„Das war meine letzte politische Aktion“, sagte Inge Rapoport 2015 zu mir am Telefon. Sie war gerade aus Hamburg zurückgekehrt, wo sie im Alter von 102 Jahren ihren Doktortitel erhielt. Ihre Stimme war schwach, erschöpft von den Interviews mit unzähligen deutschen und internationalen Medien. Immer wieder musste sie erzählen, wie sie als Jüdin ihre Doktorarbeit nicht verteidigen konnte, und warum sie 1938 in die USA emigrierte. Wie sie dann in den USA begann, sich politisch zu engagieren und als Ärztin zusammen mit ihrem Mann Mitja Rapoport die damalige Black Power Bewegung für die Bürgerrechte der Afroamerikaner_innen in den USA unterstützte. Und wie dann beide unter dem republikanischen Senator des US-Bundesstaates Wisconsin, Joseph McCarthy, als Kommunist_innen die USA verlassen mussten, weil er zur Jagd auf Linke blies.
(Presse)gespräche im Pankower Bauhaus-Domizil
Inge Rapoport sprach immer von ihrem Wohnzimmer in Berlin-Pankow aus. Diejenigen, die sie dort besuchten, sahen eine kleine gebrechliche Frau mit weißen kurzen Haaren und einem für ihr Alter ungewöhnlich ebenmäßigem Gesicht. Sie saß umringt von schweren Lesegerätschaften, die runden Augen in die Ferne gerichtet. Manchmal durfte Inge Rapoport erzählen, wie sie 1952 in die DDR kam, Professorin für Pädiatrie wurde und die Neonatologie an der Ost-Berliner Charité aufbaute. Sie ergänzte dann, es sei eine „Freude“ gewesen, in einem Gesundheitssystem „für alle“ zu arbeiten. Und hatte sie endlich das Thema auf den Sozialismus gebracht, klang ihre Stimme plötzlich glockenrein: „Er wird ja auch kommen – irgendwann.“
Nicht jeder hatte nach ihrer Meinung zur DDR gefragt. Und die meisten Ungefragten verbuchten solche Aussagen als ostalgisch, überholt oder gar politisch inkorrekt. Nur wenige wussten, Inge Rapoport war wie viele Jüd_innen in der DDR schon vor der Staatsgründung links gewesen und blieb das bis zu ihrem Tod 2017. Wie viele dieser Jüd_innen – fast 5.000, aber die Zahlen sind ungenau, viele gaben ihre religiöse Identität nicht an – war sie der Überzeugung, die DDR sei das bessere Deutschland gewesen. Schlimmer noch: Erst in den 1980er Jahren glaubte Inge Rapoport den Berichten von den sowjetischen „Gulags“. Aber anders als die meisten Jüd_innen in der DDR sprach sie danach offen, ungebrochen und geradezu sorglos über all das: „Man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.“ Inge schreckte auch keine eventuelle Diskreditierung als Verteidigerin des „Unrechtsstaates“ DDR. Bei diesem Satz höre ich noch heute die Empörung in der wohltemperierten Stimme, deren Klang einst einen gefüllten Hörsaal an der Humboldt-Universität in ihren Bann ziehen konnte. Und doch war sie für mich, die in ihrem Pankower Umfeld aufwuchs, eine Mentorin, deren heutzutage oft als ‚unerhört‘ angesehene Bekundungen hochkomplexe Zusammenhänge umfassten, eine Mahnerin an einstige Diskurse und Ideen, aber auch ein Frauenvorbild, in dem Karriere, Familie und große Liebe vereinbar waren.
Karrierestart ohne einen Penny in der Tasche
In ihrem Haus in Pankow, eine bescheidene Hommage an den Bauhaustil, erzählte sie oft, wie sich schon ihr Umfeld als junge Frau um ihre Sorglosigkeit sorgte. Professor Parks vom Johns Hopkins Krankenhaus in Baltimore schrieb an das Krankenhaus in Cincinatti 1944: “I have, however, to mention that she does not have a penny to her name, and what is more: she does not care!” In den USA, in dem Land ihrer ersten Emigration ab 1938, sagte Inge den Chefs der größten Elite-Unis ins Gesicht, dass sie nicht einmal den kleinsten Anteil ihrer Studiengebühren bezahlen könne. Sie bekam Stipendien, verhandelte nie über Gehälter. Ohne einen Pfennig kletterte sie also die amerikanische Karriereleiter hinauf: Womens Medical College, Johns Hopkins Hospital, Childrens Hospital in Cincinnati. Und bis zu ihrem Ende im Bauhausdomizil hatte Status für sie nichts mit Geld zu tun. In der Durchreiche von der Küche wurde auf gelben Sprelacart-Holzplanken der Käsekuchen gereicht. Er war immer frisch aufgebacken und saftig und „aus dem Tiefkühlfach, von Aldi“, wie sie mit Mitja kichernd erklärte.
