Anna und ich haben gerade einen Lebensort entdeckt, auch zum Altwerden, den wir uns vor fünfzehn Jahren schon erträumt hatten. Einen Ort, an dem man wohnen und arbeiten kann, in dem es Ausstellungen, Konzerte und Workshops gibt. Mit einem Garten. Ein Ort, der zur Kreativität einlädt, weil wir uns in unserem Leben ständig neu erfinden müssen. Ein anderer Traum ist die Freude, jüdisch zu sein. Dieser Traum realisiert sich gerade völlig anders, als ich es mir gedacht habe.
Bei meinem Kantorentraining in den USA fand ich bei Jewish Renewal etwas, das ich nicht für möglich gehalten habe, dass es das geben würde. Jewish Renewal ist eine Richtung im heutigen Judentum, die Modernität mit traditionellen Elementen aus Kabbala, Chassidismus und Meditation, aber auch moderne Philosophie, Wissenschaft und Musik miteinander verbindet. Hier fand ich die Freude, jüdisch zu sein.
Jüdisch sein war immer verbunden mit Shoah. Mit Untergang. Selbst die fröh¬lichen Feste in der Synagoge in der Rykestraße waren im¬mer von ungelebter Trauer bestimmt. Bei Jewish Renewal habe ich nach einer sehr tiefen Krise trauern gelernt und die Freude, jüdisch zu sein, gefunden. Da habe ich etwas davon begriffen, was uns verloren gegangen ist: dieses breite jüdische Wissen. Ein Traum ist es, den Menschen das Wissen wieder zu bringen. Deshalb wollte ich hier ein Layleadertraining für Laien starten. Heute realisiere ich diesen Traum, dieses Training in London. Nächstes Jahr machen wir einen dreiwöchigen Kurs in Jerusalem. Das macht unheimlichen Spaß.
Andere Geschichten fallen mir ein ... Die Situation in den Siebzigerjahren in der DDR war so: Denkende Menschen solidarisierten sich mit Biermann und mit denen, die gegen seine Ausbürgerung protestierten. Meine Mama war wütend. Wenn irgendjemand bei uns an der Tür geklingelt hätte und gesagt hätte: Unterschreibe! Sie hätte diesen Brief gegen die Ausbürgerung Biermanns sofort unterschrieben.
Hatte ich Vorbilder? Als junge Frau fand ich Therese Giehse toll. Ich habe Helene Weigel verehrt. Das waren Schauspielerinnen, die ihre Träume lebten. Vorbilder ändern sich in den jeweiligen Phasen. Man sagt ja, die Schüler finden ihren Lehrer. Etwas, das ich selbst auch erlebe. Ein anderer, den ich hoch verehrt habe, ist Eugen Gollomb. Er war langjähriger Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Leipzig. Ein sehr mutiger Mann, der den Mund aufmachte, der den Mut hatte, eine Frau zu unterrichten.
Heute, in der neuen Welt, sind es meine amerikanischen Lehrer. Menschen, die mit großer Konsequenz ihre Ideen durchsetzen. Der Vater des Ganzen ist Rabbi Zalman Schachter-Shalomi, der schon Ende der Sechzigerjahre die Welt neu gedacht hat, politisch, ökologisch, philosophisch. Er ist in einem kleinen ukrainischen Städtchen geboren, in Wien aufgewachsen und dann nach Paris gegangen. Er wurde mit seinen Eltern interniert. Sie sind im letzten Moment, 1941 oder 1942, noch rausgekommen in die USA. Im Juli ist er gestorben. Er hat seine Träume gelebt, gegen die Bedenken des Establishments. Ich tauge auch nicht fürs Establishment. Das macht es manchmal schwierig, in ganz alltäglichen Situationen. Es hat aber den Riesenvorteil der Freiheit. Ich bin frei, das zu tun, was ich tun möchte. Nie hätte ich gedacht, dass ich jemals unterrichten würde. Jetzt macht mir das einen solchen Spaß. Es ist dieselbe Situation – die Schüler finden mich. Ich werde nicht über irgendwelche Universitäten angepriesen. Die Schüler müssen mich finden. Wie ich Hazzan Jack Kessler und Rabbi Marcia Prager fand, die inzwischen meine Freunde sind.
