Trotz allem im Zeitplan
Denkanstöße zum Tag der Deutschen Einheit - Aus der Serie "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier der letzten Volkskammer der DDR
Wolfgang Thierse
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"Mehr als 30 Jahre danach sollten wir begreifen, dass die Deutsche Vereinigung ein längerer Prozess sein wird", resümiert der ehemalige Ostberliner SPD-Volkskammerabgeordnete und spätere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Er mahnt, intensiver zu betrachten, warum Rechtspopulisten und Rechtsextreme in Ostdeutschland so erfolgreich sind. "Demokratiearbeit, emotionale Arbeit und kommunikative Verständigung" seien dringend geboten, damit die Einheit gelingt. Als hinderlich sieht er eine "Unwilligkeit vieler Ostdeutscher zu positiver Selbstwahrnehmung".
Ostdeutschlands Weg lässt sich nur differenzierend beschreiben. Ich wünschte mir sehr, dass differenzierende Betrachtungen zu den Transformationsprozessen in den letzten 30 Jahren, ihren Folgen und Widersprüchen, auch die Nachwirkungen der Vergangenheit in der DDR und weiterzurückliegend der Nazizeit miteinbeziehen.
Mit einem solchen Blick möchte ich mich im Folgenden der Situation und Stimmung im Osten Deutschlands zuwenden: Viele Wahlergebnisse der vergangenen Jahre waren schmerzlich. 2019 haben in Sachsen und Brandenburg circa 25 Prozent der Wählerinnen und Wähler AfD gewählt. Noch nie konnten Rechtsextreme im Nachkriegsdeutschland so viel parlamentarische Präsenz erreichen. Eine bestürzend große Zahl vor allem ostdeutscher Wählerinnen und Wähler hat sich offensichtlich auf (rechts-)extrem eingeschworen.
Schauen wir genauer hin und vermeiden dabei vereinfachende Erklärungen und Schuldzuweisungen. Blickt man auf das politische Angebot und vor allem die Wähler, so erweist sich die AfD als sowohl nationalistisch-rechtsextremistische Partei wie als konservative und Protestpartei:
Die AfD wird nämlich (1.) von denen gewählt, die vorher DVU oder NPD gewählt haben. Diese Parteien haben es zuvor bereits in Landesparlamente geschafft. Und liest man die Langzeitstudie von Wilhelm Heitmeyer („Deutsche Zustände“), dann weiß man, dass es in Deutschland generell einen Anteil von 10 bis 20 Prozent von Menschen mit autoritären, minderheitenfeindlichen, rassistischen, antisemitischen und demokratiefeindlichen Einstellungen gibt, deren Sichtbarkeit allerdings je nach wirtschaftlich-sozialer Lage unterschiedlich deutlich ist.
Die AfD wird (2.) gewählt von Menschen in wirtschaftlich-sozialen Problemgebieten und ländlichen Regionen, in denen Abwanderung, Überalterung und Männerüberschuss vorherrschen und Infrastrukturprobleme größer sind als anderswo und deshalb eine immense Zukunftsunsicherheit grassiert. Typisch dafür sind die Braunkohlereviere in Brandenburg und Sachsen-Anhalt.
Die AfD wird (3.) gewählt von Leuten, denen es eigentlich ganz gut geht und die nicht zu den Verlierern der Deutschen Einheit zählen, die sich aber wehren gegen die vielen Veränderungen, die sich gegenwärtig vollziehen und deren Komplexität und Dramatik vielfach Unsicherheiten und Ängste erzeugen.
Die Wahlerfolge der AfD erklären sich also nicht nur, vielleicht sogar weniger als bisher angenommen, aus ökonomisch-sozialen (dann nämlich dürfte es zum Beispiel in Baden-Württemberg nicht solch einen erheblichen AfD-Wahlerfolg gegeben haben), sondern mindestens ebenso aus kulturellen Gründen. Um das zu begreifen, muss man einen Schritt von der nur ostdeutschen Wahrnehmung zurücktreten.
Die radikalen Veränderungsprozesse in der Gegenwart, die von vielen Menschen als bedrohlich empfundenen Beschleunigungen und Entgrenzungen, die im Begriff Globalisierung zusammengefasst sind, die Migrationsschübe, die Veränderungen der Arbeitswelt durch die digitale Transformation, die bedrohliche Gefährdung von Natur und Umwelt, die uns zu Änderungen unserer Lebensweise zwingt, die weitere ethnische, kulturelle, religiös-weltanschauliche Pluralisierung unserer Gesellschaft, die tiefen Ängstigungen durch Terrorismus, Gewalt, kriegerische Konflikte, insgesamt das Erleben einer „Welt in Unordnung“, in der die vertrauten Lebenswelten gänzlich zu verschwinden drohen – derzeit noch einmal bestärkt durch Corona.
