Im Herbst 1989 setzte in den damaligen Volksdemokratien des Ostblocks und in den Teilrepubliken der Sowjetunion, jener Kollaps der Regime ein, der letztlich zur Auflösung der Sowjetunion, ja des gesamten Warschauer Paktes führte. Der epochale Charakter des Zusammenbruchs eines ganzen Imperiums hat sich fest in das kulturelle Bewusstsein der am Kalten Krieg beteiligten Völker eingeprägt. Symbol dafür ist vor allem der „Fall der Berliner Mauer“, der eigentlich zunächst nur eine zeitweilige Öffnung für geduldete Passage war. Insgesamt verliefen die tiefgreifenden Wandlungsprozesse in den meisten sozialistischen Ländern einigermaßen gewaltfrei. Umstritten bleibt bei den Fachleuten, ob es sich bei diesen Ereignissen um eine Revolution gehandelt hat, oder um eine seit langem in den politischen und wirtschaftlichen Systemvariablen begründete, vorhersehbare spontane „Implosion“, bei der die bewusst agierenden politischen Kräfte allenfalls die Rolle eines verstärkenden Effektes spielten.
Der Streit um die Einordnung der Ereignisse in theoretische Kategorien konzentrierte sich im Laufe der Jahre auf unterschiedliche Schwerpunkte. In den 1990er Jahren ging es vor allem darum, ob die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu einer Art Dammbruch führten oder ob Persönlichkeiten mit Tatkraft und Geschick die Ereignisse in Gang brachten. Die eine Forschungsrichtung beschäftigte sich mit den in einem ökonomischen Kampf verstrickten Systemen, bei dem letzten Endes dem Osten im „Rüstungswettlauf“ die Luft ausging und dies seinen Kollaps erzwang. Die andere Richtung glaubte eher an die historische Wirkmacht solcher Persönlichkeiten wie Michail Gorbatschow, Helmut Kohl, George Bush, François Mitterand und Margret Thatcher und einiger anderer Akteure. Den überall aufflammenden Volkserhebungen wurde bestenfalls eine auslösende, keinesfalls aber eine verursachende Rolle zugeschrieben. Den Beiträgen der politisch, national oder bürgerrechtlich argumentierenden Widerstandsbewegung wurde im besten Fall höflich im besten Fall die Kompetenz moralischer Legitimation zugestanden, wie es sich etwa am Beispiel Václav Havel zeigt.
30 veränderte Staats- und Gesellschaftssysteme - und der "Sonderfall DDR"
All diese Erklärungsversuche aber waren nicht in der Lage, hinreichend das zu erfassen, was eigentlich geschehen war. Sie konnten nicht überzeugend darlegen, wie die wirtschaftlichen und politischen Ereignisketten zum Ende einer ganzen historischen Epoche und eines Imperiums führen konnten.
Im Ergebnis erhielten sechs osteuropäische Nationalstaaten ihre politische Unabhängigkeit zurück; es entstanden in Mittel- und Osteuropa vier neue Staaten, im Baltikum drei aus sowjetischen Teilrepubliken hervorgehende souveräne Staaten, in Mittelasien fünf und in Transkaukasien drei, schließlich außerhalb des sich auflösenden Imperiums noch sechs nach blutigen Kriegen auf dem Balkan. Zählt man noch einige kleinere Abspaltungen hinzu, dann erschienen innerhalb weniger Jahre 30 völlig veränderte staatliche Gebilde auf der Landkarte, ausnahmslos alle wechselten die gesellschaftliche Formation und wurden mehr oder weniger „kapitalistisch“:
Die DDR habe ich bei dieser Aufzählung als Sonderfall ausgelassen. Ihr System geriet ins Wanken, als eine große Anzahl entschlossener Bürger und Bürgerinnen ihre Ausreise in die Bundesrepublik durch Botschaftsbesetzungen und Demonstrationen erzwangen.