Geboren bin ich in Amsterdam am 13. Februar 1951 und aufgewachsen in diesem schrecklichen Eichwalde, in dem meine Mama schwer depressiv war. Es war nicht komisch, ein alleiniges jüdisches Kind in einer DDR-Schule zu sein. Ich war immer Außenseiter, bin mit diesen Strukturen nicht klargekommen. Unser großes Haus, wenn es voller Leute war, war schön. Es war so eine jüdisch-intellektuelle Welt. Es wurde gut gekocht, da war dieser große Tisch ... Oder wenn die Familie aus Amsterdam kam. Meine Mutter ist Holländerin. Sie kam 1952 mit meinem Vater in die DDR.
Mutter und ihre Schwester stammen aus Amsterdam. In ihrer Kindheit schliefen sie zusammen in einem Bett, weil die Wohnung so klein war. Beide waren im Widerstand gegen Hitler. Beide waren sie im Konzentrationslager in Westerbork und in Auschwitz. In Bergen-Belsen sind sie befreit worden. Mein Vater glänzte durch Abwesenheit, wie alle Väter. Wenn seine Schreibmaschine klapperte, fühlte ich mich beschützt. Als die Mauer im August 1961 gebaut wird, sind wir in Rumänien in den Ferien. Mein Vater sagt: Gott sei Dank! Und meine Mutter: Um Gottes willen! Es hat bei uns zu Hause sehr viel Streit gegeben um Politik. Vater bildete Musikstudenten aus, die in den Westen gingen, wenn sie mit dem Studium fertig waren. Mutter hat mit ihrer intuitiven Weisheit sofort begriffen, was das heißt, dass die Grenze zu ist.
Meine Eltern waren berühmte Leute in der DDR. Darum konnte ich mir in der Schule viel leisten, was an¬dere nicht konnten. Zum Beispiel, mit meiner Meinung nicht hinterm Berg zu halten. Ab der achten Klasse ging ich in die berühmte 2. Erweiterte Oberschule. Die ganze jüdische Intelligenzija war an dieser Schule. Hier traf ich zum ersten Mal Leute, mit denen ich was anfangen konnte. Die Schule war in Berlin Mitte, an der Niederwallstraße. In diesen Jahren hielt ein Engel seine Hand über mir. Ich habe auch Glück gehabt, dass ich nicht in die Mühle geraten bin. Ich war nie ein normaler DDR-Bürger. Durch die Position meiner Eltern hatte ich den Rücken frei. Aber ich hätte mich auch nicht kaufen lassen. Die Stasi hat natürlich versucht, mich zu kaufen, einen holländischen Pass und ein Auto haben die mir angeboten. Ich sagte: Nein!
Die Stasi war in der Familie und im Freundeskreis ständig Thema. Ich bekam zeitig mit, dass die Art und Weise, wie mit Menschen umgegangen wird, unmöglich ist. Diese Spitzelei! Eure Geschichte, eure Ausbürgerung, ist bei uns zu Hause lang und breit diskutiert worden. Was fällt denen ein, wie kann man Menschen vor die Tür setzen? Oder die Biermann-Ausbürgerung. Was maßen die sich an? Das waren heftige Diskussionen. Jeder hat das Land natürlich anders empfunden. Ich habe Glück gehabt, aber ich habe auch dafür gesorgt, nicht erpressbar zu sein. Mit einem Pass konnte man mich nicht erpressen. Klar hätte ich gern einen holländischen Pass gehabt, aber doch nicht für diesen Preis! (...)
Die Sängerin Lin Jaldati war ein Prestigeobjekt der DDR. Lin hat Schallplatten produziert, war im Radio. Sie war eine bekannte Künstlerin. Mit dieser Karte hat sie sehr gut gespielt. Also theoretisch konnten die ihr nichts anhaben. Praktisch sehr wohl. Mit dem Sechstagekrieg 1967 wurde sie aus allen Radio- und Fernsehsendungen der DDR rausgeschnitten. 1975 kippte plötzlich die Kulturpolitik der DDR und Lin bekam eine Einladung für ein Konzert in der Kleinen Komödie im Deutschen Theater. Das Konzert war innerhalb von wenigen Stunden ausverkauft. Von Stund an war Lin Jaldati wieder im offiziellen Leben drin, auch bei den Berliner Festtagen, dem großen Kulturfestival in Ost-Berlin.
