Gut, ein Traum war, einmal nach Amerika. Das war für mich als Kind und Jugendliche eine tolle Vorstellung, die wurde auch erfüllt. Ideale oder Vorbilder? Meine Mutter pflegte immer zu sagen: Was du nicht willst, was man dir tu, das füg‘ auch kei-nem anderen zu. (...) Ich bin 1947 in Hamburg geboren. Meine Eltern waren komplizierte Menschen, die ein schwieriges Leben hinter sich hatten. Ich bin ein sogenanntes Flüchtlingskind. Mein Vater stammte aus Danzig, kam schwer verletzt aus dem Krieg zurück. Mutter ist 1920 noch in Posen geboren. Sie war ein Säugling, als meine Großeltern ausgewiesen wurden. Sie wuchs in Berlin auf. (...) Mein Vater war Lehrer, meine Mutter war nicht berufstätig. (...) Das Verhältnis zu meiner Mutter war kompli¬ziert. Sie war sehr dominant, auch meinem Vater gegenüber. Letztlich, denke ich, war ihr Hauptproblem, dass sie sich nicht verwirklicht hatte. Haushalt und so, das war überhaupt nicht ihre Sache. Sie las viel, vertrieb sich ihre Zeit mit solchen Dingen. Das ist für Kinder nicht ganz leicht. Mein Verhältnis zu meinem Vater war schwierig, bedingt dadurch, dass er uns körperlich sehr misshandelt hat. (…) Er hat seine Gefühle überhaupt nicht im Griff gehabt. Wie ich damit umgegangen bin? Man verdrängt so etwas. (...) Ich vermute, diese Nachkriegsschicksale sind sehr häufig, weil die Männer im Krieg schreckliche Dinge erlebt haben. Mein ältester Sohn guckte sich neulich die Orden an und sagte: Mein Gott, dein Vater hat ja mindestens fünfzig Men-schen erschossen! Dafür hat er also auch einen Orden bekommen, für den Nahkampf. Ich denke, diese Leute sind innerlich so kaputt gewesen. Kriegsgeschädigt. Über die Hitlerzeit hat mein Vater nicht geredet. Als Manfred, mein Mann, mit ihm darüber diskutieren wollte, da zischte Vater nur: Der verdammte Versailler Vertrag!
1953 bin ich in Hamburg eingeschult worden. Vater war an derselben Schule Volksschullehrer, was für mich schrecklich war. (...) Die Tochter von Helmut Schmidt war in meiner Klasse. Hannelore Schmidt war meine Handarbeitslehrerin. Nach der Oberschulprüfung, in der vierten Klasse, sagte sie zu uns: So Kinderchen, was wollt ihr denn nun werden? Am besten ihr werdet alle Leh¬rerinnen, da habt ihr viele Ferien und kriegt ein gutes Gehalt! (...) Meine Lieblingsfächer waren Geschichte, Soziologie und Englisch. Auch Kunst und Musik. (…) Wie gesagt, meine Schulzeit war kompliziert. Es gab immer wieder Probleme. Mutter nahm mich jedes Mal raus und schickte mich woanders hin. Abitur habe ich an der Klosterschule in Hamburg gemacht. Ich war in der Jungen Gemeinde, war Pfadfinderin und habe Jugendgruppen geleitet. Freundschaft bedeutet mir sehr viel. Es geht um Vertrauen. Aber ich bin ein zurückhaltender Mensch. Ich gucke, beobachte. (...) Wie ich meinen Mann kennengelernt habe, ist eine sehr lustige Geschichte. Es war bei der ersten Demo meines Lebens 1968. (...) Also wir marschierten los, und während wir in den Hamburger Colonnaden waren, rief meine Freundin: Da ist ja ein Freund! Es war Manfred. Er trug einen Parka, in der Hand eine Aktentasche und trottete mit. Anschließend gingen wir ins Café und ich erfuhr, was in der Aktentasche war. Irgendwelche Unterlagen von der ZEIT. Manfred hatte da einen Job. In jenem Café lernten wir uns kennen. Da stellte er mir auch eine ganz merkwürdige Frage. Wie viele Bücher haben Sie zu Hause? Ich dachte, der muss nicht ganz echt sein, was stellt der für eine Frage!
