Die Journalistin und Fotografin Sharon Adler hat für das Deutschland Archiv ein Interview mit Lala Süsskind geführt. Beide kennen sich seit vielen Jahren durch zahlreiche Begegnungen im Rahmen ihres Engagements für Frauen, Israel und jüdisches Leben in Berlin. Für dieses Gespräch trafen sie sich im Sommer im Garten von Lala Süsskind in Berlin.
Erinnerungen: DP-Camp in Berlin, die erste Zeit danach - Das Leben nach dem Überleben
Sharon Adler: Lala, Du kamst im Alter von einem Jahr mit deiner Familie nach Berlin.
Lala Süsskind: Wir waren im DP-Camp in Wittenau am Eichborndamm
In dem DP-Camp waren wir bis zur Berlin-Blockade. Erzählungen zufolge sind wir mit einem Kohleflugzeug nach Ulm an der Donau ausgeflogen worden. Als sie überstanden war, sind wir wieder zurückgekommen; die DP Camps in Berlin sind dann auch aufgelöst worden. Nicht so wie Föhrenwald oder andere
Sharon Adler: In den DP-Camps wurden sehr viele Kinder geboren. Was meinst Du, wie wichtig war das für die Überlebenden der Konzentrationslager und für die, die aus dem Exil oder dem Versteck zurückgekommen sind?
Lala Süsskind: Das Motto lautete: "Jetzt erst recht: Wir haben überlebt und fangen ein neues Leben an. Wir, die Überlebenden, schaffen neues jüdisches Leben." Das kannst Du nur durch Kinder. Eine großartige Einstellung! Es betraf alle, ob die Leute nun in Deutschland bleiben wollten oder nicht. Ich finde es viel erstaunlicher, dass Leute im Krieg Kinder bekommen haben. Mein Bruder wurde '44 geboren und ich habe meine Mutter später gefragt: „Wart ihr total bescheuert oder konntet ihr nicht verhüten?“ Meine Mama meinte damals: "Wir haben gehofft, dass das Leben weitergeht".
Sharon Adler: Deine Eltern lda und Joseph Rubin sind in Bialystok und in der Nähe von Warschau geboren. Was weißt Du darüber, wie deine Familie überlebt hat?
Lala Süsskind: Wo und wie meine Eltern überlebt haben, weiß ich nicht genau. Meine Eltern haben nicht darüber gesprochen, und ich fand es damals nicht nötig, zu fragen. Den Namen Hitler habe ich tatsächlich erst in der Schule kennengelernt. Aus den Familien meiner Eltern haben alle überlebt bis auf eine Schwester meines Vaters. Überlebt haben meine Eltern nur, weil sie 1943 und jung verheiratet, ins tiefste Russland gegangen sind.
Sharon Adler: Es gab also auch in eurer Familie ein Schweigen über die Shoah?
Lala Süsskind: Das Jüdische war überhaupt kein Thema für mich damals. Berlin hat mir schon Angst eingejagt, hier war es ja echt schrecklich, trotzdem war es selbstverständlich für mich. Erst als ich so zehn, elf Jahre alt war, habe ich meinen Papa mit der Frage konfrontiert: "Wie kannst Du im Land der Mörder leben?"
Sharon Adler: Die meisten der Shoah-Überlebenden wollten in die USA oder nach Israel auswandern. Nur weg aus Deutschland. Ihr seid in Berlin geblieben. Wie kam das?
Lala Süsskind: Man saß auf gepackten Koffern, meine Eltern wollten nach Argentinien. Später dachte ich mir, wollten die zu den alten Nazis oder was haben sie vermisst? (lacht…) Für mich war das total unverständlich, nach Argentinien auszuwandern. Zwei Brüder meines Vaters und meine Großmutter sind ja in die USA ausgewandert. Die Auswanderung hat schließlich nicht geklappt, weil "diese ungepackten Koffer natürlich viel zu schwer geworden sind", wie mein Papa erzählte.
