Die ehemalige SPD-Abgeordnete Susanne Kschenka aus Magdeburg war maßgeblich an der Erarbeitung der Volkskammer-Geschäftsordnung beteiligt, die nach einem kirchlichem Vorbild entstand. Heute vermisst sie eine kinder- und bildungsfreundliche Gesellschaft und wünscht sich, "dass Politik und Parteipolitik noch stärker transparent, erlebbar und bürgernah passieren, sodass Menschen den Eindruck gewinnen und behalten können, es geht auch um ihre Belange".
Als ich am 18. März 1990, 25-jährig, als eine der jüngsten Abgeordneten für die SPD Sachsen-Anhalt in die Volkskammer gewählt wurde, war einer meiner wichtigsten Wünsche der Friedlichen Revolution schon erfüllt: meine Sehnsucht nach freien Wahlen. Und er war nicht nur einfach erfüllt, sondern ich hatte praktisch daran mitarbeiten dürfen, die Voraussetzungen für diese freie Wahl zu schaffen.
Mit Interner Link: Martin Gutzeit war ich Vertreterin der neu gegründeten Sozialdemokratischen Partei (SDP) in der Kommission des Zentralen Runden Tisches zur Erarbeitung des Wahlgesetzes und verbrachte meine Zeit um Weihnachten 1989 mit unzähligen Überlegungen und Sitzungen, wie ein Gesetz für die Volkskammerwahl in dieser besonderen Situation gestaltet werden müsste.
Über die Schwierigkeiten und das harte Ringen um Grundlegendes und den Wahlmodus ist an anderer Stelle berichtet worden. Letztlich haben wir ein Wahlgesetz vorgelegt, das durch die alte bestehende Volkskammer – mit anfänglichem Zähneknirschen – auch verabschiedet worden ist. Damit konnte das erste freie Parlament gewählt werden.
Lernwerkstatt kirchliches Jugendparlament
Als nunmehr umbenannte SPD gingen wir nach den Wahlprognosen davon aus, dass wir beim Wahlergebnis weit vorn liegen würden, auch wenn wir am Ende mit 21,9 Prozent der Stimmen "nur" Platz zwei hinter der CDU errangen. Aber schon im Ausblick auf die Wahl haben wir die Verantwortung gespürt, dass wir dafür Sorge zu tragen hätten, dass schon am Wahlabend ein Plan vorliegt, wie die Volkskammer ihre Arbeit aufnehmen kann.
Ich arbeitete damals nach einem Studium des Wirtschaftsrechts als Juristin in der obersten Kirchenverwaltung (Konsistorium) der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen in Magdeburg. Schon als Jugendliche hatte ich mich aktiv an der evangelischen Jugendarbeit beteiligt. Dort gab es für die Landeskirche ein „Jugendparlament“ – den Landesjugendkonvent. Leidenschaftlich wurden dort zweimal im Jahr jugend-, aber auch kirchenpolitische Fragen verhandelt, auch der Bischof kam zum Bericht und Gespräch. Für Wahlen, Abstimmungen und alle Verfahren gab es eine Geschäftsordnung, um die ebenso leidenschaftlich gestritten wurde.
Vom Landesjugendkonvent wurde ich als Vertreterin in die Synode geschickt, in das Kirchenparlament, dem Reinhard Höppner, der spätere stellvertretende Volkskammerpräsident, als Präses vorstand. Kirchenparlamentarische Arbeit und die Notwendigkeit eines Regelwerks waren selbstverständlich und dort in der Synode gut erlernbar.
Volkskammer-Geschäftsordnung nach kirchlichem Vorbild
So war es folgerichtig, dass ich mich bei den Vorüberlegungen für die Volkskammer mit Martin Gutzeit und anderen weiter einbringen konnte. Sehr einfühlsam und kompetent standen uns zu dieser Zeit für all unsere Fragen auch Kollegen wie Konrad Porzner, Peter Schneider und andere aus der Schwester-SPD im Westen zur Seite. Sie drängten uns zu nichts, versuchten aber, uns dabei zu unterstützen, alle Vorbereitungen gut zu bedenken. Ich konzentrierte mich auf eine neue Geschäftsordnung, denn ein Blick in das Regelwerk der bisherigen Volkskammer genügte, um zu wissen, dass wir damit nicht einmal eine Präsidentin oder einen Präsidenten samt Präsidium nach demokratischem Verfahren würden wählen können.