Das alles verstärkt auf dramatische Weise das individuelle und kollektive Bedürfnis nach neuen (und auch alten) Vergewisserungen und Verankerungen, nach Identität, nach Sicherheit, nach Beheimatung. Darauf müssen alle demokratischen Kräfte, nicht nur meine Partei, die SPD, Antworten finden! Dies vor allem auch, weil die Gefühle der Unsicherheit, die Infragestellung dessen, was Halt gibt und Zusammenhalt sichert, insgesamt also ökonomische Abstiegsängste, soziale Überforderungsgefühle, kulturelle Entheimatungsbefürchtungen und tiefgehende Zukunftsunsicherheiten höchst ungleich verteilt sind. So gibt es – drei Jahrzehnte nach Friedlicher Revolution und Deutscher Einheit – eine auffällige West-Ost-Ungleichheit der Sicherheiten und Gewissheiten: Ist auch sie eine Folge der konkreten ostdeutschen Erfahrungen eines Systemwechsels, eines radikalen Umbruchs sowohl ökonomisch-sozialer wie moralisch-kultureller Art, nach all den Erlebnissen der Entwertung und des Entschwindens der eigenen Lebenserfahrungen und Lebensleistungen?
Zur Dialektik der Globalisierung gehört offensichtlich eine neue, vor allem kulturelle Spaltung der Gesellschaft (die allerdings die „älteren“ sozialen Spaltungen nicht zum Verschwinden bringt). Um diese Spaltung zu beschreiben, wird unterschieden: zwischen den „Somewheres“ und den „Anywheres“, zwischen dem kosmopolitischen, libertären, urbanen Teil der Bevölkerung und dem kommunitaristischen, lokalorientierten und gebundenen Teil. Wie angemessen diese Termini sind, soll hier nicht weiter diskutiert werden, aber es sei doch festgehalten: Es sind ja nicht die kosmopolitischen Eliten, die Libertären, die auf den Wellen der Globalisierung Surfenden, die Modernisierungsschübe erfolgreich Meisternden, welche die Entheimatungsbefürchtungen und Entfremdungsängste empfinden. Es sind vor allem die Anderen, die die Veränderungen durch Globalisierung und durch das Fremde und die Fremden als Gefährdung ihrer vertrauten Lebenswelt, letztlich auch als sozialen Verteilungskonflikt erfahren. Diese Anderen reagieren auf die Öffnung der Grenzen mit dem Wunsch nach neuen Grenzen, mit dem Wunsch, zur souveränen Nationalstaatlichkeit zurückzukehren. Sie reagieren auf die postmoderne Vielfalt und den kulturellen Pluralismus mit dem Wunsch nach kultureller Eindeutigkeit von Identitäten, nach verbindlichen Werten, nach einer nationalen Leitkultur. Man kann auf solche Wünsche mit purer Ablehnung und Verachtung reagieren, was ich allerdings für falsch halte. Die Rechtspopulisten tun das Gegenteil und das erklärt wenigstens zum Teil ihren Erfolg.
Es sind die Populisten, die großen und kleinen Vereinfacher und Schuldzuweiser, die die Sehnsüchte nach Erlösung von den ängstigenden Unsicherheiten zu befriedigen versprechen. Zumal eben in Ostdeutschland! Denn was ich für Deutschland (und Europa) insgesamt zu beschreiben versucht habe, gilt für den Osten in besonderer, verschärfter Weise. Denn hier trifft die gegenwärtige Veränderungsdramatik auf Menschen, die die vielschichtigen Veränderungen seit 1989/90 mit ihren Schmerzen, Opfern, Verlusten noch nicht gänzlich und vor allem nicht alle gleichermaßen erfolgreich bestanden haben. So viel Umwälzung in kürzester Zeit! Die Erfahrung von Arbeitslosigkeit und tiefgehenden biografischen Umbrüchen! Das macht nicht wenige empfänglich für einfache, radikale Botschaften. Für jenes verhängnisvolle Angebot nationalkonservativer Gewissheit und wutbürgerlicher Ablehnung. Eine erfolgreich-gefährliche Mischung – wie wir wissen, nicht nur im Osten Deutschlands.