Einige Besucher_innen dachten wohl, nun gut, sie war ja auch geflohen und hatte wie viele Jüd_innen ihr Hab und Gut verloren. Da verändert sich das Verhältnis zum Geld. Das ist keine leichte Erfahrung. Auf dem Flügel im kleinen Wohnzimmer zeigt jedoch eine Fotografie aus dieser Zeit eine hübsche junge Frau, lockige, seitlich gescheitelte braune Haare, die Hände lässig in den Taschen des Arztkittels.
Inge blickt direkt in die Kamera, hat ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Alles an ihr ist attraktiv, gesund und glücklich. Und das in Zeiten, als die Welt unterging – zumindest ihre jüdische Welt. Zwar wäre auch das erklärbar: Vielleicht waren die Ereignisse in Europa um die Zeit, 1944, zu weit weg. Immerhin war ihre Familie in Sicherheit, ihre Mutter Maria Feibes sogar in den USA.
Aber Inge traf auch andere Immigrant_innen, denen es nicht so gut ging. Den Professor für kriminalistische Psychiatrie, Gustav Aschaffenburg, zum Beispiel, ein Verwandter, dessen spannend erzählte Vorlesungen einst in Deutschland berühmt waren. Sie erinnerte sich, dass er, wie viele andere in seinem Alter, aufgrund der Sprachbarriere im Exil keinen Fuß mehr fassen konnte. Wie ihn die Nachrichten aus Deutschland kaputt machten. Inge jedoch lag mit dessen Töchtern auf dem Teppich seines Hauses und hörte laut Strawinsky-Schallplatten.
Vielleicht war sie einfach hart im Nehmen? Immerhin hatte sie auch nicht mehr die Begegnung mit der Liebe ihres Lebens für möglich gehalten. 1944 hatte sie mit den alten Liebesgeschichten im sich schnell verdunkelnden Deutschland abgeschlossen. Sie, als bürgerliches Kind eines „Kolonialkaufmanns“ im afrikanischen Kamerun geboren, war in Hamburg aufgewachsen, jüdische Mutter, christlicher Vater, aber beide lebten lange getrennt. Sie hatte generell mit dem Gedanken gespielt, nicht zu heiraten. Sie kannte einige Frauen, die damals um ihres Berufes willen ebenso entschieden hatten.
Doch Mitja Rapoport saß in der Kommission für die Neubewerbungen am Krankenhaus in Cincinnati und ließ diejenige kommen, über die es hieß, sie schere sich nicht um Geld. Sie begegneten sich bald auf einer Station des Krankenhauses. Inge Rapoport liebte es, eine Szene zu machen, Glockenläuten oder tärä tröten, wenn sie die Begegnung später beschrieb. Sie heirateten, bekamen vier Kinder innerhalb weniger Jahre. Inge lernte durch Mitja die kommunistische Partei der USA (CPUSA) kennen. Hier endlich verstand sie nun, warum ihr Geld nichts ausmachte. Seit sie 15 Jahre alt war, musste sie mit wenig Geld durchkommen, da der Vater das Vermögen der Mutter verschleudert hatte und die Mutter verließ. Geld wurde zu einem Privileg, das ihr beinah das Medizinstudium unmöglich machte. Sie trat in die CPUSA ein und engagierte sich an Mitjas Seite für eine gerechte Umverteilung finanzieller Mittel und die Gleichberechtigung der Schwarzen.
