbung.“
All together now wurde nun zur Werbeparole für die Games at the Gate, wie wir damals formulierten.
Auch baulich setzte Berlin zügig Zeichen, Olympia tatsächlich zu wollen – noch bevor der Zuschlag greifbar war. So fand am 23. Juni 1993 die Grundsteinlegung der Max-Schmeling-Mehrzweck-Sporthalle im Prenzlauer Berg statt, zunächst extra für Olympia als Boxhalle konzipiert. Auch das Velodrom, eine olympiagerecht bis zu 12.000 Menschen fassende Radsport- und Schwimmhalle wurde bereits im Juni 1993, also vier Monate vor der IOC-Entscheidung in Monte Carlo, in Angriff genommen.
Ernüchterung am 23. September 1993
Allerdings war all dies vergeblich. Denn die Stimmung innerhalb der allein entscheidungsberechtigten IOC-Mitglieder war längst durcheinandergewirbelt. Die eine Fraktion warb für die Spiele im Jahr 2000 vehement für Peking, weil Antonio Samaranch den Chinesen schon im Vorfeld, ohne eine Jahreszahl zu nennen, Olympische Spiele versprochen hatte und sich Sponsor_innen dort offensichtlich neue und vielversprechendere Märkte versprachen. Die andere Hälfte der IOC-Mitglieder wollte den Chinesen nach dem blutigen Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 4. Juni 1989 auf keinen Fall schon im Jahr 2000 Olympia überlassen. Strategische Überlegung war nun, einen Austragungsort zu finden, der Peking noch aus der Favoritenrolle drängen konnte.
Das jetzt mauerfreie Berlin, in dem auch immer mehr Proteste gegen eine Olympiabewerbung laut wurden, strahlte diese Attraktivität nicht mehr aus, zumal auch die eingesetzte Olympia GmbH mit ihren hohen und nicht immer nachvollziehbaren Ausgaben für Skandale sorgte. Der Bundesrechnungshof kritisierte das später scharf.
Auch Schmiergeldvorwürfe standen im Raum, und Marketingaktionen verunglückten, bis hin zur Einladung des IOCs zum Gala-Dinner vor den Pergamon-Altar, just dorthin, wo am Vorabend der Olympischen Spiele 1936 der nationalsozialistische Reichsinnenminister Wilhelm Frick ebenfalls das IOC zum Abendessen empfangen hatte.
Außerdem häuften sich Brandanschläge gegen Firmen, die zu den Sponsoren der Bewerbung zählten, gewalttätige Proteste gegen Berlins Olympiabewerbung nahmen zu und negative Medienberichte häuften sich. Für das IOC, so wurde uns rückgekoppelt, schien das aber zweitrangig, denn einfallsreiche Widerstände vor allem junger Akteur_innen gab es mittlerweile in jeder Bewerberstadt der westlichen Welt.
Für die olympischen Funktionär_innen war vorrangig, dass ein starker Konkurrent für Peking im weiteren asiatischen Raum gefunden werden musste, um Asien als potenziellen Gastgeber nicht vor den Kopf zu stoßen. Europäische Bewerber fielen damit raus, während die Chancen für das nicht ganz so weit entfernt gelegene Sydney erheblich wuchsen. Mit einer außergewöhnlich überzeugenden Bewerbung schaffte es die australische Stadt dann tatsächlich, Peking noch vom Sockel zu stoßen. Knapp ging Sydney am 23. September 1993 mit 45 zu 43 Stimmen als Sieger gegen Peking aus der Endabstimmung hervor und wurde Olympiastadt 2000. Berlin dagegen schied schon in der zweiten Auswahlrunde nach Istanbul und vor Manchester aus, nur neun IOC-Mitglieder votierten für die Spree-Metropole.
