Es gibt viele verschiedene Ansätze, sich dem Gedächtnis der früheren DDR geschichtswissenschaftlich zu nähern und ebenso viele nutzbare Quellen – von den Verwaltungsarchiven bis zu mündlichen Erfahrungsberichten oder alten Presseartikeln. Der Weg, den ich gewählt habe, ist recht spezifisch und wird aus dem untersuchten Terrain selbst heraus möglich: durch lange Spaziergänge und verschiedene Besuche in den ostdeutschen Regionen, vor allem zwischen 2006 und 2012.
Aus diesen zunächst aus allgemeiner Neugier absolvierten Touren wurde schließlich ein sozialwissenschaftliches Forschungsprojekt (2012-2020). Nach und nach hat mich die präsente Abwesenheit der Vergangenheit der DDR auf dem Territorium des früheren Staates gepackt. Diese Präsenz wird spürbar in der materiellen Existenz bestimmter Dinge, die heute noch da sind und entweder eine bestimmte Funktion erfüllen – wie die Plattenbauten – oder inzwischen deaktiviert wurden – wie etwa Inschriften auf Mauern, die heute keinen Zweck mehr erfüllen, oder aber die vielen halb vergessenen, für den DDR-Sozialismus typischen Standbilder in der Öffentlichkeit. Ihre Abwesenheit markiert auch den Raum, der in gewisser Weise weiterhin – oder eben doch nicht mehr – von diesen Spuren eingenommen wird, sind doch einige von ihnen, wie etwa Gedenkinschriften, Skulpturen und öffentliche Kunstwerke, vollständig verschwunden. Auch das nach wie vor Vorhandene erregt die Aufmerksamkeit, da es häufig schlecht gepflegt ist, in einer veränderten Landschaft deplatziert wirkt und die lokalen Verantwortlichen nicht im Geringsten zu interessieren scheint. Die präsente Abwesenheit stellt sich durch die zahlreichen Gebäude und Grundstücke dar, die in der DDR-Zeit ihrem Zweck dienten und manchmal durch sie errichtet wurden, aber heute verlassen, um nicht zu sagen ganz und gar oder teilweise verfallen sind.
Die Basis meiner Untersuchung sind die Spuren der DDR in dieser ganzen Zweideutigkeit sowie die mit ihnen verbundenen Fragen. Diese Spuren waren zunächst das, was noch übrig geblieben ist, ein Rest oder Relikt, das aber andererseits auch verschwunden ist, obschon es den zuvor eingenommenen Raum erkennbar leer hinterlässt und somit auch eine Erinnerung, eine Art Abdruck, der seine Abwesenheit bezeugt – wie der Umriss einer Gedenktafel auf einer Mauer und die Löcher, die einst zu ihrer Befestigung dienten. Zunächst möchte ich darlegen, wie ich diese Spuren der DDR definiert und eingeordnet habe, um im Folgenden einen eigenen Ansatz der Urban Exploration darzulegen und das Vorgehen bei dieser Untersuchung im Einzelnen zu beschreiben.
Die Spuren
Meine Untersuchung beginnt mit dem Blick, wobei ich allerdings betonen muss, dass dieser nur den Ausgangspunkt bildet, in eindeutiger Abgrenzung vom gewählten Weg und meiner Methode. Dieser Ausgangspunkt bestand in den sichtbaren Spuren mit schmückender oder technischer Funktion, die draußen, im öffentlichen Raum zu finden sind, aber auch dort, wo sie normalerweise verborgen bleiben.