Mehrere hundert DDR-Bürgerinnen und -Bürger demonstrierten bei der ersten Montagsdemonstration am Abend des 4. September 1989 in der Innenstadt von Leipzig für Reisefreiheit und Reformen. (© picture-alliance, Wolfgang Kumm)
Mehrere hundert DDR-Bürgerinnen und -Bürger demonstrierten bei der ersten Montagsdemonstration am Abend des 4. September 1989 in der Innenstadt von Leipzig für Reisefreiheit und Reformen. (© picture-alliance, Wolfgang Kumm)
Dem folgten seit dem frühen Oktober immer mächtigere, weitgehend spontan sich formierende Massendemonstrationen, besonders in Leipzig, auf denen engagierte Bürgerrechtsbewegungen ihre Forderungen formulierten und ihnen damit eine klare inhaltliche Ausrichtung verliehen. Dieser Prozess führte in eine einige Monate währende Periode von Verhandlungen zwischen der immer schwächer werdenden Politbürokratie und den Oppositionellen am Runden Tisch und endete mit freien Parlamentswahlen zur letzten DDR-Volkskammer, die den juristischen Weg der DDR zur Einheit ebnete.
Damit vollzog die DDR inmitten von all den leidenschaftlichen Aufständen und der Entstehung neuer politischer Kräfte im Ostblock als einziges ehemals sozialistisches Land den sofortigen, friedlich verhandelten direkten „Beitritt“ zum Westen.
Waren diese Ereignisse nun eine Folge authentischer Revolutionen, die in einer Art Kettenreaktion zwischen 1989 und 1992 stattfanden? Oder waren es mehr oder weniger unvermeidliche Umwälzungen, Umbrüche, Transformationen, gar Konterrevolutionen oder Mafiaputsche?
In der deutschen Alltagssprache hat sich für die Ereignisse im Herbst 1989/Frühjahr 1990 der Terminus „Wendezeit“ fest etabliert. Für einen politisch sensiblen Sprachgebrauch ist das Wort „Wende“ eher diskreditiert, da es Honeckers Nachfolger Egon Krenz bei seiner Machtübernahme am 18. Oktober 1989 verwendete. Er versprach: „Wir werden eine Wende einleiten!“ Gemeint war: Wir werden eine Gegenrevolution mittels der verbalen Umarmung des ganzen Volkes einleiten, wenn man uns handeln lässt.
Wendland - ein Transparent am 4. November 1989 in Ost-Berlin (© Holger Kulick)
Wendland - ein Transparent am 4. November 1989 in Ost-Berlin (© Holger Kulick)
Ob man nun das Wort „Wende“ politisch unbefangen für den Umbruch 1989/90 verwendet oder mit Krenz‘schem Hintersinn – klar ist, dass es sich dabei nur um die Ereignisse in der DDR handelt. Für das Ende des gesamten realen Sozialismus, einschließlich des sowjetischen Imperiums, taugt dieser Begriff nicht einmal als Kurzbezeichnung für die historische Revolution, die mindestens zehn Jahre vor 1989 in Polen begonnen und im Herbst 1989 ihren Höhepunkt erreicht hatte.
Faktoren einer Revolution
Für den Begriff „Revolution“ haben paradoxerweise diejenigen Ideologen in der Nachfolge der Theorie von Marx und Lenin die Definition geliefert, die wohl am wenigsten damit einverstanden wären, ihn hier anzuwenden. Eine soziale Revolution war gemäß dem verblichenen philosophischen Wörterbuch der DDR die grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft als Ganzes oder zumindest wesentlicher Teile der gesellschaftlichen Struktur. Dabei unterschied man die politische Revolution, die den Umschwung staatlicher Macht hervorbrachte von der Umwälzung der wirtschaftlichen Struktur in Richtung einer neuen Entfaltung der Produktivkräfte, die von den bestehenden Produktionsverhältnissen zunehmend eingeengt werden. Als Beispiel für den Vorgang „entlaufener“ Produktivkräfte kann die damalige stürmische Entwicklung der Mikroelektronik und Computertechnik angesehen werden, mit der die Produktionsverhältnisse im gesamten Ostblock in dieser Zeit immer weniger klarkamen.