Wir waren nicht Mitglieder der Jüdischen Gemeinde. Aus Prinzip. Als moderne und linke Frau wollte meine Mama mit diesen ... Das liberale Judentum gab es in ihrer Jugend in Holland nicht, das liberale Judentum gab es auch in der DDR nicht. Was Lin machte, das machte sie richtig. Wenn sie eine Entscheidung traf, traf sie eine Entscheidung. Sie hat aber viel für die Jüdischen Gemeinden getan, Konzerte gegeben, sich mit den Leuten getroffen. ( …)
Ich kann mich erinnern, als ich in den Siebzigerjahren zu Rosch ha-Schana in die Gemeinde ging, mein Auto um die Ecke parkte, mir ein Kopftuch aufsetzte, ein Kleid anzog ... So komm ich dahin und treffe lauter Bekannte. Ah, Jalda, wie geht’s dir? Ich war überrascht. Die Leute waren überhaupt nicht fromm, nicht zugebunden. Ich bin dann bald Gemeindemitglied geworden.
1968 wäre ich beinahe von der Schule geflogen. Es ging um den Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in Prag. Da habe ich mich mit dem Staatsbürgerkundelehrer gekracht. (...) Es waren auch die Anfänge der Sing-Club-Bewegung, zu der ich gehörte. (…) Nach dem Abi fing ich auf der Schauspielschule in Berlin an. Dort fühlte ich mich zum ersten Mal richtig frei. ( …) Das Theater war der Ort, an dem man atmen und sich austoben konnte. (...) Nach dem Abschluss holte mich ein Kommilitone nach Karl-Marx-Stadt, in so ein atmungsaktives Biotop. Das war eine richtig gute Schauspieltruppe. (...)
Aber die Stadt war unerträglich. Und dann wurde Jakob geboren, mein ältester Sohn. Zwei Jahre später Tobias. Mein Mann war damals in Dresden. Wir versuchten, die Familie zusammenzukriegen. Aufgrund der großpolitischen Wetterlage ging es schief, dass ich in Dresden anfangen konnte. Wir wollten uns nicht anpassen. 1978 sind wir zurück nach Berlin, seitdem lebe ich in Berlin. Und hier hat Mama mich geschnappt und auf die Bühne gezerrt, neben sich, was ich eigentlich nicht wollte. Ich habe synchronisiert. Auch Fernsehen gemacht, diesen ganzen Schnulli. (…)
Aber ich konnte auch Anne Franks Tagebuchtexte sprechen. Mama drängte mich auch zu ersten Aufführungen im Kul¬urbund. (…) Mama hatte mir einen Fußtritt gegeben. (…) Ich suchte mir meine Lehrer, einer war Eugen Gollomb in Leipzig. Die anderen Lehrer waren nicht gewillt, eine Frau jüdisches Wissen zu lehren. Ich flog nach Bukarest, zu Israel Berkovici, dem damaligen Chefdramaturgen des Jiddischen Theaters.
In den Sommerferien, als wir nicht mehr nach Holland fahren konnten, sind wir nach Bulgarien oder Rumänien gefahren; zelten, das war immer sehr abenteuerlich. Da waren wir oft im Jiddischen Theater. Es entstanden Bilder von einer heilen jiddischen Welt. Im Jiddischen Theater in Bukarest war ein Garten, in dem Theater gespielt wurde. Und es gab eine Bühne. Es wurde Musik gemacht, gespielt und gelacht. Das Publikum konnte Jiddisch sprechen. Selten habe ich meine Mama so glücklich erlebt. (...) Es folgten erste eigene Konzerte mit Hans-Werner Apel und Stefan Maas. Wir waren auch bei euch in der Kirche. (…) Für viele Juden ist es völlig unverständlich, warum ich kein Problem habe, in Kirchen zu singen. Das waren ja für uns in der DDR die Freiräume. (...)
1983 erhielten wir eine Einladung nach Israel. Das war das erste Mal, dass ich in Israel war. Wenn ich nicht zwei Kinder in Berlin gehabt hätte, wäre ich nicht zurückgekommen. In Berlin bin ich in eine tiefe Depression gerutscht. Es war ja auch noch kalt. Dort war es warm. Es war eine absolute Katastrophe. Dazu kam dieser ganze Stasi-Scheiß. Leute, die uns auf den Pelz rückten. Überall Misstrauen. Ich war unglaublich misstrauisch geworden allen Fremden ge¬genüber. Und immer wieder dasselbe, solange wir im Ausland waren, ging es Mama gut. Die Enge der DDR setzte ihr zu. Es wurde immer enger und enger. Ich erinnere mich an diese knallenden Türen, wenn wir durch die Grenzübergänge gingen. Eine Gefängnistür, die hinter dir zuschlägt.