Und darüber hinaus: Worüber haben wir noch zu reden in Sachen Ostdeutschland? Ich zähle stichwortartig und vergröbernd auf:
Erstens über die eine lange nachwirkende, tiefe autoritäre Prägung! Selbstverantwortliche, selbstbewusste Bürgerschaft konnte sich in der DDR kaum entwickeln. Die war schließlich als SED-Diktatur ein autoritärer Staat, oder, wie Rolf Henrich in seinem berühmten, 1989 erschienen Buch sie genannt hat, ein „vormundschaftlicher Staat“. Von „organisierter Verantwortungslosigkeit“ hatte Rudolf Bahro bereits in den 1970er Jahren gesprochen. Die Nachwirkungen dieser Prägung werden immer wieder laut in Vorwürfen „an die da oben, an die im Westen“. Die sollen‘s richten, die sind schuld, die sollen doch erstmal uns integrieren.
Zweitens erinnere ich an die unbewältigte Nazi-Erbschaft. Die DDR hatte es sich leicht gemacht und das Nazi-Erbe einfach an den Westen delegiert. Es gab bei uns eben kein kulturelles 1968. Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus wurden unter den Teppich gekehrt. 40 Jahre eingesperrt zu sein hat Folgen. (Man lese Ines Geipels „Umkämpfte Zone“, um das Ineinander von braunen und roten Diktaturprägungen in Biografien zu verstehen.)
Drittens erinnere ich an unsere zähen ostdeutschen Minderwertigkeitskomplexe. Wir Ostdeutsche haben ja immer mit dem Blick nach Westen gelebt und uns deshalb eher als den schwächeren, weniger erfolgreichen Teil empfunden. Der Vergleich mit dem Westen wirkt bis heute nach in allen Debatten über den Stand der Deutschen Einheit. Wie wäre es gewesen, hätten die Ostdeutschen damals nach Osten geschaut und würden es auch heute gelegentlich tun?. Der Blick nach Polen, Tschechien, Ungarn, Russland verkleinert die ostdeutschen Probleme gewiss nicht, aber er könnte unsere emotionalen Wertungen vielleicht ein wenig relativieren helfen.
Viertens: Die Kritik am deutschen Einigungsprozess ist nach und nach wohlfeil und bei einigen geradezu schick geworden. Der Wunsch nach einer ganz anderen Art von Einheit, nach einem ganz anderen Sozialismus wird laut. Nun bin ich kein Hegelianer, um das, was wirklich geworden ist, allein deshalb für vernünftig zu halten. Aber ein etwas nüchternerer Rückblick tut not. Gab es 1990 wirklich eine Alternative zum Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes? Angesichts der Beschleunigungsfaktoren, die damals wirksam waren, scheint das unrealistisch: Die der Ungeduld der DDR-Bürgerinnen und -Bürger („Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr“ – noch im Jahr 1990 verließen viele Hunderttausend die DDR gen Westen), derm faktischen Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft, dieer außenpolitischen Ungewissheit, ob Gorbatschow und die Sowjetunion einer Einheit zustimmen würden. Allzu Auch rückwärtsgewandte Hoffnungen können Illusionen sein.
Aus der erzwungenen Beschleunigung ergab sich das Grundmuster der deutschen Einigung, über das man ohne moralische Schuldzuweisungen offen sprechen sollte: Es war die Vereinigung von zwei Ungleichen, von einem erfolgreichen System und einem gescheiterten System. Im Westen wirkte der Zusammenbruch des ostdeutschen Systems als Bestätigung des Status quo, im Osten bewirkte er radikale Veränderungen. Die einen wurden Lehrmeister, die anderen Lehrlinge. Das ist ein schmerzliches Beziehungsverhältnis, das gerade im Osten langanhaltende Wirkungen erzeugte.
Erinnern möchte ich aber auch an die patriarchale Prägung, die Helmut Kohl dem Einigungsprozess gegeben hat. Seine beruhigenden Versprechen nach dem Motto: „Ich nehme euch an die Hand und führe euch ins Wirtschaftswunderland“ hat gewirkt und zu grandiosen CDU-Wahlerfolgen geführt. Die Ostdeutschen sollten vor allem ehrlich zu sich selbst sein: Eine Mehrheit wollte in ihrer Zukunftsunsicherheit Helmut Kohls Versprechungen glauben, wollte so schnell wie möglich unter das rettende Dach der Bundesrepublik Deutschland. Je größer die Versprechen und die Erwartungen und das „Glauben wollen“, umso größer die späteren Enttäuschungen! Das ist bis heute so!