Auf die gesamte Wirtschaft bezogen, lässt sich konstatieren, dass die Kluft zwischen dem, was dringend notwendig war und dem, was geleistet werden konnte, kaum noch geschlossen werden konnte. Das zeigte sich vor allem darin, dass nach den Milliardenkrediten für die DDR die damit entstandenen
Wenn das Missverhältnis zwischen den wachsenden Produktivkräften und den die Selbstreproduktion der Gesellschaft herstellenden Produktionsverhältnissen immer größer wird, dann „reift“, wie wir es in der Vorlesung zum Marxismus-Leninismus blumig hören konnten, „eine revolutionäre Situation heran“. Allerdings, wann und wo die Revolution ausbrechen und ob sie erfolgreich sein oder niedergeschlagen werden würde, das hinge wiederum von sehr viel mehr Faktoren ab, als nur von der prärevolutionären wirtschaftlichen Situation. Hier kämen eine ganze Reihe politischer Konstellationen und Machtverhältnisse ins Spiel, ebenso die spezielle Mentalität des jeweiligen „revolutionären Subjekts“, wie etwa seine Entschlossenheit oder seine Kompromissfähigkeit, wenn es Spitz auf Knopf steht.
Wer die sozial- und wirtschaftspolitische Situation im Ostblock des Jahres 1989 mit derjenigen ungefähr zehn Jahre später vergleicht, wird anerkennen müssen, dass in diesem Jahrzehnt in allen betroffenen Staaten ein grundlegender Wandel des gesellschaftlichen Systems, also eine revolutionäre Umwälzung stattgefunden hat. Die Eigentumsverhältnisse haben sich völlig verändert. Private Eigentümerschaft anstelle von sogenanntem Volkseigentum hat sich in allen relevanten Bereichen der Volkswirtschaft durchgesetzt. Der Zugriff auf das Sozialprodukt ist nicht mehr gesamtstaatlich geregelt, also letztendlich durch eine Herrscherkaste („Nomenklatura“), sondern es wurde zu frei handelbarem Kapital, ohne auf materielle Gegenstände oder Immobilien beschränkt zu sein. In abstrakter Form liegt es nunmehr vor allem als weltweites Finanzkapital vor, in geldwerten Beträgen, die jegliche Deckung durch Sachkapital angeblich bei weitem überschreiten.
Wie konnte es zu einer derartigen Entwicklung kommen, die eigentlich durch die Schlussakte von Helsinki für immer und einvernehmlich verhindert worden war? Für überzeugte Marxisten muss sich das als komplette Konterrevolution darstellen, als Rückfall in eine historische Epoche längst überwundener Produktionsverhältnisse.
Für die Analyse dieser merkwürdigen Umkehrung der historischen Tendenz lohnt es sich, auf historische Analogien, vor allem auf das Paradigma aller modernen Revolutionen, nämlich die Große Französische Revolution zu schauen. Es ist aufschlussreich, dass nicht nur alle Theoretiker dieser Revolution im 19. Jahrhundert, sondern auch die Praktiker im 20. Jahrhundert diese im Blick hatten. Man liest das anschaulich in Lenins und Trotzkis Schriften. Sie lebten, wie sie sich einbildeten, bereits eine Epoche weiter, und meinten, eine Wiederholung auf höherer Ebene mitzuerleben: Revolution und Gegenrevolution, den Sturz der Monarchie, die Konstituante und den Liberalismus, Bürgerkrieg und Invasion der Großmächte, und schließlich den „Sowjetthermidor“ (Trotzki) als Charakterisierung von Stalins Terrorherrschaft. Man verglich die „Diktatur“ der Bourgeoisie 1793 mit der des Proletariats zur Festigung der neuen Gesellschaftsordnung. Bei einem wichtigen Faktor wurde allerdings gemogelt: Im Gegensatz zum französischen Vorläufer hatte die Externer Link: Oktoberrevolution (noch) kein Klassen-Subjekt, keinen echten Träger: weder die Bauernklasse noch das Industrieproletariat Russlands waren dafür „reif“ im Sinne von Marx und Engels. So blieb es bei der Diktatur einer sich in den revolutionären Auseinandersetzungen an die Macht geputschten Partei, nicht einer, die historischen Gesetzen folgend, die Führung übernommen hatte.