Nach dem DP-Camp haben wir uns privat die erste Wohnung gesucht. Daran erinnere ich mich noch ganz dunkel. Die fand ich spannend. Das war in Halensee. Zur Untermiete hatten wir ein ganzes Zimmer. Mein Bruder und ich haben uns ein Bett geteilt – ein Himmelbett. Das ist das einzige, was mir in Erinnerung geblieben ist. Ich habe mich gefühlt wie eine Prinzessin. Die nächste Wohnung war an der Kantstraße (in Charlottenburg, Anm. d. Red,) und gehörte einem russischen Ehepaar. Das unten im Haus eine Bar betrieb, die Masurka Bar (oder Mazurka Bar). Die war bekannt in ganz Berlin. Wenn man Geld vom Schwarzmarkt hatte, konnte man da feiern und wenn man keins hatte, hat man trotzdem einen Drink gekriegt. Das waren nichtjüdische Russen, aber da verkehrten und feierten Juden. Das war mir damals gar nicht bewusst. Und das Ehepaar wurde mir als das liebenswürdigste überhaupt beschrieben. Dort wurden auch Geburtstage gefeiert. Mein Bruder und ich natürlich mittenmang. Damals war ich vier, fünf Jahre alt. So bin ich zu Bar-Besuchen gekommen (lacht)!
Sharon Adler: Wie (schwer) war es für die Menschen, beruflich, finanziell, emotional an die Zeit vor der Shoah anzuknüpfen?
Lala Süsskind: Weil viele der Juden der deutschen Sprache nicht mächtig waren, konnten sie nicht als Angestellte oder Arbeiter Geld verdienen. Alle haben versucht, sich selber etwas aufzubauen. Sei es durch den Schwarzmarkt oder später mit etwas Grundkapital, ein kleines Geschäftchen. Sie haben mit nichts angefangen. Ich persönlich kenne bis heute keinen Juden im Angestelltenverhältnis und nur wenige jüdische Beamte. Damals gab es eine große Bereitschaft, etwas zu schaffen, weil es gar nicht anders ging. Sie mussten ihre Familien am Leben erhalten.
Wir hatten damals nicht viel. Ich musste mich als Kind entscheiden, ob ich lieber Tomaten essen wollte oder mit Papa S-Bahn fahren. Ich habe mich natürlich fürs S-Bahn-Fahren entschieden. Tomaten liebte ich zwar heiß und innig, aber Papa liebte ich noch mehr!
Wenn ich das heute meinen Kindern erzähle, gucken die mich mit großen Kinderaugen an, obwohl sie erwachsen sind. Als ich Kind war und wir im Grunewald spazieren gegangen sind, habe ich mir gewünscht, wenn ich mal groß bin, will ich hier in der Gegend wohnen. Hey, heute wohnen wir hier! 43 Jahre sind wir schon hier. Ist das nicht schön? Das Haus hatte übrigens jüdische Vorbesitzer, Fred Jay
Sharon Adler: Das verstehe ich gut. Denn für deine Eltern waren die ersten Jahre waren mit Sicherheit hart. Dein Vater war Konditor, deine Mutter hatte keinen Beruf gelernt.
Lala Süsskind: Ja, genau, sie kamen ja mit nichts, außer uns Kindern und zwei Windeln ... Meine Mama hatte keinen Beruf und ist die beste Köchin in Berlin geworden – für die Familie! Man hat sich durchgekämpft, aber wir hatten immer zu essen. Wenn wir Drei Mark fuffzig in der Tasche hatten, gab es trotzdem keinen Schabbat für uns alleine. Das, was wir hatten, wurde geteilt. Später hatten wir ein Einzelhandelsgeschäft, mit vielen Kompagnons, man hat das Geld zusammengetan. Allmählich ging es weiter. Keiner von denen ist mit dem goldenen Löffel nach oben geboren worden. So wie unsere Kinder und Enkelkinder. Man hat sich über alles gefreut. Die erste Reise, die wir gemacht haben, ging mit einem kleinen VW nach Jugoslawien. Und wir haben noch jemand mitgenommen…
Sharon Adler: Wenn wir uns heute vorstellen, wir müssten weg und alles zurücklassen. Maximal ein Buch könnten wir mitnehmen, keine Erinnerungsstücke wie Familienalben. Wurde darüber gesprochen?
Lala Süsskind: Nein. Man hatte nichts. Aber es wurde darüber nicht gesprochen. Das Leben begann, als man in Berlin angefangen hat, egal wie der Anfang war. Alles andere hat man verdrängt. Dann hat man eben bei Null angefangen. Alles was dazukam, hat man sich hart erarbeitet. Und man konnte sich über jede Sache freuen. Heute leben wir leider in einer Überflussgesellschaft.
Jüdische Kindheit in Deutschland: Schule, Tischtennis und Jüdische Gemeinde
Sharon Adler: Hattest Du als Kind auch nicht-jüdische Freundinnen?