So saß ich am 18. März 1990 in meiner kleinen Wohnung in Magdeburg und entwarf auf der Schreibmaschine nach der Geschäftsordnung der Synode der Kirchenprovinz Sachsen die vorläufige Geschäftsordnung der Volkskammer. Das passte durchaus.
Diesen Entwurf stellten wir auch unseren Kollegen der Schwesterpartei zur Sichtung zur Verfügung. Witzigerweise wurde uns bei einem der ersten Arbeitstreffen zur gemeinsamen Vorbereitung der Arbeit der Volkskammer von Vertretern der CDU-Ost ein Entwurf einer vorläufigen Geschäftsordnung als ihr Vorschlag vorgelegt, der exakt dem entsprach, den ich auf meiner kleinen Schreibmaschine getippt hatte. So hatte mein Entwurf den Weg über die West-Berater auf beiden Seiten wieder in unser Vorbereitungsgremium genommen. So konnte es damals gehen, und wir haben darüber geschmunzelt.
In der Volkskammer habe ich die meiste Zeit mit Geschäftsordnungs- und Verfassungsfragen und der parlamentarischen Organisation der Fraktion verbracht. Als Mitglied des Präsidiums der Volkskammer fungierte ich als zweite parlamentarische Geschäftsführerin neben Martin Gutzeit (erst einfach so, später auch gewählt). Gemeinsam mit ihm war ich dafür zuständig, die Tagesordnungen auszuhandeln und große und kleine innerparlamentarische Krisen zu entschärfen.
Außerdem bereiteten wir nach den meist in der Nacht endenden Sitzungen des Präsidiums für die Fraktionssitzung am nächsten Tag die Papiere vor, wenn alle anderen schon in ihre kurzen Nächte gefahren waren. Diese aktive, praktische Arbeit im Hintergrund hat mir große Freude bereitet und prägt mich mit ihren Erfahrungen bis heute, dass man selbst in der verfahrensten Situation durch Verhandeln eine Lösung finden kann, wenn alle Beteiligten daran interessiert sind.
Wahlbeobachtung in Rumänien
Ein sehr bewegendes Erlebnis in der Volkskammerzeit war für mich die Entsendung zur Beobachtung der Parlamentswahlen am 20. Mai 1990 in Rumänien gemeinsam mit meinem späteren Mann. Da wir während der ganzen Revolutionszeit sehr eng mit den oppositionellen Freundinnen und Freunden in Ungarn und Rumänien verbunden waren, wollten wir unbedingt dazu beitragen, dass in Rumänien mithilfe ausländischer WahlbeoachterInnen faire Wahlen stattfinden. Es war manches sehr merkwürdig bei dieser Reise. Wir wurden durch Mitarbeiter der DDR-Botschaft betreut, die noch aus der Zeit vor der Friedlichen Revolution stammten und die uns zum Teil sehr unterwürfig, aber auch sehr misstrauisch beäugten.
Es gab Treffen mit Vertretern von neu gebildeten rumänischen Parteien, bei denen die Nähe zur Securitate, dem menschenverachtenden rumänischen Geheimdienst, deutlich zu spüren war. Wir ließen uns in das vor allem von Ungarn bewohnte Gebiet in Siebenbürgen fahren, weil wir zeigen wollten, dass es auch dort von außen Interesse und Unterstützung gibt. Dort war allerorts Angst spürbar, in vielen Wahllokalen lief irgendetwas nicht rund und die erdrückenden Schatten der Vergangenheit waren in den kleinen Orten deutlich zu sehen. Welch weiten Weg die Menschen in Rumänien vor sich hatten, um die Diktatur loszuwerden, war damals schon spürbar.