Auftakt mit „Solidarność“ - Aufstandsbewegungen gegen die Parteidiktatur
70 Jahre später kam es in allen Ländern des Ostblocks, eingeleitet von der polnischen Arbeiterbewegung „Solidarność“, parallel oder nacheinander zu Aufstandsbewegungen gegen die Parteidiktatur. Es waren teils soziale Protest- teils nationale Unabhängigkeitsbewegungen, sie waren also politischer Natur, von Unzufriedenheit mit dem System angetrieben und nicht von absoluter Verelendung. Sie bewirkten zunächst die Abschaffung der Parteiherrschaft, der Regierungs- und Verwaltungskader. Im Unterschied zu den historischen Vorbildern besaßen die revolutionären Proteste kein „revolutionäres Subjekt“, das heißt keine durch ihr Verhältnis zu den Produktionsverhältnissen sich konstituierende Klasse. Das stellte sich bald heraus, als nach den erfolgreichen politischen Aufständen die Frage auf der Tagesordnung stand, wie denn nun mit dem sozialistischen Eigentum an Produktionsmitteln zu verfahren sei.
Rückerinnerung 1989: Am 27. November '89 berichten Mitglieder der Oppositionsgruppe "Neues Forum" in der Kirche Oberschönweide in Ost-Berlin über ihr Gespräch mit dem SED-Funktionär Günter Schabowski. Das Bild zeigt den Autor dieses Textes, Prof. Jens Reich, neben der Malerin Bärbel Bohley, beide waren Mitbegründer der Oppositionsgruppe "Neues Forum". (© picture-alliance, Volkmar Hoffmann)
Rückerinnerung 1989: Am 27. November '89 berichten Mitglieder der Oppositionsgruppe "Neues Forum" in der Kirche Oberschönweide in Ost-Berlin über ihr Gespräch mit dem SED-Funktionär Günter Schabowski. Das Bild zeigt den Autor dieses Textes, Prof. Jens Reich, neben der Malerin Bärbel Bohley, beide waren Mitbegründer der Oppositionsgruppe "Neues Forum". (© picture-alliance, Volkmar Hoffmann)
Es gab zwar einige mehr oder weniger detailliert ausgeführte Konzepte einer Wiederbelebung der bankrotten Nationalökonomie. Letztlich erwies es sich jedoch als illusionär, auf einen so langsamen Prozess zu setzen. So kam es, dass die Anhänger einer umfassenden Reform, eines „Aufräumens der DDR“, beiseite gedrängt wurden und statt dessen in großer Eile der vollständige Umbau „von oben“ her eingeleitet wurde, beginnend mit allgemeinen Wahlen zur letzten Volkskammer im März 1990. Dies bedeutete sofort das Primat der Exekutive, die mit etwas fragilen politischen Mehrheiten die Bedingungen der Abwicklung der DDR mit der viel stärkeren bundesrepublikanischen Exekutive auszuhandeln hatte.
Die mehr oder weniger spontane demokratische Aufstandsbewegung im Herbst 1989 hatte im Handumdrehen die real existierende Staatsstruktur der DDR einschließlich ihrer Verfassung obsolet gemacht. Am Runden Tisch wurde die Regierung Modrow als provisorische Verwaltung im Interesse der Vermeidung eines chaotischen Staatszusammenbruchs toleriert. Wie bei den berühmten historischen Vorläufern (Konstituante in Frankreich 1989 und Weimarer Nationalversammlung von 1919) hätte nun eine Wahl zur Bildung einer verfassunggebenden Versammlung auf der Tagesordnung gestanden, so wie es auch bei der Gründung der Bundesrepublik 1949 eingehalten wurde. Der verfassunggebende Prozess wurde allerdings von dem Bestreben überholt, so schnell wie möglich freie Wahlen zu einer Legislative zwecks Bildung einer demokratischen Regierung abzuhalten. Zu einer verfassunggebenden Versammlung kam es deshalb nicht mehr.