Selbst eine friedliche Revolution kommt nicht ohne Personalwechsel aus. Wir wollten schließlich die alten SED-Eliten loswerden. Das ging nicht ohne die Übernahme von Posten und Ämtern durch Westdeutsche. Das ist nicht in jedem Fall gut gelaufen und war oft mit persönlichen Zurücksetzungen und anhaltenden Verletzungen verbunden. In der Wirtschaft, in der Justiz, in den Medien waren diese Wechsel unausweichlich. In der Politik hätten aber die Ostdeutschen auch eine oder einen von ihnen wählen können – doch sie haben die westdeutschen Kurt Biedenkopf und Bernhard Vogel und Bodo Ramelow gewählt. Und heute wählen die, die über die Kolonisierung des Ostens durch den Westen klagen, westdeutsche AfD-Funktionäre übelster Art!
Fünftens fällt mir auf und beklage ich eine Unfähigkeit und Unwilligkeit vieler Ostdeutscher zu positiver Selbstwahrnehmung. Ich wage gar nicht von Stolz zu sprechen. Dabei haben wir Ostdeutsche allen Grund, mit Selbstbewusstsein auf die Friedliche Revolution und die Bewältigung einer dramatischen und schmerzlichen Transformation zu blicken. Das ist doch eine große menschliche, soziale und kulturelle Leistung! Wir haben einen Erfahrungsschatz gewonnen, der für die vor uns stehenden, vermutlich nicht weniger dramatischen Veränderungsprozesse von echtem Vorteil sein könnte, ja sein sollte.
Mehr als 30 Jahre danach sollten wir begreifen, dass die Deutsche Vereinigung ein längerer Prozess sein wird. Dass er nicht nur weiterer ökonomischer Anstrengungen, sondern auch der Demokratiearbeit, der emotionalen Arbeit und der kommunikativen Verständigung bedarf, damit die Einheit gelingt. Das wird wohl länger dauern, als wir es uns vorgestellt und gewünscht hatten. Kein Grund für Wut und Empörung, meine ich, jedenfalls dann nicht, wenn immer wieder kleinere und größere Fortschritte erreicht werden: Fortschritte in Sachen Angleichung der wirtschaftlichen Leistungskraft, der Einkommen, der sozialen Sicherheit, der menschlichen Annäherung und vielleicht sogar solche, die die Lebenszufriedenheit und die Anerkennung unterschiedlicher Biografien betreffen.
Zum Schluss ein Zitat des Soziologen Ralf Dahrendorf aus dem Jahr 1990. Damals prognostizierte er folgenden Zeitbedarf für den Transformationsprozess: Für die Einführung politischer Demokratie und rechtstaatlicher Verhältnisse – sechs Monate, für den Übergang zur Marktwirtschaft – sechs Jahre. Und für die Entwicklung einer selbstbewussten Zivilgesellschaft – 60 Jahre. So gesehen sind wir durchaus noch im Zeitplan. Das heißt nicht, dass ich blinder Zufriedenheit das Wort reden will. Im Gegenteil: Eine kritische Bewertung des Gelungenen und Misslungenen, der Widersprüche und Fehlleistungen und vor allem des noch zu Leistenden ist und bleibt unerlässlich. Genug Stoff für weiteren Streit. Das allerdings sollte ein Streit sein, aus dem wir Ostdeutschen mehr Ermutigung und Ermunterung gewinnen können als aus dem immer wieder neu angestimmten Klagelied über Benachteiligung, Kolonisierung und Unterdrückung der Ostdeutschen!
Eine unüberhörbare Missmutsgemeinschaft Ost aber, der von der AfD betriebene Verbitterungspopulismus, die fatalen DDR-Gleichsetzungen (DDR 2.0, Stasi-Methoden, staatshörige Medien…), die in der Corona-Pandemie gerade auch im Osten Deutschlands grassierende Empfänglichkeit für Verschwörungsmythen und für Realitätsverweigerung – all das zeigt auch, wieviel sowohl unbearbeitete DDR-Vergangenheiten, als auch schmerzliche Transformationserfahrungen nach wie vor virulent sind und wie sehr Ossiland emotional und kulturell zerstritten und gespalten ist. Offensichtlich ist die DDR-Vergangenheit noch längst nicht ausgestanden, obwohl sie doch seit 30 Jahren Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Forschung und breit gestreuter kultureller Auseinandersetzung ist. Wir sind mit ihr noch nicht am Ende trotz der zahllosen Dokumentationen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen, trotz der zahllosen Kino- und Fernsehfilme, Romane und Erzählungen, organisierter oder spontaner Begegnungen und Gespräche.