Jüdischsein, Sorglossein, Kommunistsein - Solidarität mit Ausgegrenzten und Verfolgten
„Ich weiß nicht genau, was es heißt, Jüdin zu sein. Aber ich habe Solidarität mit einem Volk, das verfolgt wird“, sagte sie einmal mit Blick auf den Goldfischteich aus ihrem Wohnzimmer. Ja, sie war sorglos damals in den USA. Sie war jung; das dunkle Deutschland lag hinter ihr, sie blühte auf. Doch ihre Autobiografie „Meine drei Leben“ von 1997 zeigt, dass sie die schweren Zeiten keineswegs vergessen hatte. Sie erinnerte genau, wie sie nicht mehr in die Mensa durfte, wie sie als einzige den Prüfungsbogen mit gelbem Streifen bekam, auch wie die nichtjüdischen Student_innen aus ihrer kleinen Lerngruppe zu ihr hielten. Wer wo stand und was tat, wer überlebte und wer nicht. „Sorglossein“ ging bei ihr mit der Überwindung des einsamen Schmerzes der Diskriminierung einher.
Zu ihrer Zeit in Deutschland bis 1938 wurden Jüd_innen nicht mehr in Krankenhäusern behandelt. Dann, in den USA, durfte sie als Rettungsärztin schwarze Patient_innen nicht in die weißen Krankenhäuser bringen lassen, schreibt sie in der Autobiografie. Sie fand offenbar Heilung im Erkennen des eigenen Schmerzes bei anderen Gruppen – auch wenn die Erfahrungen nicht identisch waren. Und die linke Weltanschauung verlieh dem einfach nur die Theorie: Solidarität.
„Ich bin nicht religiös.“ Keine Mesusa
Aber die letzten zwei Jahrzehnte vor Inges Tod war der Rückblick auf die sechsjährige Phase in Cincinnati von ebensolchen „Freude“-Worten begleitet, wie ihre Erinnerungen an die DDR. Die junge Ehe mit Mitja, die Freunde in Cincinnati, große Wissenschaftler_innen wie Katie Dodd
In Cincinnati waren die Picknicks oder Volkstänze mit den schwarzen Familien und Aktivist_innen gar nicht ernst und traurig, sondern vor allem lustig. In Berlin die Reformen, die sie an der Charité auf den Weg bringen konnte, zutiefst befriedigend: Die Kurve der sichtbar geringeren Säuglingssterblichkeit in der DDR im Vergleich zur BRD fällt ausgerechnet in ihren Wirkungsbereich zwischen 1966 bis Ende der 1970er Jahre als erste europäische Professorin für Neonatologie.
Inge Rapoport etwa Mitte der 1950er Jahre. (© Privat)
Inge Rapoport etwa Mitte der 1950er Jahre. (© Privat)
„Es war ein ungeheuer konstruktives und freudiges Verhältnis.“ Sie selbst war froh, ihre jüdische Identität hinter die der DDR-Bürger_innenschaft zu reihen – ebenso wie sie an die Behandlung von Schwarzen als gleichwertige US-Bürger_innen glaubte. Alles machte irgendwie Sinn.
Geflüchtet vor den Nazis, dann vor McCarthy – Ankommen in Ost-Berlin
Doch in den USA verlor sie auf diesem Wege ihre Sorglosigkeit schon einmal, ließe sich heute sagen. Anfang der 1950er Jahre zog sich um Inge und ihre Familie die politische Schlinge des McCarthyismus. Unter dem amerikanischen Präsidenten Harry Truman wurden linke, kommunistische oder prosowjetische Kreise und Intellektuelle vor die sogenannten McCarthy-Komitees geladen, auf die oft eine Verhaftung folgte. Inge und ihr Mann wurden mehrmals in der Lokalzeitung, dem Cincinnati Enquirer, in ihren politischen Aktivitäten, sogar als Ärzt_innen, diffamiert. Unter anderem hatten beide in ihren Kreisen für die Unterzeichnung des Stockholmer Appells zur Ächtung von Atomwaffen geworben.
Im Sommer 1950 kehrte sie wegen einer solchen Vorladung frühzeitig von einer Israelreise zurück. Ihr Mann kam nicht mit und vernahm bald am Telefon das Codewort eines ihrer Kinder für „Nicht Zurückkommen“. Heimlich organisierte die nun mit dem vierten Kind schwangere Inge die Ausreise zusammen mit den drei kleinen Kindern - über New York nach Zürich und schließlich nach Wien.