Meilenstein: Das „Verfassungsgrundsätzegesetz“ vom 17. Juni 1990
Aus diesem Grund mussten nun in einer Art Urzeugung eine demokratische Legislative (Parlament) und Exekutive (Regierung) aus dem Boden gestampft werden, ohne dass eine vollständige Staatsstruktur mit Verfassung auch nur in Angriff genommen werden konnte. Die gewählte Volkskammer lehnte mehrheitlich die Befassung mit dem formal und zum Teil inhaltlich an das Grundgesetz angelehnten Verfassungsentwurf des Runden Tisches ab. Es wurde widerstrebend die delegitimierte Verfassung der DDR in Gültigkeit gehalten, jedoch ergänzt durch ein grobschlächtig formuliertes „Verfassungsgrundsätzegesetz“ (vom 17. Juni 1990). Nur wenige in der DDR-Bevölkerung werden begriffen haben, dass bereits mit der Akzeptanz dieser trojanischen Schindmähre die Rückverwandlung von der sozialistischen zur kapitalistischen Gesellschaftsformation mit sozusagen einem Federstrich staatsrechtlich vollzogen war. Grundsatz Nr. 2 in dieser Verfassungskarikatur erlaubte privates Eigentum an produktivem Grund und Boden sowie Produktionsmitteln und legalisierte damit sämtliche Eigentums-Übertragungen und -Rückübertragungen, die dann schon vor dem eigentlichen Vollzug der Deutschen Einheit und natürlich vor allem danach stattgefunden haben.
Die Erzählung von der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals in den übrigen Ländern des Ostblocks hat viele Kapitel und Varianten. In einigen Ländern wurde die Übergabe von Anteilsscheinen des Volkseigentums an die Staatsbürger und -bürgerinnen durchgeführt. Die Ergebnisse werden in der ökonomischen Literatur unterschiedlich bewertet. In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind die negativen politischen Folgen der sich folgerichtig entwickelnden Oligarchiestrukturen offensichtlich. In der Nach-DDR haben die verschiedenen Formen der Privatisierung des Produktionskapitals sicher die „Übernahme“ (Kowalczuk) durch den Westen befördert.
Rückerinnerung 1994: Jens Reich (r.) unter den Kandidierenden um die Nachfolge Richard von Weizsäckers im Amt des Bundespräsidenten. Der CDU-Kandidat Roman Herzog, die FDP-Frau Hildegard Hamm-Brücher und rechts neben ihnen Jens Reich am 6. Februar 1994 vor dem Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar. Der Molekularbiologe Jens Reich,1939 in Göttingen geboren und in Halberstadt aufgewachsen, studierte an der Humboldt-Universität Berlin und promovierte 1968. Als "Bürgerpräsident" wurde er im Juni 1993 von einer Prominenten-Initiative als einziger parteilich unabhängiger Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten nominiert, aber erhielt keine Mehrheit. (© picture-alliance/dpa, Ralf Hirschberger)
Rückerinnerung 1994: Jens Reich (r.) unter den Kandidierenden um die Nachfolge Richard von Weizsäckers im Amt des Bundespräsidenten. Der CDU-Kandidat Roman Herzog, die FDP-Frau Hildegard Hamm-Brücher und rechts neben ihnen Jens Reich am 6. Februar 1994 vor dem Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar. Der Molekularbiologe Jens Reich,1939 in Göttingen geboren und in Halberstadt aufgewachsen, studierte an der Humboldt-Universität Berlin und promovierte 1968. Als "Bürgerpräsident" wurde er im Juni 1993 von einer Prominenten-Initiative als einziger parteilich unabhängiger Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten nominiert, aber erhielt keine Mehrheit. (© picture-alliance/dpa, Ralf Hirschberger)
Die „Rückrevolution“ der Gesellschaftsformation in den ehemaligen Volksdemokratien und der DDR in eine neue, modernere Form des Kapitalismus ist ohne ein historisches Subjekt erfolgt. Stalin hatte nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg und nach der Einverleibung dieser Länder angeordnet, dass die traditionellen kulturtragenden Schichten dort nicht zu vernichten, sondern in das neue System zu integrieren seien. In welchem Maße dies ernsthaft betrieben wurde und welche Ergebnisse es zeitigte, muss für jeden der osteuropäischen Nationalstaaten gesondert historisch untersucht werden. Diese hatten nur begrenzte Handlungsfreiheit, weil alles Grundlegende in Moskau entschieden und vorgeschrieben wurde. Andererseits konnten die Volksdemokratien im Laufe der 40 Jahre ihre traditionellen Kulturen regenerieren und weiterentwickeln.