Die Spuren der DDR, um die es hier geht, befreien uns von der Notwendigkeit, den Zugang zur Vergangenheit über Fragmente zu finden. Angesichts der hervorragenden Datenlage und der Bedeutung
lebender Zeitzeugen hat das Konzept der Fragmente hier nahezu nur sekundäre Bedeutung. Im Zusammenhang mit Ostdeutschland möchte ich daher die Spur im Sinne einer Hinterlassenschaft verstehen, welche die Akteure der Vergangenheit – und der Gegenwart – aufgrund ihrer Bedeutungslosigkeit, ihres geringen materiellen und gesellschaftlichen Werts achtlos zurückgelassen haben. So wird die Hinterlassenschaft allerdings auch zu einem Anstoß, über das nachzudenken, was aufgegeben wurde. Dieser Vorgang des Aufgebens wird nirgendwo so deutlich wie in den zahllosen verlassenen Bauten auf dem Gebiet der früheren DDR. In diesen alten Fabriken,
Tischset aus DDR-Zeit in dem Görlitzer Restaurant "Gastmahl des Meeres". Das heutige Restaurant gehörte zu dieser DDR-Kette und trägt weiterhin diesen Namen, Juli 2020. (© Nicolas Offenstadt)
Tischset aus DDR-Zeit in dem Görlitzer Restaurant "Gastmahl des Meeres". Das heutige Restaurant gehörte zu dieser DDR-Kette und trägt weiterhin diesen Namen, Juli 2020. (© Nicolas Offenstadt)
Werkstätten oder Kulturzentren können wir all die Objekte finden, die Einfluss auf die Geschichte des Landes hatten: Industrieerzeugnisse, alltägliche Konsumgüter, Poster, Schilder und Zeichen, aber auch kleine persönliche Besitztümer, die jemand liegengelassen oder vergessen hat. Ich werde im folgenden Teil noch darauf zurückkommen.
Die Spuren sind auch als Ausdruck der Beständigkeit jener Dinge zu verstehen, die auch dann fortbestehen, wenn die gesamte Umgebung auf den Kopf gestellt wird. Viele Spuren dieser Art sind in der Zeit seit 1990 verschwunden, andere hingegen sind noch da und uns zugänglich. Die beständige Spur bildet im Verbund mit den Menschen, die sie nutzen oder frequentieren, eine Art Kollektiv – das gilt insbesondere für jene Ostdeutschen, die diese Spuren erhalten, schätzen oder erwähnen. Die Beständigkeit der Spuren äußert sich auch dadurch, dass diese an privaten oder öffentlichen Orten – etwa in Restaurants, Bars, Geschäften – neu und anders in Szene gesetzt werden: Die DDR-Souvenirs tragen dann auf einmal ein Geschäftsmodell, dienen zur Dekoration oder bilden eine mehr oder weniger umfangreiche Erinnerungsecke, die ein bestimmtes Maß an allgemeiner Aufmerksamkeit erregt. Die Betreiberinnen und Betreiber solcher Orte nennen unterschiedliche Motive: Manche verteidigen unterschiedlich stark das Regime, andere interessieren sich für die Epoche und ihr Design, wie es etwa in dem kleinen Museum in Wernigerode der Fall ist. Es kann auch um die einfache Darstellung einer Biografie gehen oder darum, sich abweichend vom Mainstream zu äußern. Solche Spuren zeigen ihre Beständigkeit auch in privaten DDR-Museen, also außerhalb der professionellen nationalen oder regionalen Museumsarbeit. In solchen Ausstellungen äußert sich vor allem der Akkumulationswille der Betreiber und ihr Interesse am Vorführen der Objekte. Es handelt sich um eine Art Erinnerungsproduktion, bei der es darum geht, die Spuren zu konservieren, und nicht etwa um die Konstruktion eines ausgefeilten museografischen Diskurses. Es gibt auf dem gesamten früheren DDR-Territorium etliche Museen dieser Art – mindestens 30 von ihnen widmen sich der DDR im Allgemeinen.
Blick in eine Hausbar im DDR-Museum in Gotha, Dezember 2013. (© Nicolas Offenstadt)
Blick in eine Hausbar im DDR-Museum in Gotha, Dezember 2013. (© Nicolas Offenstadt)
Auch frühere Funktionsträger der SED und nach wie vor überzeugte Kommunisten setzen sich für die Wiederbelebung politischer Spuren der Existenz ihrer kleinen untergegangenen Republik ein. Sie organisieren Zeremonien und holen dafür die Büsten und Flaggen von früher wieder hervor, um sich dann an die NVA oder die DDR als Ganzes zu erinnern.