"Uns lief die Zeit davon"
Wenn ich mir heute mit Abstand noch einmal die Debatten in der Volkskammer anschaue und lese, wie viele Gesetze zu ganz unterschiedlichen Fragen wir beraten und verabschiedet haben, bin ich noch immer beeindruckt, wie ernsthaft sich die Fachkollegen und - kolleginnen aller Fraktionen bemüht haben, für die vielen Einzelfragen gesetzliche Regelungen auszuarbeiten. Uns lief die Zeit davon, das Land war in Unruhe und viele Bürgerinnen und Bürger zeigten keine Geduld mit uns. Wir wussten aber, dass das, was wir jetzt nicht regeln würden, keine Berücksichtigung im Einigungsvertrag finden würde.
Manchmal, wenn heute wieder jemand darüber erbost ist, dass eine Frage nicht im Einigungsvertrag berücksichtigt worden ist, bin ich versucht nachzufragen, ob er oder sie damals auch auf die schnelle Einheit gedrängt hat, mache das aber meist nicht.
So stehe ich auch heute noch klar zu meiner Zustimmung zum Einigungsvertrag. Auch wenn mich ärgert und schmerzt, dass wir manches nicht oder nicht ausreichend geregelt haben, weiß ich, dass eine Einheit ohne Vertrag noch viel schwieriger geworden wäre. Dem Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ würde ich heute allerdings nicht mehr zustimmen. Wir haben uns nicht klar gemacht, wie unwürdig manche alten Eigentümer den Menschen entgegentreten und ihre alten Rechte einfordern würden. Auch hat die Rückgabe vielerorts neue Verluste für Menschen bedeutet. Das war für mich schwierig mitzuerleben.
Nun liegt die Zeit der Mitarbeit in der Volkskammer schon länger zurück als ich in der DDR gelebt habe. Dass ich durch die Wählerinnen und Wähler die Chance bekommen habe, so aktiv an einem Umbruchprozess mitzuarbeiten, prägt meinen Blick zurück und seitdem bis heute. Ich weiß, was unter den gegebenen Umständen machbar war und was leider auch nicht. Es ist ein realistischer Blick zurück.
Und heute? Keine kinder- und bildungsfreundliche Gesellschaft
Wenn ich auf das Heute schaue, macht mich vieles unruhig und auch ärgerlich.
Mit der Friedlichen Revolution und auch der Arbeit in der Volkskammer habe ich immer die Hoffnung verbunden, dass in einem wiedervereinigten Deutschland Menschen aller Generationen volle und gleiche Entwicklungschancen erhalten. Aber seit dreißig Jahren gibt es beispielsweise keine grundlegende Änderung daran, dass Kinder unterschiedliche Bildungschancen haben und wir diese nicht mit aller Kraft in und rund um die Schulen ausgleichen.
Wenn ich auf meine Kindheit schaue, gab es überall viele Kinder. Die Geburtenrate ist nach der deutschen Einheit drastisch zurückgegangen. Dies merken wir in der Gesellschaft überall schmerzlich und doch leisten wir es uns, auf dem Weg durch die Bildungseinrichtungen viele Kinder und Jugendliche zu verlieren oder sie nicht so zu fördern, wie es für sie als Menschen unabhängig von ihrer Herkunft nötig wäre. Die Coronazeit im Frühjahr 2020 hat uns noch einmal drastisch vor Augen geführt, wie unterschiedlich Kinder zu Hause lernen können. Ich wünsche mir dringend, dass wir uns in eine kinder- und bildungsfreundliche Gesellschaft verwandeln und alle Kraft und Geld in gerechte Bildung stecken. Die nächsten Generationen sind unsere Zukunft.
Die Falle der Ab- und Ausgrenzung
Wütend macht mich auch, wie vielen Menschen wir keine Bildungs- und Berufschancen gegeben haben, die seit dreißig Jahren zu uns gekommen sind: Spätaussiedler, Geflüchtete aus den Balkankriegen, viele junge Flüchtlinge seit 2015. Immer wieder kamen sie in der kleinen Stadt an der polnischen Grenze an, in der ich seit 1990 gelebt habe und sie wurden unsere Nachbarn. Statt sie zu fördern, ihre Berufe schnell anzuerkennen und ihre Potenziale für unsere Gesellschaft zu nutzen, ließen wir sie regelmäßig scheitern, schickten sie durch die Ämter und nahmen in Kauf, dass ihre Hoffnungen zerschellten.