Hinterher erfuhr ich, dass es eine Umfrage gab in der ZEIT, wie viele Bücher in einem Haushalt sind. Die wenigsten hatten über neunundneunzig Bücher. Ich habe meine Bücher noch nicht gezählt, geschweige denn die unseres Haushalts, antwortete ich. So haben wir uns kennengelernt. (…) Nach dem Abitur begann ich Theologie und Anglistik zu studieren. (…) Warum ich nicht Geschichte wählte, das Fach, das mich sehr interessierte? (…) Ich habe Pädagogik gewählt aus pragmatischen Gründen. In Hamburg an dieser Massenuni zu studieren, war nicht einfach. Interessiert habe ich mich für die Linguistik, den Aufbau und die Systematik einer Sprache. Das faszinierte mich. (...)
Relativ früh bekam ich mein erstes Kind. Ich war knapp über dreiundzwanzig. Manfred studierte mit einem Gewerk-schaftsstipendium Soziologie. 1970 haben wir geheiratet, im Juli ist unsere Tochter geboren. Ab Juni hatten wir auch eine gemeinsame Wohnung. Ich versuchte weiter zu studieren, was schwierig war, weil mein Kind oft krank wurde. Manfred machte im Sommer 1970 seinen ersten Abschluss, verdiente quasi das Geld und studierte weiter an der Uni Diplompädagogik. Teilweise studierten wir gemeinsam. Seine politische Arbeit setzte er fort, wurde Mitglied bei den Trotzkisten, obwohl er Mitglied der Sozialdemokratischen Partei war. Ich ging mit zu den Veranstaltungen. Wir lebten in einer Zweizimmerwohnung, es war ziemlich eng.
1975 wurde unser zweiter Sohn geboren. Danach beschloss ich, jetzt ist es genug mit dem Studium! Das kriege ich mit den Kindern nicht mehr hin. Das war die Zeit 1975/76. (...)
Ich fühlte mich durch die Kinder schon sehr angebunden. Zu Abendveranstaltungen ging Manfred in der Regel allein. Aber wir bekamen oft Besuch, der bei uns übernachtete. Ich hatte nicht den Eindruck, ausgebeutet zu werden. Mutter sein, war wichtig für mich. Es war etwas sehr Erfüllendes. Auch, dass Manfred abends wegging und ich zu Hause blieb, war in Ordnung. Ich wusste, wenn ich mich auf diesen Mann einlasse, mit ihm zusammenleben möchte, gibt er das nicht auf, was er sich schwer erkämpft hat.
Manfred kommt aus ganz anderen sozialen Verhältnissen als ich. Den zweiten Bildungsweg hat er sich erkämpft. Da war es an mir zurückzustecken. Ich konnte nicht erwarten, dass er bei den Kindern blieb, das würde er nie tun, dann würde er die Verbindung aufgeben. Das wollte ich nicht. Es war meine Entscheidung. (…)
Schön ist, dass wir immer Zeit füreinander hatten, ge-meinsam in Urlaub fuhren, regelmäßig andere Dinge miteinander machten. Das Wichtigste ist das Frühstück. Die Kinder waren dann teilweise schon in der Schule und wir konnten miteinander reden. Sex gehört dazu, gehört zum Leben. Aber Erfüllung im Leben – dafür ist es zu wenig. Da muss noch einiges andere da sein, was zusammenpasst.
Als 1961 die Mauer gebaut wird, lebe ich in Hamburg und bin vierzehn Jahre alt. Den 13. August habe ich sehr bewusst erlebt. Aber mein erstes politisches Erlebnis ist Ungarn 1956. (…) Ich sah im Fernsehen einen Bericht über den Aufstand in Ungarn. Ich sehe sie noch vor mir, die Bauersfrau mit dem Kopftuch, die in die Kamera sagt: Hilfe, Hilfe, helft uns! Wir werden alle umgebracht! Das hat mich geschockt. Das war mein erstes politisches Erlebnis. (...)
In Hamburg spielte die Mauer überhaupt keine Rolle. Sie war weit weg. (…) Auch im Unterricht wurde nicht darüber gesprochen. (…) Aber ich muss sagen, weil ich mich immer für politische Themen interessierte, galt ich als ein bisschen verrückt. Wie kann man sich denn für diese Geschichte interessieren! (...)