Ja, was war es, was hat mich in Israel so gefesselt? Das Israel von 1983 ist völlig verschieden von dem Israel, das wir heute kennen. Es war ein Miteinander der Leute, das ich so aus meinem Alltag nicht kannte. Es war ein Nach-Hause-kommen; auf einmal von Leuten umgeben zu sein, die wie ich tickten.
Schon als Teenager, als ich mich mit Philosophie und den Dingen des Lebens zu beschäftigen begann, war mir nicht klar, warum ich viele Leute nicht verstand und sie mich auch nicht verstanden, bis ich begriff, dass mein jüdisches Denken immer von zwei Seiten ausgeht. Von einem Sowohl-als-auch. Es gibt nicht Entweder-oder. In meinem Umfeld waren lauter Sowohl-als-auch-Denker. (...)
1989 fiel die Mauer. Da war diese ganze Euphorie, die bei mir ganz schnell in Panik umkippte. Die Panik – gleich kommt ein Lastwagen, auf den ich geworfen werde, um deportiert zu werden, und ich kann meine Kinder nicht beschützen. Erstens war der 9. Oktober der Umschwung und nicht der 9. November. Siebzigtausend Menschen ziehen am 9. Okto¬ber durch die Innenstadt in Leipzig. Die Polizei muss sich zurückziehen. Sie hat keine Chance gegen die friedlich Demonstrierenden. Der 9. November war eigentlich nur noch eine Konsequenz dessen, was geschehen war. Hinzu kam unsere Enttäuschung, die Leute liefen alle der D-Mark hinterher anstatt zu gucken, können wir hier etwas Neues aufbauen? Was, im Nachhinein betrachtet, ökonomisch überhaupt nicht möglich gewesen wäre.
In diesem ganzen Chaos war ich plötzlich wieder schwanger. Joseph ist sozusagen ein Wendekind. Joseph ist 1990 geboren. Diese Beziehung ging in diesem Durcheinander auch auseinander. Aber es war auch die Blütezeit der Jüdischen Kulturtage. Ein tolles Festival! Die Tage der Jüdischen Kultur wurden 1984 geboren und das erste Mal 1987 ausgeführt. Die Idee war 1984 in unserer Familie entstanden. ( ...) Die ersten Tage der Jiddischen Kultur fanden um den 27. Januar 1987 statt. Alle drei Veranstaltungen waren innerhalb von einer Stunde ausverkauft. (...) Unser Projekt wurde ein Projekt der UNESCO Weltkulturdekade. Die UNESCO hat zwar kein Geld, aber mit dem UNESCO-Schild auf der Brust kannst du viel erreichen. So konnten wir das Festival über den Mauerfall retten. (...) Aber du fragtest nach der Liebe. Als die Beziehung mit Josephs Vater auseinanderbrach … (...)
Dann traf ich Anna. Diese Begegnung ist wirklich, wie wir sagen, baschert. Es wird gesagt, dass schon im Himmel entschieden wird, welche Neschamot, welche Seelen, füreinander bestimmt sind. Der Ewige, gelobt sei Er, braucht manchmal viel Energie, um Menschen um die ganze Welt zu schicken, damit sie ihren Baschert, ihre Partnerseele, finden. Ich bin sehr dankbar, dass ich meinen Baschert gefunden habe. Ich bin für jede gemeinsame Stunde mit Anna dankbar. Ich bin für jede einzelne Stunde mit meinen Kindern und meinem Enkelkind dankbar.
Liebe ist wie Licht. Je mehr man Licht teilt, desto heller wird es. In einer Welt, in der Gwurah, die Strenge, die Macht, so stark geworden ist, wie in unserer Welt momentan, braucht es viel Liebe, um wieder einen Ausgleich zu schaffen. Wir dürfen uns von dieser Gewalttätigkeit und Aggressivität nicht anstecken lassen. Das ist manchmal schwer, vor allem dann, wenn wieder Wut, Panik und Angst aufsteigen. Aber es ist möglich. Manchmal genügt ein Lächeln, ein freundliches Wort. Anna und ich sitzen oft da und denken, hätten wir uns doch früher getroffen! Wir haben uns zusammen aus der Depression gezogen. (...)