Eine selbstkritisch-selbstbewusste Debatte bleibt notwendig und muss neu geführt werden. Damit die Ostdeutschen nicht mehr das Gefühl (und wohl auch die Ausrede haben), es werde über sie, aber ohne sie geredet. Damit sie tatsächlich selbst zu Wort kommen und auch selbst das Empfinden haben, zu Wort zu kommen. Allerdings sollte es eine vielstimmige Diskussion sein, in der nicht nur die das Wort führen, die ihre Ressentiments artikulieren und bestätigt sehen wollen. Eine Diskussion auch nicht nur unter Ostdeutschen. Die unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Erfahrungen vor und nach 1989 sollten zu Wort kommen und ebenso verschiedene Perspektiven: Nicht so sehr der Opferdiskurs, nicht vor allem identitätspolitische Selbstbehauptung, sondern die differenzierte Bewertung von Erinnertem, von Erfolgen und Fehlern sollte im Zentrum der Debatte stehen. Ein Gespräch also auch zwischen den Generationen, zwischen den Erfolgreichen und Erfolglosen – mit dem Ziel, die Hoffnungen und Illusionen und Enttäuschungen zur Sprache zu bringen und zu bearbeiten. Und ebenso mit dem Ziel, die (verständliche) Sehnsucht nach dem früheren Zusammenhalt in der Notgemeinschaft DDR nicht zu lähmender Nostalgie werden zu lassen. Das ist eine enorme, vor allem kulturelle Aufgabe. Gerade für Ostdeutschland, wo die massenhafte, persönliche und familiäre Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte bisher eher ausgeblieben ist, wo eine Mehrheit zwischen trotziger Verteidigung der eigenen Biografie, leichtgängigen Schuldzuweisungen an „den Westen“, dem Nachtrauern über verpasste Chancen und sehr sehr viel Sprachlosigkeit schwankt.
Ich glaube nicht, dass dabei kontrafaktische Überlegungen hilfreich sind, „die allein die vertanen Chancen der Vergangenheit betreffen und damit heute politisch ins Leere gehen“ (Jürgen Habermas). Die nachgetragenen Ressentiments und die durchaus elitäre Kritik post festum gegenüber dem historischen Gang von friedlicher Revolution und deutscher Vereinigung, wie sie zuletzt z. B. von Klaus Wolfram und Thomas Oberender (auf die sich Habermas bezieht) vorgetragen wurden, eröffnen keine wirklichen Zukunftsperspektiven.
Um die aber muss es jetzt gehen. Denn die Nachahmungsphase, die Phase der Adaption an den Westen sollte und könnte für Ostdeutschland nach 30 Jahren endgültig zu Ende sein. Wir sind im gemeinsamen Land (und Kontinent) mit den gemeinsamen Problemen der Bewältigung der Globalisierung, der digitalen Transformation, der ökologischen Herausforderung, der kulturellen Pluralisierung, der Corona-Pandemie konfrontiert. Sich darüber zu verständigen, was Beiträge zu deren Lösungen aus der ostdeutschen Vergangenheits- und Umbruchserfahrung sein könnten, darüber nach vorn zu debattieren, das wäre wirklich an der Zeit. Das könnte und sollte produktiv sein und Missmut und Verbitterung überwinden helfen. Und genau darin besteht die eigentliche gegenwärtige Herausforderung für Ostdeutschland, für die Ost-, allerdings auch für die Westdeutschen!
Buchcover (Ost)Deutschlands Weg
Die Cover der beiden Bände von "(Ost)Deutschlands Weg" I (1989 bis 2020) und II (Gegenwart und Zukunft), mittlerweile wieder erhältlich im Externer Link: www.bpb.de/shop unter den Bestellnummern 10676 I+II und seit September 2024 kostenlos als e-book.
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Zitierweise: Wolfgang Thierse, „Trotz allem im Zeitplan", in: Deutschland Archiv, 04.01.2021, Link: www.bpb.de/315791. Der Text ist dem Band entnommen „(Ost)Deutschlands Weg. 80 Studien & Essays zur Lage des Landes", herausgegeben von Ilko-Sascha Kowalczuk, Frank Ebert und Holger Kulick in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, der seit 1. Juli 2021 im Interner Link: bpb-shop erhältlich ist. Hier mehr über das Buch "Interner Link: (Ost)Deutschlands Weg", produziert von der Redaktion Deutschland Archiv der bpb.
Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden nach und nach folgen. Eine öffentliche Diskussion darüber ist im Lauf des Jahres 2021 geplant. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Dr. h.c. Wolfgang Thierse, geb. 1943 in Breslau, von Beruf Kulturwissenschaftler/Germanist. Mitglied der frei gewählten Volkskammer und Vorsitzender der DDR-SPD. Von 1990 bis 2013 MdB, viele Jahre Bundestagspräsident und Vizepräsident, stellv. Parteivorsitzender der SPD, Vorsitzender der Grundwertekommission und des Kulturforums der SPD.
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