In dieser Zeit gab es keine Kontakte in die DDR. Später fuhr ich mit Manfred nach Weimar. Manfred war ja so ein Typ, der seine Finger in alle Richtungen streckte. Er kannte den stellvertretenden Redakteur der SED-Zeitschrift Einheit, ein hoher Funktionär. (…) Auf diese Weise sind wir zu dieser Einladung gekommen. (...)
1976 ziehen wir als Familie nach West-Berlin. Manfred bekam eine Stelle als Assistent an der TU. Freunde sagten zu uns: Wie hält man das aus in einer eingeschlossenen Stadt? (...) Ganz schnell habe ich mich arrangiert. Berlin ist groß, es gibt viel Grün, viel Wasser. Was soll passieren? Wenn du dich verfährst, landest du eventuell an der Mauer, drehst um und fährst weiter. Die Mauer vom Westen aus war auch nicht so grau wie im Osten. Teilweise bunt angemalt. Die Brutalität, die hinter der Mauer steckte, war nicht zu spüren. (...)
Manfred ist sehr kontaktfreudig. Irgendwann war er in Berlin im Brecht-Theater. Eigentlich wollte er Havemann treffen, da sah er Biermann in irgendeinem Restaurant, ging auf ihn zu und sagte: Mein Name ist ... Ich möchte gern Havemann kennenlernen! Biermann sagte: Komm mal morgen wieder! So lernte Manfred Robert Havemann kennen. Seitdem bestanden die Kontakte zu diesen Kreisen.
Ende September 1976 besuchen wir Wolf Biermann in Ost-Berlin, in der Chausseestraße. Wir kommen zu ihm in die Wohnung, da sitzen zwei Gestalten. Der eine ist Peter Schneider, Schriftsteller aus West-Berlin. Der andere Günter Wallraff, ein Schriftsteller, der undercover als Journalist bei der Bildzeitung gearbeitet hat. An jenem Abend erzählte Biermann, er hätte eine Einladung von der IG Metall zu einem Konzert nach Köln erhalten. Nina Hagen schneite kurz herein, ein Mädchen von siebzehn Jahren. Wir dachten, ob das gut geht, ob die dich wieder zurücklassen? Wie wir heute wissen, fuhr Biermann nach Köln. Wir beobachteten genau, was passiert. Die Kreise in Westdeutschland, die sich für so etwas interessierten, waren sehr klein. Herrschende Meinung war: Es gibt zwei Deutschlands und um die muss man sich nicht unbedingt kümmern. Für viele waren wir Spinner, Verrückte. (...)
Und dann passierte auch noch Prag 1968. Das war schrecklich. Wenn du die Exil-Tschechen erlebt hast ... Ich werde nie vergessen, wie sie zusammengesessen und gesungen haben! Das war das Heimatgefühl, das sie besaßen. Sie lebten außerhalb ihres Landes, der eine in Schweden, der andere in Italien, einige in der Bundesrepublik. Da habe ich gedacht: Wieso muss das so sein, wie es ist? Da muss man doch etwas verändern können! Warum können die Menschen in ihrem Land nicht über sich selbst bestimmen? So hat sich das politische Bewusstsein in mir entwickelt. Gut ist, dass Manfred und ich an einem Strick ziehen. Aber wir wurden immer als ein bisschen verrückt eingestuft. Nicht von allen natürlich. Es gab einige wenige, die sich verknüpften.
Margret Frosch wollte einen Film über Havemann machen. Heinz Brandt hatte sie an uns verwiesen. Er sagte zu Margret: Dann musst du mit Manfred reden, der kennt Havemann. Zusammen überlegten wir, was können wir jetzt tun? Biermann war im November 1976, nach jenem Konzert in Köln, ausgebürgert worden. Jürgen Fuchs wurde kurz darauf verhaftet. In Jena wurden andere in Haft genommen. Was können wir tun? Hannes Schwenger war damals der Vorsitzende des Westberliner Schriftstellerverbandes, zu dem gingen wir. Als die Verhaftungswelle in Jena losging, musste etwas geschehen. Um die Großen kümmerten sich andere, aber was passierte mit den Unbekannten, die den Protest gegen die Ausbürgerung Biermanns mit unterschrieben hatten, die in den Knast abwanderten? Denen musste man doch helfen! Jürgen Fuchs ist, nachdem er aus dem Gefängnis in den Westen entlassen war, bei Margret Frosch untergekommen. Lilo, seine Frau, kam mit der Tochter ein bisschen später aus der DDR. Wir wohnten nur zehn Minuten von Margret ent-fernt. In dieser Zeit gab es viele Gespräche zwischen Manfred und Jürgen Fuchs. (...) In dieser Zeit schrieb Fuchs die Vernehmungsprotokolle. Wenig später kamen Gerulf Pannach, Christian Kunert und die anderen Jenenser. (...)