Lala Süsskind: Bei uns Zuhause wurde nur Russisch, Jiddisch und Polnisch gesprochen, Deutsch habe ich erst auf der Straße gelernt. Wir hatten hauptsächlich Kontakt mit Juden. Erst als ich mal in einer Kirche war, merkte ich, dass nicht alle Menschen Juden sind. Ich hatte mit anderen Religionen überhaupt nichts zu tun. Ich habe aber nie eine ablehnende Haltung oder Scheu von Familien meiner Klassenkameraden erfahren, bei denen ich zu Besuch war. Und bei uns zuhause wurde nicht nach Katholiken, Juden etc. entschieden, wer eingeladen wird. Sondern es kamen die, die ich mochte. Das war immer sehr offen.
Ich bin meinen Eltern dankbar, dass sie mich nicht von Anfang an mit der Shoa konfrontiert und beschützt haben. Heute weiß ich, dass die meisten der Bekannten meiner Eltern ihre Kinder schützten. Aber es gab auch Eltern, die ihre Kinder mit Erzählungen traumatisierten. Ich habe selbst ein Mädchen kennengelernt, das von ihrer Mutter heimgesucht wurde mit deren Erzählungen. Sie durfte keine (nichtjüdischen, Anm. d. Red.) Klassenkameraden mit nachhause bringen. Ich habe die Frau angeschrien: "Was machst du mit deiner Tochter? Dann hau doch ab aus Deutschland! Du machst deinem Kind ein schlechtes Gewissen, du solltest eins haben." So etwas verstehe ich überhaupt nicht: seinem Kind ein schlechtes Gewissen machen, weil es in Deutschland lebt.
In der zweiten Klasse hatte ich meinen ersten antisemitischen Zwischenfall. Ein Mädchen aus der Nebenklasse hat mir "Du Sau-Jüdin" hinterhergerufen; ich habe das ignoriert, aber andere haben das gemeldet. Im Jahre '55 war das. Es gab kein Gespräch mit mir. Sie wurde einfach der Schule verwiesen.
Sharon Adler: Berlin hatte damals einen jüdischen Kindergarten, aber noch keine jüdische Schule. Gab es einen regulären jüdischen Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen?
Lala Süsskind: Dadurch, dass zehn von 30 Schülern in meiner Grundschulklasse jüdisch waren, hatten wir natürlich auch jüdischen Religionsunterricht. Das war etwas sehr Schönes und ein großes Glück. Wir gingen ja in die Synagoge, aber dort brachten sie uns noch mehr bei. Das war eine Initiative der Jüdischen Gemeinde. Auch später auf dem Friedrich-Ebert-Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf hatten wir jüdischen Religionsunterricht, weil wir wieder so viele jüdische Kinder in der Klasse waren. Später gab es das nicht mehr. Den jüdischen Religionsunterricht gab es dann im Gemeindehaus in der Fasanenstraße.
Sharon Adler: Was fand statt in der West-Berliner Jüdischen Gemeinde?
Lala Süsskind: Ich war natürlich im Jugendzentrum, das wurde damals von Hanna und Fredy
Und wir sind auch zusammen verreist, auf Machane.
Machane
Machane bezeichnet ein Jugendlager beziehungsweise Ferienfreizeitcamp, das regelmäßig im Jahr für Jungen und Mädchen von den Jüdischen Gemeinden bzw. der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (ZWST) durchgeführt wird.
Da konnte man sich gerade noch leisten. Hat 16 D-Mark gekostet. Diese Jugendlager waren wunderschön. Das waren meine Kontakte zur Gemeinde: die Synagoge und das Jugendzentrum. Und es gab die Feiern, es wurde zum Beispiel Purim gefeiert.
Purim
Purim erinnert an die Rettung des jüdischen Volkes in der persischen Diaspora durch Königin Esther. Es ist ein fröhliches Fest, das mit Spielen und Verkleidungen begangen wird. Außerdem werden traditionell Körbe, mit Speisen und Getränken gefüllt, an Angehörige, Nachbar_innen, Freund-innen oder arme Leute verschenkt. Externer Link: Hier gibt es mehr Informationen >>, zuletzt abgerufen am 22.10.2020
Für mich war es selbstverständlich, dass es die Gemeinde gab. Es war mein Treffpunkt mit jüdischen Freunden. Es gab ja auch die Jugendfreizeitheime, hauptsächlich mit nicht-jüdischen Kindern. Da haben wir immer Tischtennis gespielt. Ich war eine Tischtennisfanatikerin.