„Weltfremd“, schalt sie ihre Mutter, aus deren Sicht die linke Ideologie für all die Bedrängnis sorgte. Und die Schwiegereltern verstanden nicht, warum Inge und ihr Mann nicht nach Israel kamen. Beide hatten auf einer Reise zuvor das Land als mögliche nächste Heimat geprüft. Mitja bekam sogar eine Anstellung am renommierten Weizmann-Institut of Science in Aussicht gestellt. Stattdessen harrten sie in Wien aus. Dann bekam Samuel Rapoport (so lautete der eigentliche Vorname ihres Mannes) das Angebot einer Anstellung an der Universität Wien, die jedoch der amerikanische Geheimdienst CIC
Die DDR war zwar keine sofortige Option, wegen der Deutschen und dem Holocaust und auch als Wissenschaftsstandort. Aber nachdem die Kollegin und enge Freundin Katie Dodd die Familie Rapoport in Wien besuchen kam und nach ihrer Rückkehr in die USA ihren Posten an dem Krankenhaus in Cincinnati verlor, hatten sie genug.
Kosmopolitismus-Prozesse in Moskau, Slanky-Prozess in Prag und Maßnahmen in der DDR
„Hier in der DDR gab es ja viele jüdische Reimmigranten, die nicht nach Westdeutschland gegangen wären, sondern die ganz spezifisch die DDR optimieren wollten.“ Inge Rapoport sprach von „hier“ und „DDR“ zehn Jahre nach der Wende, in dem einzigen Interview, das ich je mit ihr geführt habe – es war zugleich der Anfang unserer eigenständigen, vom Pankower Umfeld unabhängigen Beziehung, das stundenlange Telefonate unter dem Vorwand der Korrekturen für die Veröffentlichung zur Folge hatte.
Mitja Rapoport lebte noch und saß weiter hinten in seinem Arbeitszimmer. Wir redeten im Esszimmer am großen Tisch für die ganze Familie, deren Kinder und Enkelkinder mittlerweile bis in die USA verstreut waren. Und Inge meinte sogar, sehr schnell Fuß gefasst zu haben in der DDR in einer Zeit, die viele als die Hochsaison der antikosmopolitischen Prozesse in der Sowjetunion erinnern und mit dem Slansky-Prozess in der CSSR und ähnlichem Vorgehen in weiteren Staaten im Machtbereich der Sowjets verbinden. Sie wurden als Eingeladene behandelt, konnten schnell arbeiten, gutes Geld verdienen und wurden mit Unterkünften bis hin zu der Bauhaus-Hommage versorgt. Sie kommentierte jedenfalls diese schwierige Zeit für einige Jüd_innen und Nichtjüd_innen in der DDR, die verhaftet oder in „Funktionssperren“ versetzt wurden, damit, dass das alles mit Stalins Tod 1953 vorbei gewesen sei, obwohl einige von ihnen ihre Parteimitgliedschaft und auch ihre Positionen erst 1956 zurückbekamen.
Allerdings … zwei Jahre vor Inges Tod tauchte ein Historiker auf, wie die Tochter Susan Richter heute erzählt. Er hatte einen Brief an die damalige Kontrollkommission der Prozesse gefunden, von den Rapoports geschrieben. Es war eine Mischung aus Selbstanzeige und Verteidigung eines Wiener Freundes, der vor dem Prager Gericht zeitweilig unter Spionageverdacht stand… Hatten sie und Mitja vielleicht doch Angst gehabt, dass es sie treffen könnte? Und warum hat Inge das vergessen? War sie doch etwas verblendet?
Treue zur DDR und einem Gesundheitssystem „für alle“ bis zum Schluss
Die Tochter erinnert sich zudem, wie Anfang der 1970er Jahre die Mutter Inge auf dem Balkon in ihrer neuen Wohnung eine Befestigung für die Fahne zum Geburtstag der DDR suchte. Alle ausweichenden Antworten führten zu weiteren Vorschlägen seitens der Mutter. Bis die Tochter herausplatzte: „Mama, ich will einfach keine DDR-Fahne aufhängen!“ Bestürzung der Mutter. Die Tochter genervt, weil die Mutter so wenig der Schatten des DDR-Systems gewahr sein wollte. Sie war wie viele der Zweiten Generation der Jüd_innen in der DDR kritischer und in Pankow mit oppositionellen Nachbar_innen wie meinen Eltern befreundet. In den Diskussionen konnte Inge zwar akzeptieren, wenn die Tochter kritisierte, dass alle Mitglied in der SED sein müssten, um beispielsweise Karriere zu machen.
Der Titel dieses Flyers bewirbt ein Symposium, dass nach Inge Rapoports Tod 2017 zu ihren Ehren stattgefunden hat. Veranstalterin war die Berliner Charité. Sie wurde als erste Professorin für Neonatologie geehrt.