Berlin ohne Mauer und Kalten Krieg hatte keinen Mauerbonus mehr. Das hatte indirekt auch Eberhard Diepgen schon im Vorfeld eingestehen müssen. Am 22. April 1993 hatte er, bei einem Vortrag zur Semestereröffnung in der Sporthochschule Köln „zehn Thesen zu Olympia Berlin 2000“ vorgestellt, und sich darum bemüht, der Bewerbung Berlins politisch einen neuen Sinn zu verleihen:
„Mauer und Eiserner Vorhang sind inzwischen gefallen. Berlin, Deutschland und Europa wieder vereint. Unsere große Freude und Dankbarkeit möchten wir mit der Welt teilen. Wir wollen allen danken, die Berlin in schwerer Zeit geholfen haben.“
Für das IOC war jedoch eine Olympiade zum Dankeschön sagen nicht mehr reizvoll genug. Und einen Friedensnobelpreis versprach das auch nicht mehr.
Inzwischen hat hinter den Kulissen erneut eine Diskussion in Berlin um eine neuerliche Olympiabewerbung begonnen - für das Jahr 2036, genau 100 Jahre nach den Olympischen Spielen 1936 unter den Nazis in Berlin. Dies spaltet aber die bisher an der Diskussion Beteiligten. Dies gehe schon des historischen Zeitbezugs wegen auf gar keinen Fall sagen Gegner. Befürworter, wie Berlins 2020 amtierender Regierender Bürgermeister Michael Müller, sehen dies wiederum als Möglichkeit, auch nach außen zu zeigen, wie sich Deutschland und Berlin grundlegend verändert haben. "Mit der Geschichte müssen wir offensiv umgehen", warb er am 8. September 2020 auf einem Unternehmerkongress im Internet. Man könne "das Datum nutzen, um eine andere Geschichte zu erzählen".
Tagesspiegel über Olympia 2036 in Berlin
Online-Kommentar des Berliner Tagesspiegel am 23. August 2023, nachdem Berliner Spitzenpolitiker Olympische Spiele erneut für das Jahr 2036 ins Gespräch gebracht haben, 100 Jahre nach den von den Nationalsozialisten propagandistisch missbrauchten Spielen in Berlin.
Online-Kommentar des Berliner Tagesspiegel am 23. August 2023, nachdem Berliner Spitzenpolitiker Olympische Spiele erneut für das Jahr 2036 ins Gespräch gebracht haben, 100 Jahre nach den von den Nationalsozialisten propagandistisch missbrauchten Spielen in Berlin.
Ein Nachtrag der Redaktion (vom 23.8.2023): Drei Jahre später, seit Sommer 2023, ist die Olympia-Debatte in Berlin erneut entflammt und hochrangige Vertreter der inzwischen amtierenden schwarz-roten Berliner Regierungskoalition werben für Olympische Spiele an der Spree in 2036. Publizistisch ist diesmal darüber eine überraschend breite Debatte entbrannt, die zunächst aber mit auffallend vielen eher skeptischen Tönen begann. Inzwischen klingen die Stimmen vielfältiger:
Zitierweise: Ulrich Eggestein, „The Games at the Gate - Wie der Mauerfall 1989 Berlins Traum von Gesamtberliner Olympischen Spielen platzen ließ", in: Deutschland Archiv, 28.11.2023, der Kerntext erstveröffentlicht am 14.11.2020, Link: www.bpb.de/318840. Der Autor verstarb Anfang 2021 im Alter von 82 Jahren, sechs Wochen, nachdem er diesen Beitrag handschriftlich für das Deutschlandarchiv verfasst hat.
Ulrich Eggestein, Journalist, in den 1970er Jahren Chef vom Dienst der Berliner Zeitung „Der Abend“. Dann Chef vom Dienst im Presseamt des Landes Berlin (West). Zugleich sportpolitischer Berater und einer der langjährigen Redenschreiber für die Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen und Walter Momper. Am 1.1.2021 im Alter von 82 Jahren in einem Berliner Pflegeheim an Krebs gestorben, sechs Wochen, nachdem er diesen Beitrag handschriftlich auf dem Krankenbett verfasst hatte.
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