Lala Süsskind bei der Kundgebung „Solidarität mit Israel – Stoppt den Terror der Hamas“ am 11.01.2009 auf dem Breitscheidplatz in Berlin. (© Sharon Adler)
Lala Süsskind bei der Kundgebung „Solidarität mit Israel – Stoppt den Terror der Hamas“ am 11.01.2009 auf dem Breitscheidplatz in Berlin. (© Sharon Adler)
Sharon Adler: Hast Du später nochmal Antisemitismus erlebt?
Lala Süsskind: Ich hatte immer das große Glück, dass ich höchst selten an Menschen geraten bin, die Antisemiten oder Rassisten waren. Als wir (Älteren, Anm. der Red.) eine Jugendgruppe der Jüdischen Gemeinde zum Wintersport in die Schweiz begleitet haben, wohnten wir in einer Pension und die Schüler im Schulwohnheim. Als ich aus der Pension kam, kam mir eine alte Frau entgegen, die mich nicht als Jüdin erkannt hatte. Sie sagte so etwas wie: „Finden Sie es nicht furchtbar, dass diese jüdischen Bälger jetzt hier zu uns in die Schweiz kommen?“ Die Frau hatte Glück, dass es einen halben Meter Neuschnee gab: Ich habe sie geschüttelt und in den Schnee geworfen und ihr erklärt „Wissen Sie was, ich bin Jüdin, habe aber keine Lust mit Ihnen darüber zu diskutieren“. Damit habe ich sie liegenlassen.
Umwege zum österreichischen Pass und die Liebe zu Berlin und Israel
Sharon Adler: Du hast bis heute nicht die deutsche Staatsbürger_innenschaft angenommen. Warum nicht?
Lala Süsskind: Meine Eltern haben zwar hier gelebt, wollten aber nie die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen, weil sie sich mit den Deutschen so nicht identifizieren konnten. Obwohl ich die deutsche Staatsbürgerschaft ohne Probleme bekommen hätte, wollte ich meine Eltern nicht beleidigen, indem ich als einzige die deutsche Staatsbürgerschaft annehme. Alle haben mich für verrückt erklärt, aber für mich war das okay – ich war ja nicht geduldet, hatte ja die gleichen Rechte wie alle anderen, durfte nur nicht wählen. Das hat mich zwar ab und zu geärgert, aber ich habe trotzdem mitgemischt und allen immer gute Ratschläge gegeben, wen man wählen könnte. Ich habe immer rumposaunt, ich würde mal einen Schweizer heiraten, das ist doch ein toller Pass!
Gefunden habe ich einen Österreicher, nämlich meinen Mann. Der ist ja genauso "Österreicher" wie ich, er ist ja in Polen geboren. Er ist damals '49 aus Polen raus nach Wien, und seine Mama hat es geschafft, mit legalen österreichischen Papieren, wo auch immer sie sie herhatte, nach Österreich zu kommen. Dann haben wir geheiratet und ich habe nur gesagt, bevor ich gar nüscht habe, bin ich eben Österreicherin (lacht). So einfach. Meine Kinder sind demzufolge auch Österreicher! Heute bin ich froh, in Berlin [geblieben] zu sein. Ich werde nie sagen: "Ich liebe Deutschland". Aber immer: "Ich liebe Berlin".
Gleichzeitig habe ich angefangen, Israel zu lieben. Das erste Mal, als ich im Jahr '59 in Israel war, fand ich es nur in Ordnung. Ich bin mit meinen Eltern hingefahren. Wir sind mit dem Schiff gereist, weil es die preiswerteste Fahrt war, und wir sind in Haifa gelandet. Da sah alles noch sehr desolat aus. Da hatte ich meinen ersten Schock weg, denn ich hatte ganz andere Vorstellungen. Ich hatte zwar Fotos gesehen, hatte mir aber schöne Strandpromenaden und so etwas ausgemalt. Und das sollte nun das gelobte Land sein? Wir haben bei Verwandten gewohnt, in Shikun Vatikim in der Nähe von Netanya, das waren bessere Hütten. Am zweiten, dritten und vierten Tag habe ich aber gemerkt, dass es eigentlich toll ist: Da waren die Bauarbeiter jüdisch, selbst auf dem Feld war man jüdisch, überall war man jüdisch. Da wurde ich ganz allmählich warm mit dem Land. Ich dachte mir, das ist ja irre, was die hier in den paar Jahren, in denen das Land existiert, alles schon gemacht haben.