In diesem Zusammenhang kann jedes Stück Trödelware die verschiedensten Bedeutungen erhalten. In dem gesamten erwähnten Zeitraum habe ich mir sehr unterschiedliche Trödelläden angeschaut, vom typischen Souvenirgeschäft für Touristen bis zum kleinsten Flohmarkthändler auf dem Dorf. Es ist immer wieder beeindruckend, die gewaltigen Lager mit DDR-Produkten an solchen Orten zu sehen, und das gilt durchaus nicht nur für spezialisierte Händlerinnen und Händler. Gewissermaßen kann man an solchen Orten die ganze alte DDR wiederfinden. Manche Menschen möchten nur ihre persönlichen Gegenstände loswerden, während die professionelleren Akteure hier und da einen ganzen Schwung scheinbar nutzloser Ware aufgekauft haben. Über die geschäftliche Seite der Preisverhandlung des Verkaufs hinaus bietet sich bei diesen Begegnungen die Gelegenheit eines allgemeineren Austauschs, bei dem die Beteiligten einander mitteilen, was sie über das Objekt wissen – der Verkäufer oder die Verkäuferin fängt also an, über die DDR-Vergangenheit der Ware zu erzählen, ja sogar eine Art Kontinuität herzustellen.
Es ist wichtig, die Spuren in zeitliche Abläufe einzuordnen und ihnen ihre Kontinuität zurückzugeben, indem man die Biografien der Objekte sowie den von ihnen zurückgelegten Weg durch den Raum analysiert.
Urban Exploration
Wenn man durch die ostdeutschen Städte spaziert, fällt der Blick schon bald auf die Hinterlassenschaften, Brachflächen und leerstehenden Gebäude. Je nachdem, wo man sich gerade befindet, ist ein Ort dann mehr oder weniger durchsetzt von den Spuren einer anderen Zeit,
Und so kam es, dass ich ab 2012 immer intensiver und systematischer die Urban Exploration des Gebiets der früheren DDR betrieb. Diese Praxis – häufig bezeichnet durch die Abkürzung Urbex – besteht darin, dass man verbotene, verlassene oder marginalisierte Orte illegal oder zumindest ohne Erlaubnis besucht
Rote Winkelemente im Keller eines ehemaligen Gebäudes der VEB Bau- und Montagekombinat Erfurt, Zella-Mehlis (Thüringen), Juli 2020. (© Nicolas Offenstadt)
Rote Winkelemente im Keller eines ehemaligen Gebäudes der VEB Bau- und Montagekombinat Erfurt, Zella-Mehlis (Thüringen), Juli 2020. (© Nicolas Offenstadt)
und dort herumläuft.
Das geografisch-historische Interesse brachte mich nach kurzer Zeit an verschiedenste Orte, die in ihrer Vielfalt unterschiedlichste Fragen aufwerfen: Fabriken, Bürogebäude, Werkstätten, Veranstaltungsorte, Kultureinrichtungen, sowjetische und NVA-Kasernen, Wohngebäude und vieles mehr. Ich hatte von Anfang an das Anliegen, der Urban Exploration über Ästhetik, Freizeitwert und Gedächtnis hinaus noch etwas anderes abzugewinnen. Es ist eine Praxis, die aus meiner Sicht nur in einem historischen, geografischen und gesellschaftlichen Kontext Sinn ergibt. Daher ist es ein Fehler, die dokumentarische und Archivarbeit als Gegensatz zur Praxis der Urbex darzustellen. Die Geschichte der Orte lässt sich nur beleuchten, indem wir Quellenarbeit betreiben. Es gibt auch Urbexer, die das versuchen – tatsächlich ist von Praktikern wie den Gründerinnen und Gründern der
Der Besitzer des Gothaer DDR-Museums (Thüringen) zeigt eine Dose Vollkorn-Brot, Dezember 2013. (© Nicolas Offenstadt)
Der Besitzer des Gothaer DDR-Museums (Thüringen) zeigt eine Dose Vollkorn-Brot, Dezember 2013. (© Nicolas Offenstadt)
kleinen DDR-Museen als Begründung für ihr Tun unter anderem zu hören, es gehe ums Bewahren und Kennen, wobei je nach Zusammenhang die Begriffe „Erinnerung“, „kulturelles Erbe“ oder „Wissen“ fallen. Wir haben es hier mit einer Ausprägung der „Geschichte von unten“ (heritage from below) zu tun – das ist an den Aneignungspraktiken und der Geschichtsarbeit der nichtprofessionellen Akteure erkennbar, die ihrem lokalen Handeln häufig die Form eines Aufbegehrens gegen „die da oben“ geben.