Eine Geschichte werde ich nicht vergessen. Margret Frosch stellt eine Schüssel Obst hin. Kuno will sich eine Banane nehmen, zuckt zurück: Oder ist die für die Kinder? Das versteht jeder DDR-Bürger sofort. Eine andere Geschichte … Jürgen und Manfred gehen in eine Buchhandlung. Jürgen geht sofort wieder, sagt auf der Straße zu Manfred: Ich kann das nicht ertragen, dass hier alle Bücher liegen, die man in der DDR nicht kriegen kann, die man aber haben möchte!
Die Angekommenen sind viel unter sich geblieben, mussten viel miteinander reden. Biermann besuchte sie, auch Heinz Brandt. Der wusste genau, wie es den Ausgebürgerten geht. (…) Nach der Verhaftungswelle 1976/77 taten sich einige in West-Berlin zusammen. Sie sagten: Wir können die nur aus dem Gefängnis holen, wenn sich Prominente beteiligen, auch international. Das Komitee für Freiheit und Sozialismus versuchte über Anwälte, die Inhaftierten frei zu bekommen, die dann in den Westen abgeschoben wurden. Es gab für politische Häftlinge nur diese Alternative.
Als Student war Manfred Mitglied des SDS. Aber er war nicht in diese Richtung einzusortieren. Der SDS war ja viel-schichtig. Ich weiß nicht, wie lange er dort Mitglied war. Auch Rudi Dutschke gehörte dazu, der aus der DDR stammte. Manfred sagt dazu: Vorher war ich eher stalinistisch orientiert, als ich 1968 Prag erlebte, war für mich die Welt am Ende. Da ist für ihn wirklich eine Welt zusammengebrochen. Da war nichts mehr mit Sozialismus. Sein erstes politisches Ereignis war 1953 am Radio. Der 17. Juni. Der Aufstand der Arbeiter in der DDR. Damals war Manfred zwölf.
Ihm war immer wichtig, zwischen den Gesinnungsgenossen eine Verbindung zu knüpfen. Das konnte er gut. Darin besitzt Manfred ein großes Talent. Auch Internationalität war ihm wichtig. So knüpfte er zeitig Verbindungen zu polnischen und tschechischen Intellektuellen. Auch darin waren sich Jürgen Fuchs und Manfred ähnlich. Deswegen konnten sie sich schnell kurzschließen, mussten nicht viel diskutieren. (...)
In Grünheide, bei Katja und Robert Havemann, hat Manfred den Schriftsteller Jürgen Fuchs kennengelernt. Zwei Tage danach wurde Fuchs verhaftet. Nach Grünheide fuhr Manfred mit seinem westdeutschen Pass. Nach dem Besuch in Grünheide bekam Manfred Einreiseverbot in die DDR. Da ich kein Einreiseverbot hatte, fuhr ich nach Grünheide. Es ging um das Buch über Robert Havemann, das Manfred herausgeben wollte mit dem Titel Ein deutscher Kommunist. Es war die Zeit, in der Havemann unter totalem Hausarrest stand. Die Idee zu diesem Buch entstand, weil Manfred feststellte, die alten Kommunisten sterben weg. Sie lebten in Schweden und wer weiß wo. Einer von ihnen war Robert Havemann. Das Buch ist 1978 bei Rowohlt erschienen. Darin sagt Havemann sinngemäß: Ich denke doch nicht daran auszureisen, wo doch jeder sehen kann, wie dieses System zusammenbricht. (...)