Das nächste Mal bin ich erst wieder 1966 hin. Nach dem Abitur, als ich mich gefragt habe, ob das hier mein Ding ist. In Israel habe ich erkannt, wie sehr ich Berlin liebe. Meine Eltern hatten mir erlaubt in Israel zu studieren, aber ich habe meine Familie, meine Freunde und meine Feinde hier zurückgelassen. Ich bin als große Zionistin für ein halbes Jahr ins Kibbuz gegangen. Das war wunderbar, obwohl ich mir darunter Anderes gedacht hatte. Ich habe aber gelernt, Israel zu lieben. Seitdem habe ich einen Teil meines Herzens dort gelassen und immer versucht Israel zu unterstützen.
Als Studierende in Berlin, die 68er-Bewegung und deren Hinwendung zur PLO
Sharon Adler: Wie hast Du die 68er-Jahre in Deutschland erlebt? Gab es einen Austausch zwischen jüdischen und nichtjüdischen Student_innen? Und wie hast Du die „Liebe“ in West und Ost zur PLO wahrgenommen?
Lala Süsskind: Ich habe zu der Zeit studiert, und in den 68er Jahren waren wir in der jüdischen Studentengruppe und haben demonstriert, wie es sich gehörte. Da waren wir richtig mit dabei. Was mich ärgerte, waren diese Friedensbewegten, die dann auch gegen Amerika vorgingen. Dafür hatte ich kein Verständnis. Ich meine: „Schaut doch einfach, was bei euch im Land passiert, was kümmert ihr euch um andere Länder.“ Was mich heute genauso ärgert, ist zwar eigentlich kein Vergleich, aber: Hey ihr Deutschen, kümmert euch doch um euer Land und kümmert euch nicht um Israel. Das Engstirnige, wenn Menschen nur in eine Richtung denken, das hat mich schon damals aufgeregt. Nur heute sind es andere Themen.
Sharon Adler: Wie hast Du die Ohrfeige von Beate Klarsfeld – sie selbst ist ja keine Jüdin –, für Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger wegen seiner früheren NSDAP-Mitgliedschaft wahrgenommen?
Lala Süsskind: Ich fand die Reaktion dieser Frau großartig. Es ist unglaublich, was Beate Klarsfeld getan hat und wie sie sich danach engagiert hat. Es wurde hier viel darüber gesprochen, aber nie negativ. Aber an eingehende Diskussionen kann mich nicht erinnern.
Die Ämter: Vorsitzende und Präsidentin der WIZO in Deutschland. Austausch der Frauenbewegung(en) in West und Ost. Die Zeit als Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin
Lala Süsskind war seit 1986 die Vorsitzende WIZO-Gruppe Berlin und von 1991 bis 2003 Präsidentin der WIZO Deutschland. WIZO steht für Women’s International Zionist Organisation.
Women’s International Zionist Organisation (WIZO)
Die am 11. Juli 1920 in London ins Leben gerufene WIZO hatte sich zuvor 1907 in Deutschland nach dem Zionistischen Kongress in Den Haag unter dem Namen “Jüdischer Frauenverein für kulturelle Arbeit in Palästina” zusammengeschlossen, um die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der jüdischen Frauen in Palästina zu verbessern. Die erste Präsidentin der WIZO Deutschland war Jenny Blumenfeld (1889-1962). Recha Freier (1892-1984), die frühere Präsidentin von WIZO Bulgarien und Mitglied der WIZO-Exekutive, erkannte gleich zu Beginn der NS-Zeit die drohende Gefahr für die Jüd_innen in Deutschland und entwickelte trotz immenser Schwierigkeiten ein “Jugend Alliah-Programm”. Damit gelang es ihr, tausende jüdischer Kinder aus Deutschland herauszubringen und sie vor dem sicheren Tod durch die Nationalsozialisten zu bewahren. 1935 übernahm Henrietta Szold (1860-1945) ihre Arbeit und setzte diese fort, so lange es möglich war.
1946 gründeten sich in Deutschland wieder erste WIZO-Gruppen in den Lagern für “Displaced Persons” - die Überlebenden des Holocaust. Schon im ersten Jahr gab es etwa 3.000 Mitglieder in 30 verschiedenen Lagern. Die Arbeit der WIZO konzentrierte sich hier zuerst auf die Organisation von Kindergärten und Sozialstationen, die sich um schwangere Frauen und stillende Mütter kümmerten. Später wurden verschiedene Aktivitäten wie Nähen und Stricken sowie Kurse in Hebräisch und Englisch angeboten. 1947 wurde die erste WIZO-Gruppe außerhalb eines DP-Lagers in Hamburg mit Hilfe der Mutterföderation WIZO England gegründet. In den folgenden Jahren bildeten sich weitere Gruppen in Berlin, Frankfurt und München. 1949 zog die WIZO Zentrale von England nach Israel um. Derzeit gibt es in Deutschland neun WIZO Gruppen. Die WIZO als international tätige, karitative Frauenorganisation ist heute mit Verbänden in 50 Ländern, 800 Institutionen und rund 250.000 Mitgliedern eine der größten internationalen Frauenorganisationen weltweit.