Inzwischen habe ich auf dem gesamten Gebiet der früheren DDR rund 300 dieser Orte von innen gesehen und Tausende von außen. Zu den ostdeutschen Besonderheiten zählt die Entwertung und Aufgabe all dieser Orte, und zwar auf dem gesamten Territorium, da diese mit einer sozialistischen Vergangenheit assoziiert werden, die verschwinden sollte. In anderen Ländern beschränkt sich diese Art des Verlassenseins häufig auf eine bestimmte Region oder ein Industriegebiet, und der Aspekt eines politischen Auflösungsprozesses fehlt. Außerdem findet man an diesen Orten häufig unzählige Spuren, die, wie erwähnt, leicht zu hinterlassen waren. Im Falle der DDR handelt es sich vor allem um architektonische Spuren (funktionale Spuren), die häufig älter als die DDR sind, doch auch um all jene Bauten der „Ostmoderne“ und die Kunstwerke an und in diesen Gebäuden (Gemälde, Mosaiken usw.).
Sie in den Blick zu nehmen, ermöglicht zwar nicht ihren Erhalt, aber immerhin die Sicherung von Spuren und das Hinterfragen ihres Schicksals. In diesen Gebäuden sind außerdem Tausende Objekte aus der DDR-Zeit zu finden, die industriellen, persönlichen oder gemischten Zwecken dienten. So konnte ich in ehemals Volkseigenen Betrieben (VEBen) in Plauen und Görlitz, in einer früheren Schule in Frankfurt an der Oder und an anderen Orten Terminkalender finden, aus denen der Tagesablauf und die Aktivitäten des Eigentümers hervorgehen. Zweifellos kümmert man sich auch andernorts schon um den Erhalt vergleichbarer Fundstücke – man findet sie in Archiven, in Alltagsmuseen wie jenem von Eisenhüttenstadt und – ohne lange zu suchen – auf eBay oder Liebhaber-Flohmärkten.
Warum sollten sich die Sozialwissenschaften also dafür interessieren? Es geht hier vor allem um den Ansatz: Wenn die Urbex sich den Objekten widmet, kann sie den „Lebenslauf“, ihre „Objektbiographie“ einem Ort zuordnen, in eine Reihe stellen, mit einer Verwendung verknüpfen, in einen historischen Zusammenhang einbetten. Andererseits kann die Urbex uns auch zu einer Darstellung der materiellen Kultur verhelfen, die sich auf einzigartige Objektkombinationen und die Besonderheiten jedes einzelnen Ortes stützt, welche nicht unbedingt in anderen Quellen dokumentiert sind.
Wer mit solchen Orten nicht vertraut ist, wird wahrscheinlich staunen, dass sogar ganze Archive eines Unternehmens oder einer Institution, mitunter in Kartons verpackt, in völlig ungeschützten, nach allen Seiten offenen Gebäuden herumliegen. Natürlich sind solche Funde nicht immer besonders bedeutend. Man könnte argumentieren, die Dokumente anderer Kultureinrichtungen oder Unternehmen seien ja bereits in Gemeinde- oder Landesarchiven verfügbar. Ungeachtet dessen handelt es sich jedoch um bisher unentdeckte Rohdokumente – Krankenakten, Personalakten oder Aufzeichnungen der Betriebsparteiorganisation, die von den Schicksalen vieler Menschen erzählen.