Anna ist Malerin. In Amsterdam sah sie ein Buch Aimée und Jaguar. Sie wandte sich an den Verlag, um sich die Rechte für die Vermarktung zu sichern. Sie begann Bilder zu Felice Schragenheim zu malen, fand jüdische Überlebende, jüdische Freundinnen, die ihr Felice beschrieben. Daraus sind Portraits entstanden. Die Bilder wurden im Martin-Gropius-Bau ausgestellt. Erinnerung ist ein Thema, das durch Annas Leben geht. (...)
Zurück zum Jahr 1989. Am 3. und 4. Oktober war ich in der Gethsemanekirche dabei. Habe am 9. Oktober, das war Jom Kippur, in der Kirche gesungen. Irgendwann schallte der Ruf durch die Kirche: Sie sind weg! Das bedeutete, die Staatsmacht ist abgezogen. Es bestand ja die akute Gefahr, dass auf die Demonstrierenden geschossen wird. (...)
Am 4. November stand ich auf dem Alexanderplatz bei der Großdemonstration. Plötzlich war ich umringt von einer Gruppe von Leuten, die „Deutschland den Deutschen!“ schrien. Da war mir klar, das war die Stasi. Da musste ich weg. Aber als nach dem 9. November 1989 besoffene Horden mit Bierdosen an meiner Haustür vorbeizogen und „Deutschland den Deutschen!“ schrien, saß ich in der äußersten Ecke der Wohnung und hatte Angst rauszugehen. Der Fall der Mauer war für uns Juden eine Herausforderung. Die Deutschen hatten ihr Reich wieder. Der Abzug der Alliierten fühlte sich nicht gut an. Sie waren über viele Jahre unsere Beschützer gewesen. Ich kenne viele Juden, die damals das Land verlassen haben. Aus Angst vor dem neuen deutschen Reich. Sie sind wieder zurückgekehrt, weil sie feststellten: Wir träumen deutsch, wir denken deutsch. Als sie zurückkamen, packten sie ihre Koffer aus.
Das war so um 1994/95. Da fingen wir an, unsere eigenen modernen, jüdischen Gruppen zu gründen. Ich habe in den USA zum ersten Mal eine Frau mit einer Tora im Arm gesehen. Und ich dachte, jetzt bricht die Erde auf und verschlingt uns alle! Es war eine sehr kreative Zeit in den neu gegründeten Gruppen in der Synagoge in der Oranienburger Straße. Das ist alles vorbei. Kreativität ist nicht mehr gefragt. Das war eine sehr gute Zeit. Es war auch ein Neubeginn für uns in der jüdischen Welt. (...)
Als 1989 die beiden Deutschländer sich um das schickste Gedenken zum 9. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht, stritten, fing ich an, mich mit jüdisch-deutschen Themen zu beschäftigen. Ich habe eine Produktion gemacht zu Juden in Deutschland – 1250 bis 1750. Einem erstaunten Publikum erklärte ich: Juden sind keine Fremden. Sie fielen 1933 nicht vom Mars. Spätestens seit Karl dem Großen sind das eure Nachbarn. Mitte der Neunzigerjahre fing man an, die mittelalterlichen Synagogen in Deutschland zu entdecken. In vielen dieser Synagogen habe ich gespielt. Lange habe ich gebraucht, um herauszufinden, warum wir in jüdischer Tradition die Musik nie aufgeschrieben haben. Die Trennung von Säkular und Sakral gab es nie. Alle kannten die Melodien.
Dann wollte ich wissen, wie die Basis der jüdischen Liturgie funktioniert. Die Basis einer Religion findet sich in ihrer Liturgie, in den Gebeten und anderen Texten der Gottesdienste. Ich wollte das studieren, aber diejenigen, die es kannten, hätten es nie an eine Frau weitervermittelt. So bin ich in die USA aufgebrochen. Dort habe ich ein Studium absolviert. Ich kam als Europäerin in die USA, mit all meinem Wissen, und fand mich dort unterrichtend wieder. Denen fehlten natürlich die europäischen Traditionen.