Die 1920 in London ins Leben gerufene zionistische karitative Frauenorganisation ist heute eine der größten internationalen Frauenorganisationen weltweit. Auf der Website der WIZO findet sich folgendes Zitat von Lala Süsskind: "Israel ohne die WIZO – kaum vorstellbar!"
Sharon Adler: Was wolltest in deiner Arbeit für die WIZO bewirken, z.B. auch beim Ost-West-Austausch?
Lala Süsskind: Da ich ja schon vor dem Mauerfall Vorsitzende war und mit meinem österreichischen Ausweis nach Ost-Berlin konnte, habe ich dort natürlich Kontakte zur jüdischen Frauenbewegung gesucht. Irene Runge
Sharon Adler: Was waren eure Themen?
Lala Süsskind: Politik stand nicht im Mittelpunkt unserer Arbeit. Schon gar nicht vor dem Mauerfall. Unser Thema war Israel. Es ging darum: „Was können wir gemeinsam für Israel tun.“ Die Frauen aus Ost-Berlin waren begeistert, dass Frauen in Israel so viel auf die Beine stellen. Und wir waren stolz darauf, dass wir als kleines Grüppchen dazu etwas beitragen konnten. Wir waren gleichwertig! Das war etwas ganz Tolles, dass uns das damals gelungen ist.
Wir hatten auch noch die WIZO-Basare, die waren berlinweit bekannt. Die Frauen aus Ost-Berlin sind Mitglieder bei uns geworden, weil man was tun konnte, nicht mit Geld, sondern mit Arbeit. Es war egal, ob du Geld gegeben oder gearbeitet hast. Ost und West haben für den gleichen Zweck gearbeitet und haben es mit Liebe getan. Die WIZO-Gruppe hat an etlichen Kindergärten und einem Frauenhaus in Israel mitgewirkt: Unser erstes Projekt war das Theodor-Heuss-Müttergenesungsheim. Es wurde an Heuss’ Geburtstag in Israel eingeweiht. Die WIZO-Weltvizepräsidentin hatte es durchgesetzt, dass ein öffentliches Gebäude nach einem deutschen Politiker [Bundespräsidenten] benannt wurde. Dafür hatte sie lange gekämpft. Heute ist es ein Familientherapiezentrum. Eine wunderbare Einrichtung. Außerdem sind auch Jugendclubs und Jugendheime entstanden. Zwölf oder 13 Projekte haben wir realisiert.
Durch unsere Basare konnten wir auch nicht-jüdische Menschen für Israel begeistern. Wenn wir zusammen in Israel waren, haben wir dort auch immer Politiker besucht – Land und Leute kennengelernt. Eine Nicht-Jüdin, die eine WIZO-Reise mitmachte, sagte plötzlich, als wir am Golan waren und in das wunderschöne Tal schauten: „Das geben wir nie wieder her“. Ich habe sie nur angesehen und gefragt: „Weißt du überhaupt was du gesagt hast?“ Und sie wiederholte es. Solche nicht-jüdischen Menschen wurden zu den besten Botschaftern für Israel. Das ist etwas, was uns stolz gemacht hat, die Menschen für Israel zu interessieren, die später auch ohne uns nach Israel gereist sind. Wir haben gemeinschaftlich tolle Sachen geleistet.
Die Zeit als Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin
Die größte Jüdische Gemeinde Deutschlands wurde von 2008 bis 2012 zum ersten Mal von einer Frau geführt. Lala Süsskind wurde von den Mitgliedern der neuen Repräsentantenversammlung (RV) am 30. Januar 2008 ohne Gegenstimme gewählt, nachdem die damals 61-Jährige bei den Wahlen zur RV im November 2007 mit ihrem Bündnis "Atid" (hebräisch: Zukunft) 13 von 21 Sitzen gewinnen konnte. Vor ihr war nur Charlotte Knobloch Vorsitzende einer Jüdischen Gemeinde in Deutschland, seit 1982 leitete sie in München und Oberbayern die Israelitische Kultusgemeinde.