Es war Teil meines Ansatzes, dass ich niemals vorab versucht habe, die Eigentümer eines Ortes, frühere Angestellte oder Arbeiter zu treffen, denn dann wäre es keine wirkliche Urbex mehr gewesen, sondern ein geführter Besuch, und zwar im doppelten Sinne: geführt durch eine Person und durch die Konfrontation mit einer bestimmten Erzählung. Allerdings habe ich versucht, möglichst viele spontane Gespräche und Interviews mit Menschen zu führen, die ich vor Ort angetroffen habe: Eigentümer, Wachpersonal oder Hausmeister, die mich überraschten, Obdachlose oder Jugendbanden, Menschen, die sich aus ihrem Fenster lehnten, Nachbarn. So kam ich an den größten Teil der von mir verwendeten Darstellungen, da auf diese Weise die Orte und Objekte in der Situation kommentiert wurden.
So explorierte ich kürzlich in Seiffen im Erzgebirge die Ruine einer Spielwarenfabrik (Teil des Kombinats Holzspielwaren VERO), wobei mir die Tochter des ehemaligen Eigentümers begegnete, die direkt gegenüber in ihrem Garten arbeitete. Es kam zu einem kurzen Gespräch, in dessen Verlauf sie mich aufforderte, mich direkt vor der Fabrik mit ihr hinzusetzen. Es war eine sehr aufschlussreiche Unterhaltung. In Görlitz erwischte mich der junge Eigentümer eines Anbaus des Leontinenhofs, der in der DDR-Zeit ein Kinderheim beherbergt hatte. Nachdem er sein anfängliches Misstrauen überwunden hatte, führte er mich selbst durch jenes Haus voller Spuren seiner früheren Eigentümer, die alle aus der DDR stammten. Wir sprachen über das untergegangene Land und die Entwicklung dieses Ortes. Meine Recherchen ergänzte ich dann durch Interviews. In meinem Buch Le pays disparu nehme ich eine Akte, die jemand in einer Fabrik hinterlassen hatte, oder
Spur eines HO-Ladens für Indstriewaren, Zella-Mehlis (Thüringen), Juli 2020 (© Nicolas Offenstadt)
Spur eines HO-Ladens für Indstriewaren, Zella-Mehlis (Thüringen), Juli 2020 (© Nicolas Offenstadt)
eine Inschrift an einem Schaufenster als Ausgangspunkt, und ich konnte die handelnden Personen dieser Geschichte treffen, sodass ich in der Lage war, die Erzählung des Ortes und der Zeitzeugen gleichermaßen zu berücksichtigen.
An dieser Stelle wird auch deutlich, dass die Urbex die Geografie, Geschichtsschreibung, Anthropologie und Soziologie der Objekte immer wieder mit neuen Herausforderungen konfrontieren wird.
Über Spuren sprechen – eine Annäherung
Mein Ausgangspunkt war also, die heutige Stadtlandschaft daraufhin zu untersuchen, wie sie vor 1990 aussah und wie das Regime sie in der Stadtplanung, in Reiseführern und mithilfe von Denkmälern darstellte. Ich habe Dutzende ostdeutsche Städte durchwandert, um mir das Zusammenspiel dieser Spuren an offenen und verschlossenen Orten anzusehen. Bei diesen Wanderungen ergab sich oft die Gelegenheit, mit Bewohnerinnen und Bewohnern zu sprechen, die sich dann darüber wunderten, dass jemand mit DDR-Dokumenten in der Hand spazieren ging, mich aber auch über schwer auffindbare Orte informierten. Sehr aufschlussreich war es für mich auch, als Beobachter an verschiedenen DDR-Gedenkzeremonien
Eine Festveranstaltung für den 66. Jahrestag der DDR in Bochum (Nordrhein-Westfalen), 17 Oktober 2015. (© Nicolas Offenstadt)
Eine Festveranstaltung für den 66. Jahrestag der DDR in Bochum (Nordrhein-Westfalen), 17 Oktober 2015. (© Nicolas Offenstadt)
teilzunehmen.