Wieder fuhr ich nach Grünheide, traf Havemann im Pfarrhaus in G., weil der Hausarrest noch immer bestand. Es war November. Ich war aufgeregt, war eine Busstation zu spät ausgestiegen und musste zurücklaufen. Kaum war ich im Pfarrhaus, da klingelte es und Robert kam herein. Das werde ich nie vergessen. Er trat durch die Tür, er war ja ein schmaler, hochaufgeschossener Mann mit Hut, und er lachte, weil er sich so freute, dass er der Stasi wieder mal ein Schnippchen geschlagen hatte. Lange haben wir miteinander geredet. Er sagte noch, geh mal ein bisschen vom Fenster weg, die müssen ja nicht sehen, wer hier ist, Karin! (...)
Ich war so etwas von unbefangen. Erstens habe ich gedacht, schlimmstenfalls lochen sie dich einen Tag ein, danach müssen sie dich wieder gehen lassen. Ich hatte keine Angst. Aber dass sie mich im Zusammenhang mit Havemann auch länger festsetzen konnten ... Auf die Idee bin ich nicht gekommen. Denn es war immer etwas anderes, ob man aus dem Osten stammte oder aus dem Westen. Ich wusste, dass Heinz Brandt einer der Letzten war, der entführt worden war. Klar, das war noch mal eine ganz andere Nummer. (…)
Als der Hausarrest bei Havemanns aufgehoben wurde, fuhr ich mit meinen beiden Kindern nach Grünheide. Ein Blumenmeer stand in Roberts Zimmer. Das war eine Stimmung! Irgendwann sagte Robert: Komm, Karin, setzen wir uns auf die Terrasse! Er holte sein Radio, stellte es laut, und dann sagte er mir, was ich zu Hause erzählen sollte. Als ich das nächste Mal nach Grünheide wollte, verwei-gerte man mir die Einreise. Wieder fuhr ich mit zwei Kindern, kam mir vor wie Rotkäppchen, mit einem Korb voll leckerer Sachen. So stand ich am Grenzübergang vor dem Grenzbeamten. Ich wartete und wartete. Das war um Pfingsten 1978. Die Schlange hinter mir wurde immer länger. (…) Dann kam ein Beamter, gab mir die Papiere zurück und sagte: Sie verlassen sofort das Gebiet der Hauptstadt der DDR! (...)
Warum macht man so etwas? Weil man hofft, vielleicht bewirkt es was. Und das hat es ja letztlich. Ob Robert Havemann gewollt hätte, wie es jetzt ist? (..) Er war ja von einer unglaublichen Frechheit. Wenn man sich überlegt, unter welchen Umständen er in der Nazizeit im Zuchthaus Brandenburg saß, dort eine illegale Zeitung herausbrachte und die Briten abhörte, immer unter dem Damoklesschwert: Die machen mich einen Kopf kürzer. Er war schon ein Überzeugungstäter. Diese Überzeugung, was ist sie eigentlich? Es geht darum, dass Menschen ein menschenwürdiges Leben führen dürfen, in Freiheit. Unsere jüngste Tochter, die heute siebenundzwanzig ist, sagte: Mensch!, bin ich froh, in diesem Elternhaus groß geworden zu sein! Bei uns wurde am Küchentisch über Themen geredet, die brenzlig sind. Das musste ich nie lernen, das habe ich nebenbei alles erfahren. (...)
Ob ich bereut habe, nicht berufstätig zu sein? Nein, das habe ich nicht bereut. (…) Einer unserer Söhne hat sehr viel Zuwendung gebraucht. Es hatte sich herausgestellt, dass er an Taubheit grenzend schwerhörig ist. Wir organisierten einen Integrations-Schulplatz für ihn. (...) Da Manfred oft nicht da war, wären die Kinder zu kurz gekommen, wenn ich gearbeitet hätte. Das wollte ich unter keinen Umständen. (...)
In der Erziehung war ich ziemlich offen. Freiheit war mir wichtig. Andererseits gab’s schon ein paar Regeln, an die man sich zu halten hatte. Zeit für mich? Ja, was ist das? Vielleicht zu wenig. (…) Politische Themen haben unser Leben bestimmt. Sie haben Manfred und mich noch fester zusammengebracht. Wir haben Hand in Hand gearbeitet, in vielerlei Hinsicht. Es war ja ein relativ kleiner Kreis, der sich in dieser Weise politisch betätigte, nicht nur redete, sondern auch was tat. Viele sind mit sich selbst beschäftigt gewesen. (...)