Der Titel dieses Flyers bewirbt ein Symposium, dass nach Inge Rapoports Tod 2017 zu ihren Ehren stattgefunden hat. Veranstalterin war die Berliner Charité. Sie wurde als erste Professorin für Neonatologie geehrt.
Ja, das fände sie auch nicht gut, und in solchen Fällen setzte sie sich immer persönlich ein. Mitja nahm sogar Menschen, die im Gefängnis saßen, in sein Institut auf. Aber der Tenor blieb doch, dass das DDR-System das Beste für alle wäre, worin die Tochter auch zu hören meinte, man müsse die Menschen eben zu ihrem Glück zwingen.
Das „Hier“, welches sie in meinem Interview nannte, stand nämlich auch für „wir“, für die Nachbar_innen, die zehn Jahre nach der Wende nur noch „SED-Funktionäre“ oder „DDR-Elite“ geschimpft wurden. In ihrer kleinen Straße in Niederschönhausen wohnten jüdische Reimigrant_innen wie Inge, Antifaschist_innen, linke Schriftsteller_innen, sogar der Sohn des langjährigen Staatschefs der DDR, Otto Grotewohl. Es war eine
Und 30 Jahre nach der Wende kann auch die Tochter Susan Richter ihre Kritik an den Eltern nicht ohne relativierenden Nachsatz stehen lassen: „Die heutige Entwicklung zeigt ja auch, für manche Menschen ist so ein System wohl besser.“ Sie sieht nun, was ihre Mutter wohl in der vom Kapitalismus gespaltenen Welt im alten Deutschland sah. Auch heute wächst wieder der Frust der unterbezahlten Arbeitnehmer_innen und Arbeitslosen, die Kluft zwischen Arm und Reich. Damals wurde er auf die Jüd_innen abgelenkt, diesmal sind es die Migrant_innen. Und in der Demokratie der Weimarer Republik liefen die Menschen Hitler hinterher. Wie oft, fragt die Tochter sich wie viele andere mittlerweile, wird die heutige Berliner Republik den Zusammenschluss von der rechtsnationalen AfD mit Freien Demokraten und Christdemokraten wie in Thüringen 2020 noch verhindern können? Eine solche Konstellation, die im März 1933 dem „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, dem so genannten Ermächtigungsgesetz, zustimmte, ebnete Hitler und seiner NSDAP den Weg.
Die andere Seite der Sorglos-Medaille – eigene Entscheidungen reflektieren
„She worries, worries, worries all the time!” Was die Enkel zu Inge Rapoports 100. Geburtstag singen, klingt wie die andere Seite der Sorglos-Medaille. Thüringen 2020 hat sie nicht mehr erlebt. Inge quälte vielmehr der „Rückschritt“ in ein ungerechter werdendes Gesundheitswesen seit der Wiedervereinigung. In ihrer Autobiografie beschreibt sie zudem, wie sie als emeritierte Professorin mit ansah, wie unzähligen ihrer Kolleg_innen aufgrund von Stasi-Verbindungen gekündigt wurde. Mehrere von ihnen bekamen zwar vom Arbeitsgericht die Unzulänglichkeit der Vorwürfe bestätigt, weshalb auch ihre Entlassung hinfällig war. Aber ihre Stelle bekamen sie trotzdem nicht zurück. „McCarthyismus“ entfuhr es Inge immer wieder. Dass die Werke ihres Nachbarn Fritz Cremer im Deutschen Historischen Museum in Berlin „als ‚Schandmale des sozialistischen Realismus‘ verhöhnt wurden“, ließ sie in ihrer Autobiografie schreiben, sie hätte gern den „Urhebern dieser Bilderstürmerei (..) meinen Zorn und meine Verachtung gezeigt“. Zweimal musste sie erleben, wie Menschen aufgrund ihrer Verbindungen zu linksgerichteter Politik aus dem Verkehr gezogen wurden. Und das zweite Mal war wohl die Wiederholung einer traumatischen Erfahrung.