Ja, und dann komme ich mit all meinem Wissen zurück und will es teilen. Doch hier höre ich: Das geht nicht, Sie sind doch eine Frau! So wurde ich auf meine alten Tage Feministin. Anna und ich sind aus unserer Synagoge rausgeschmissen worden mit den Worten, dass wir politisch nicht vertretbar seien. Heute bin ich dankbar dafür, weil die Situation in den jüdischen Gemeinden in Deutschland dermaßen verfahren und verknöchert ist. Heraus aus den Zwängen, und selbst Entscheidungen treffen. Was das Judentum ist, ist den meisten Leuten nicht klar; die denken immer, jüdisch sein heißt, jeden Schabbes in die Synagoge gehen. Das ist Quatsch! Jüdisch sein reicht tief in den Alltag hinein. Das geht in der Küche los. In meiner Kindheit gab es jeden Samstag eine gigantische Tafel, an der Freunde, Nachbarn, Kinder gesessen haben, bis tief in die Nacht. (...)
Jüdisch sein bedeutet aber vor allem eine andere Art zu denken. Dazu kommt die Familiengeschichte, die natürlich tief in der DNA steckt. (...) Fast täglich klopfen Leute an meine Tür, kommen mit den unmöglichsten Geschichten. Sie sagen: Meine Tante ist gestorben. Ich bin jüdisch, da gibt es so ein Kästchen, was mach ich damit? Oft sind es Menschen, die in unseren Gemeinden von der Schwelle gefegt werden, weil sie keine Papiere haben. Ordentliche Papiere besitzen diejenigen, die konvertiert sind. In jüdischer Tradition ist jemand, der zum Judentum übertritt, Teil der Familie. Aber wenn dort welche sitzen, die ihr Wissen nur aus Büchern haben und das, was von den Vätern, von den Müttern vermittelt wurde, nicht kennen? Ich bin sehr dankbar, dass ich im Berliner Raum eine Anlaufstelle bin für alles, was nicht ins System passt. So können wir Neues kreieren. (...)
Heute klopfen Leute an meine Tür, sagen: Du hast doch S‘micha! Also eine Ordination. Ich möchte mit dir sprechen, es gibt ein Problem! Da sitzen sie dann an meinem Tisch und ich beginne, sie zu unterrichten. Oder eine Gruppe kommt und bittet: Wir wollen ins Kino gehen und über den Film diskutieren! Andere wollen über ein bestimmtes Buch sprechen. Na gut!, sage ich, gucken wir mal, was die Tora zum Thema sagt. Es sind Fragen, die ihnen unter den Nägeln brennen. Es geht zum Beispiel um Organspenden, eben alles, was Menschen interessiert. (...)
Wir gründeten einen jüdischen Verein, Ohel HaChidusch. Das ist unsere Gemeinde. Wir sind freiheitsliebende Leute, treffen unsere eigenen Entscheidungen. Jetzt entscheiden wir so. Es kann aber auch sein, dass wir in drei Jahren anders entscheiden. (...) Unsere Green Shul, wie wir die Gemeinde nennen, die Grüne Synagoge, wird von vielen sehr genau beobachtet. Mitglieder sind vor allem amerikanische Familien, weil die nicht damit klarkommen, was in den Gemeinden passiert. So entstand ein freies jüdisches Leben. Unsere Gemeinde ist ein Ohel, ein Zelt. Wir haben verschiedene Orte. Unsere Tora ist in der Vaterunser-Gemeinde in Wilmersdorf. Im Sommer sind wir sehr viel im Gutshof Gatow. Bei uns wird nicht nach den Papieren gefragt. Wer kommt, der kommt. Und es kommen Leute mit den komischsten Geschichten. (...)
Ja, woher bekomme ich die nötige Kraft? Ich denke, das ist ein tief spirituelles Vertrauen. Nenne es Gott, nenne es Quelle des Lebens, nenne es, wie immer du den Ursprung des Lebens nennen möchtest. (...) Wichtig ist mir, dass die Kinder ihre Träume leben, dass wir unsere Träume leben. (…) Und die Kinder, die in der freien Welt groß geworden sind, denen sage ich immer wieder: Verteidigt diese Demokratie, die nicht perfekt ist. Es gibt so viel Ungerechtigkeit, aber verteidigt sie mit Händen und Füßen! (...)
Achte darauf, dass unsere Kinder in den Schulen nicht verbogen werden. Wenn du die Dinge richtig machst, bist du ein gutes Mädchen, wenn du die Dinge falsch machst, bist du ein schlechtes Mädchen. Nein! Über Fehler lernt man am meisten. Vor allem gehört die Freude zum Leben, gutes Essen sowieso.
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