Letztendlich habe ich ein „liegendes“ Land durchquert: Die DDR ist häufig auf Flohmarkttischen ausgebreitet, auf dem Boden eines alten Hangars oder einer verlassenen Fabrik, im Museum. Meine Recherchen haben es mir ermöglicht, die Dialektik der Auslöschung, des Widerstands und der Neuerfindung der DDR-Spuren zu beschreiben.
Der Ikonoklasmus und die Auslöschung der Spuren haben seit 1990 nicht nur die Geschichte der DDR mit sich gerissen, sondern auch jene Vergangenheit, die dieser Staat zu seiner Meistererzählung gemacht hatte. Das wird besonders deutlich in der Erinnerung an die Kämpfe zwischen 1918 und 1920 sowie an die vielen Widerstandskämpfer und Antifaschisten, die ermordet wurden, lange bevor an eine DDR – und ihre Untaten – überhaupt zu denken war. Ihre Denkmäler werden abgebaut oder verschwinden im Vergessen; Straßen und Orte, die ihren Namen tragen, werden umbenannt.
So wurde im thüringischen Zella-Mehlis aus der Straße der Antifaschisten die Meininger Straße, und die Gedenktafeln, die einst am Hotel „Stadt Wien“
In der DDR-Zeit waren zwei Gedenktafeln am Hotel "Stadt Wien" in Zella-Mehlis angebracht, die an die Revolution von 1918 und einen Besuch Ernst Thälmanns erinnerten. Beide sind entfernt worden, Juli 2020. (© Nicolas Offenstadt)
In der DDR-Zeit waren zwei Gedenktafeln am Hotel "Stadt Wien" in Zella-Mehlis angebracht, die an die Revolution von 1918 und einen Besuch Ernst Thälmanns erinnerten. Beide sind entfernt worden, Juli 2020. (© Nicolas Offenstadt)
an die „roten“ Ereignisse von 1918 und 1927 erinnerten, sind ganz und gar verschwunden. Die DDR zu vergessen, bedeutet nicht immer, sie auszulöschen. Man kann sie auch einhegen, indem ihre Ausstellungen oder Statuen an einen anderen Ort verlegt werden, wobei man sie zwar in derselben Gegend lässt, aber beispielsweise, wie das Ehrenmal für die antifaschistischen Widerstandskämpfer (Erich Wurzer), von einem zentralen Standort in einen Park verpflanzt. In den dominanten Diskursen über die Vergangenheit muss die DDR räumlich oder museografisch an den Rand gedrängt werden.
„Auslöschen“ kann tatsächlich „auslöschen“ bedeuten, aber auch „einhegen“, „verlegen“ oder „verlassen“. Wie viele Gedenktafeln oder Bauzeugnisse der industriellen Geschichte geraten einfach in Vergessenheit, weil sie nicht mehr gesehen werden und sich langsam auflösen? Es geht hier nicht darum, zu behaupten, all diese Vorgänge des Verschwindens seien systematisch organisiert worden. Renovierungen und andere Arbeiten haben ebenfalls oft zur Folge, dass etwas verschwindet, doch ist ebendieser Effekt symptomatisch. Selbstverständlich waren die Ostdeutschen selbst bei diesen Ersetzungen und bei diesem Vergessen handelnde Personen: Sie haben gewählt, Kommunalpolitik gemacht oder einfache Arbeiten verrichtet, sodass hier nicht nur von einem Einfall der „Wessis“ die Rede sein kann. Doch in seiner Gesamtheit war dieser Vorgang nur möglich, weil er zu einer groß angelegten, gut vorbereiteten und aus dem Westen importierten Delegitimationsoffensive gehörte, die sich gegen alles richtete, was den Diskurs und die Praktiken des Kommunismus ausmachte.