Aber wir waren darauf nicht vorbereitet, waren fassungslos, als die Mauer fiel. Am 4. November ‘89 sitzen wir im Auto, in der Nähe von Nürnberg, und machen das Radio an. Ich dachte, mir erstarrt das Blut in den Adern, was da auf der riesengroßen Demo auf dem Alexanderplatz gesagt wurde!
Am Abend des 9. November ‘89 war ich allein zu Hause. Manfred war zu einem Vortrag weg. Ein Freund rief an und sagte: Hast du gehört, was der Schabowski gesagt hat? Nee, was hat er denn gesagt? Na ja, ausreisen! Dann kam Manfred nach Hause, wir sahen Die Tagesthemen. Da sagte ich: Jetzt gehen wir los! Vor dem Brandenburger Tor war alles abgesperrt. Menschen strömten uns entgegen. Mit leuchtendem Blick fragte uns ein Junge: Wo bin ich denn hier? Dort ist der Tiergarten und da hinten der Reichstag!, riefen wir. Und eine Telefonzelle gibt es dort! Dann standen wir an der Grenze und die aus dem Osten kamen schon alle rüber. Auf einmal riefen alle auf unserer Seite: Wir wollen rein! Wir wollen rein! Plötzlich löste sich etwas und wir standen im Grenzgebiet. Auf einmal war Herr Momper da. Der Regierende Bürgermeister sprang auf einen Tisch und wollte uns alle wieder nach Hause schicken. Später hörte Manfred von Momper, die Alliierten hätten zu ihm gesagt: Wehe, ein Schuss fällt! Momper sagte zu der aufgebrachten Masse: Geht nach Hause, morgen könnt ihr wiederkommen! Auf diese Worte folgte ein höhnisches Lachen. (...)
Ich bin am nächsten Tag mit meinen Kindern in Richtung Grenze gefahren. Sabine sagte: Hoffentlich treffe ich keinen Lehrer. Und wen treffen wir hinter dem Reichstag? Ihre Geschichts-Leistungskurs-Lehrerin. Die grinste und sagte: Erlebte Geschichte! Gibt es etwas Besseres? Am Morgen, bevor ich mit den Kindern losging, klingelte ich bei meiner Nachbarin. Sie stammt aus Erkner, ist vor dem Mauerbau mit ihren Eltern abgehauen. Ich klingle und sage: Mensch Inge, weißt du, was passiert ist? Sie guckt mich an, als ob ich verrückt geworden wäre. Nee, wieso, was ist denn los? Inge, die Mauer ist gefallen! In dem Moment schießen ihr die Tränen in die Augen. (...)
Ich frage mich manchmal: Wieso kommen Manfred und ich so gut miteinander aus? Klar, man brüllt sich auch mal an, das ist ja normal. Aber woran liegt das? Ist das aus uns heraus, oder hält jemand die schützende Hand über uns? Ich würde immer sagen, wir sind für uns verantwortlich. Das ist meine Einstellung.
Vor zwei Jahren wohnte für zwei Monate ein russisches Mädchen bei uns. Eine Schülerin, sie war siebzehn. Eines Tages kommt sie aus der Schule, ich frage sie: „Warum bist du schon so früh hier?“ „Die anderen sind auch alle nach Hause gegangen“, antwortete sie. (…) „Wenn die anderen aus dem Fenster sprin¬gen, springst du hinterher? Das ist kein Argument für mich! Ich würde gern ein Argument von dir hören.“ Sie sagt: „Es ist ja so warm und wir wollen schwimmen gehen. Das nennt man Schule schwänzen, oder? Wieso?“ „Ja“, sage ich, „meinst du, deine Kunstlehrerin hat sich nicht vorbereitet auf ihren Unterricht? Das finde ich nicht fair. Wenn ihr fair gewesen wärt, hättet ihr hingehen müssen zu eurer Lehrerin und sagen: Haben Sie was dagegen ...?“ „Und was darf ich nun machen?“, fragt sie mich. „Ich weiß das nicht, was du darfst. Das musst du allein entscheiden und verantworten“.
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