Viele wären gern in Forst unsere Nachbarn geblieben, aber zogen auf der Suche nach Arbeit und Hoffnung weiter. Oder sie wurden zurückgeschickt. Auch sie brauchen wir für unsere Gesellschaft und es stünde uns gut zu Gesicht, uns nicht immer wieder selbst die Falle der Ab- und Ausgrenzung zu stellen. Stattdessen sollten wir die Potentiale eines jeden Menschen sehen.
Ich wünsche mir dringend eine fördernde Gesellschaft für alle, denn auch darin steckt unsere Zukunft.
"Politik muss stärker transparent, erlebbar und bürgernah passieren"
Am Ende treibt mich nach zehnjähriger Beratungsarbeit zum Umgang mit Rechtsextremismus in Südbrandenburg ein Thema immer wieder um: Im Zuge der gestiegenen Zustimmungswerte für rechtspopulistische Parteien und Strömungen in ostdeutschen Bundesländern taucht immer wieder die Einschätzung auf, wir hätten als Gesellschaft den Menschen in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung noch mehr Wissen in politischer Bildung vermitteln müssen.
Regelmäßig vor Wahlen schmilzt diese Auffassung zu Aufrufen zusammen, sich als Demokrat zu erweisen, zur Wahl zu gehen und Parteien des demokratischen Spektrums zu wählen. Freie Wahlen sind für mich noch immer ein zentrales Thema, und auch ich sehe die Gefahr, die darin liegt, dass sich eine gestiegene Zahl von Menschen einfache, autoritäre Entscheidungen in der Politik wünscht, ohne die ganzen parlamentarischen Abstimmungsprozesse. Trotzdem ärgern mich diese Aufrufe und der Ruf nach politischer Bildung, als müssten viele Menschen in Ostdeutschland alles nur richtig erklärt bekommen.
Ich wünsche mir, dass Politik und Parteipolitik noch stärker transparent, erlebbar und bürgernah passieren, sodass Menschen den Eindruck gewinnen und behalten können, es geht auch um ihre Belange. Ich wünsche mir, dass Menschen öffentliche Verwaltung als vollziehende Gewalt flächendeckend als dienstleistend, bürgernah und barrierearm erleben und nicht – wie in der Coronazeit im Frühjahr 2020 – vielerorts über längere Zeit als nicht erreichbar.
Denn auch dieses Erleben prägt meines Erachtens ganz entscheidend den Blick von Menschen auf Politik und Staat. Wie wir zudem in der polarisierten Gesellschaft miteinander als mündige Bürgerinnen und Bürger in den Austausch darüber treten, welche Werte uns gemeinsam in der Gesellschaft leiten und wie wir diese gestalten, bleibt für mich eine beständige Aufgabe.
So ende ich mit meiner ungehaltenen Rede in der Hoffnung, dass vor allem wir Menschen in Ost und West, die wir das Geschenk der Wiedervereinigung erleben und gestalten durften, daraus Kraft und Zuversicht für die Aufgaben der Gegenwart und Zukunft ziehen und diese in Verantwortung für die nachfolgenden Generationen und mit diesen gemeinsam gestalten.
Zitierweise: "Blick zurück nach vorn“, Susanne Kschenka, in: Deutschland Archiv, 01.10.2020, Link: www.bpb.de/316368.
Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden nach und nach folgen. Eine öffentliche Diskussion darüber ist im Lauf des Jahres 2021 geplant. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Susanne Kschenka wurde noch unter ihrem Geburtsnamen Seils 1989 Mitglied der SDP der DDR und gehörte deren Vorstand an. Für die im Januar 1990 in SPD umbenannte Partei trat Seils als Kandidatin für die ersten freien Volkskammerwahlen im Wahlbezirk Magdeburg an. Da die SPD in diesem Wahlbezirk acht Mandate erringen konnte, zog Seils als Abgeordnete in das letzte DDR-Parlament ein. Die SPD-Fraktion wählte sie zur stellvertretenden parlamentarischen Geschäftsführerin und ins Präsidium der Volkskammer. Seit 2018 ist sie Referentin für politisch-historische Erwachsenenbildung und Stellvertreterin der Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur des Landes Brandenburg.
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