Angesichts dieser Auslöschung kommt es zu Widerstand und Wendungen aus verschiedenen Gründen. Volksvertreter retten Denkmäler, Aktivisten stellen sie wieder her, Fotografen, Sammler, Design- und Architekturliebhaber archivieren die Spuren,
Um die Vergangenheit zu zähmen und über die Gegenwart zu sprechen, lassen manche die DDR wiederaufleben – in der Wirklichkeit ihrer Ausstellungen, Sammlungen oder Romane. Die Objekte werden zu Vermittlern einer Lebensgeschichte, die sich mit ihnen erzählen lässt, und bilden ein Kollektiv mit den Menschen, die sie bei sich aufnehmen und schätzen. So tragen sie dazu bei, dass die Gegenwart stabilisiert wird. Die Vergangenheitsarbeit ist vor allem ein Symptom aktueller Situationen, Herrschaftsverhältnisse und Sorgen.
In den Neunzigerjahren, mit einem Höhepunkt um 2003 und danach, rollte die viel beschriebene „Ostalgie-Welle“ durchs Land. Doch diese einfache Metapher sagt letztlich wenig über die Erinnerungen an die DDR aus. Das Handeln der Beteiligten offenbart vor allem eine Reihe tief verankerter, langfristiger und modular einsetzbarer Praktiken, die je nach Ort und Umständen unterschiedlich angewendet werden. Meine Untersuchung ergibt, dass die Menschen sich die DDR auf den unterschiedlichsten Wegen neu aneignen; alles unter „Ostalgie" zu subsumieren, verdeckt ihr unterschiedliches Vorgehen.: Es handelt sich im wahrsten Sinne des Wortes um Bastellösungen. So gibt es Regimekritiker, die den Objekten ihrer Vergangenheit einen Wert zuerkennen, oder „Vereinigungsgewinner“, die sich darüber aufregen, wie im Westen über die DDR gesprochen wird. Wieder andere frühere DDR-Bürger versuchen, zwischen den beiden Epochen, die sie erlebt haben, ein Gleichgewicht herzustellen. Die Objekte übernehmen bei diesen Übergängen häufig eine vermittelnde Rolle, und aus den Zutaten der Vergangenheit entsteht durch geschicktes Kombinieren eine lebenswerte Gegenwart.
Innenansicht des verlassenen Verwaltungsgebäudes des ehemaligen VEB Robotron-Elektronik (Mercedes), Zella-Mehlis, Juli 2020. (© Nicolas Offenstadt)
Innenansicht des verlassenen Verwaltungsgebäudes des ehemaligen VEB Robotron-Elektronik (Mercedes), Zella-Mehlis, Juli 2020. (© Nicolas Offenstadt)
Seit vielen Jahren versucht eine ganze Bewegung mit Leitfiguren, die weit davon entfernt und häufig auch viel zu jung sind, zu den Handlangern des früheren Regimes zu gehören, in einem Wettlauf gegen die Zeit die Architektur und Kunst der DDR-Epoche aufzuwerten und zu erhalten.
Im Verlauf der Untersuchung bleibt nichts unumstößlich: So gut wie immer war zu beobachten, wie die Archäologie des Gedächtnisses sich neu ordnet. Spuren verschwinden, wechseln den Ort oder erfinden sich neu. Doch die Mechanismen, die ich beobachten konnte, bestehen fort. Erst am Ende einer langen Entwicklung können hinterlassene Spuren unsichtbar werden oder eine andere Gestalt annehmen. Jene Spuren, die sich behaupten, sind das Produkt der politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, der Spannungen zwischen dem Lokalen und dem Globalen. Darüber hinaus stehen sie für die Lebensgeschichten der Ostdeutschen und entwickeln sich mit diesen in den verschiedensten Kombinationen und Arrangements immer weiter.
Zitierweise: Nicolas Offenstadt, "Eine Suche nach den verschollenen Spuren der DDR", in: Deutschland Archiv, 02.10.2020, Link: www.bpb.de/316561