So sorglos sie über die DDR-Zeit redete, so sorgenvoll war für sie die Zeit danach. Die rigide Führungspolitik der DDR, die Staatssicherheit, die Pressezensur, die sozialistische Planwirtschaft, all das, was das Land zum Zusammenbruch brachte, das war für Inge Rapoport das sprichwörtlich wegzuschüttende „Wasser“ aus dem „Bade“. Das „Kind“ jedoch, das hätte drinbleiben sollen, war die sozialistische Idee oder auch die Errungenschaften, beispielsweise ein Gesundheitssystem, das die notwendigen Reformen gegen die Säuglingssterblichkeit viel schneller umsetzte als das ökonomisch ausgerichtete westliche System.
In dem Pankower Domizil begann eine Zeit, in der Inge ihre eigene „Täterschaft“ reflektierte. Wo sie wem in der Charité vielleicht den Weg versperrt oder zu anderer Leute Ungunsten agiert hatte. Sie war wund und neben dem Gefühl, an etwas Wichtigem mitgewirkt zu haben, das nun in Scherben lag, wurde ihr ungewollt ihre jüdische Herkunft wieder bewusst: „Ich hatte mir einstmals geschworen, nie wieder in Deutschland zu leben – und hatte die DDR ausgenommen von diesem Schwur, als eine andere Art Deutschland, als Teil einer großen sozialistischen Völkergemeinschaft. Nun lebe ich wieder im alten Deutschland.“ Am Ende nagte an ihr der Gedanke, ihren Kindern doch keine Heimat gegeben zu haben. Nicht so wie Betty, die Schwägerin, die dem Wunsch der Schwiegereltern entsprechend die Kinder in Israel aufzog. Und so entstand noch einmal die Frage mit dem „hätte“ wegen Israel ….
Als adoptierte ‚Tochter' die in Inge eher eine ‚adoptierte Großmutter‘ sah, wollte ich ein wenig Heilung in ihre Welt bringen. Mittlerweile sah man auf dem Sessel vom Wohnzimmer aus hinter der Gartenmauer eine neue schwarzgraue, quadratische Bauhaus-Hommage herüberragen, postmodern und üppig, ganz anders als Inges raumsparendes, funktionales Modell. Ich berichtete ihr von meinem ersten längeren Radiofeature, „Schalom und Sozialismus – immer bereit!“. Darin ging es um junge Israelis und junge ostdeutsche Menschen wie mich, die wie „Flüchtlinge“ einer sozialistischen Vergangenheit durch die Gegend stolperten, wie ein israelischer Interviewpartner sagte. Immerhin war sie meine Mentorin in diesen Dingen. Bei ihr wusste ich, sie würde den Vergleich, trotz der unterschiedlichen Systeme in der DDR und Israel, verstehen.
Inge Rapoport im Jahr 2005. (© Privat)
Inge Rapoport im Jahr 2005. (© Privat)
Aber selbst ich kannte offenbar ihre speziellen jüdischen „Wir“-Diskurse, ihre Verbundenheit mit der DDR, nicht gut genug: Inge schüttelte entsetzt den Kopf: „Wir haben doch kein anderes Volk besetzt!“
Bis zum Ende unbequem geblieben und den Reichtum verschmäht
Nein, sie wäre besser nicht nach Israel gegangen. Außerdem lebte sie zweimal sorglos, und das zweite Mal sogar fast 40 Jahre lang. Ihre Fähigkeit, ungebrochen und offen Unbequemes auszusprechen, ließ sie nicht nur zu mir eine tiefe Beziehung entwickeln. In ihrem wochenlangen Sterbebett nahm sie Anrufe aus Israel, den USA, England oder sonstwo entgegen. Unter denen, die sich bei ihr meldeten, waren mit ihren 104 Jahren kaum Gleichaltrige. Es waren eher Student_innen, jüngere Freund_innen, Verwandte, Genoss_innen oder „adoptierte Kinder“ wie ich. Sie hat nicht ahnen können, wie viele hundert Menschen zu ihrer Beerdigung in Berlin-Niederschönhausen kamen. Schon am Sterbebett wurde ihr der Zirkus manchmal zu viel. „Jede Träne 10 Cent“, sagte sie. Inge Rapoport wäre Millionärin heute. Der einzige Trost: Sie hätte auch diesen Reichtum verschmäht.
Zitierweise: Charlotte Misselwitz, "„Man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.“ Die Kinderärztin Inge Rapoport: Von Hamburg, über die USA in die DDR", in: Deutschland Archiv, 03.11.2020, Link: www.bpb.de/318155
Hier können Sie Texte aus Ingeborg Rapoports Buch
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