Man sollte die Tatsache nicht übersehen, dass sie alle einen gewissen historischen Eigensinn entwickelten. Die Bevölkerungen lehnten sich sogar auf verschiedene Weise, oft unter Berufung auf ihre nationale Besonderheit, gegen die sowjetische Hegemonie auf. In Polen beispielsweise realisierte sich das Bündnis zwischen Arbeiter- und Bauernklasse und der Intelligenz auf ganz andere Weise als beabsichtigt, nämlich als revolutionäre Gegenmacht, wiederum mit Vorbildern aus der Französischen Revolution. In der sowjetischen Besatzungszone und der nachfolgenden DDR gelang es nach der NS-Diktatur und deren katastrophalen Ende von Anfang an nicht, die Tradition und Kultur tragenden Schichten erfolgreich in das neue Deutschland zu integrieren. Der offensichtliche Grund ist, dass die Regeneration unter nationalem Vorzeichen wegen der Spaltung Deutschlands in zwei „antagonistische“ Gesellschaftsformationen nicht möglich war. Den SED-Machthabern ist die Integration der verschiedenen Schichten auch dann nicht gelungen, als im Rahmen des Helsinki-Übereinkommens eine konkrete Übernahme durch den Westen für lange Zeit unrealistisch schien.
Eine zerschredderte Bürgerklasse
Nach dem Sturz der SED-Herrschaft versuchte man es 1990 mit einer Art Exhumierung des historischen Subjekts vergangener Revolutionen, nämlich der Bürgerklasse, scheiterte aber, weil die Partei im Laufe ihrer 40-jährigen Herrschaft das Bürgertum bis auf einige bildungsbürgerliche oder kirchlich gebundene Restbestände fast vollständig eliminiert hatte. Was sich an autochthoner oder nachgemachter DDR-Bürgerlichkeit bei der Treuhand und vergleichbaren Konstruktionen um reales oder kulturelles Kapital bewarb, scheiterte an fehlender ökonomischer oder kulturpolitischer Kreditwürdigkeit.
Es war nicht nur die Bürgerklasse, die im Laufe der DDR-Geschichte immer wieder durch den sozialpolitischen Reißwolf gedreht wurde und dabei ihre traditionelle Feinstruktur einbüßte. Nicht viel anders erging es der Arbeiterschaft, die zudem auch noch als herrschende Klasse verhöhnt wurde. Die Bauern verloren ihre soziale Identität durch die kampagnenmäßig in mehreren Schritten vollzogenen Kollektivierungsprozesse. Sie wurden zu lohnabhängigen und mit Leistungsprämien korrumpierten Landarbeitern, soweit ihnen nicht der Aufstieg aus der Bauernklasse in die Kaderschicht der leitenden Agronomen und LPG-Vorsitzenden gelang. Der eigene Boden blieb zwar Eigentum des Bauern in seiner Genossenschaft, aber sein eigentliches gesellschaftliches Schicksal war die lohnabhängige Arbeit für eine Genossenschaft oder ein Volkseigenes Gut. Die technische oder ökonomische Intelligenz-Schicht, definiert durch ein Diplom einer Fach- oder Hochschule, war eine Dienstklasse, die nur durch politische Qualifikation und Parteimitgliedschaft in höhere Sphären aufsteigen konnte, dort jedoch in ihrer dienenden Funktion umso gesichtsloser wurde. Die DDR-Gesellschaft war gleichsam ein sozialer Hohlkörper, in dem alle traditionellen Vernetzungen und Bindungen zerschreddert worden waren. Nicht das Individuum, wohlgemerkt, sondern die Gesellschaft war ausgehöhlt und starr geworden.
Die Nivellierung der sozialistischen Persönlichkeit zeigte sich vor allem als gespaltene Mentalität. In der vielgerühmten „Nische“ konnten Menschen sehr interessiert und offenherzig sein, zu erstaunlicher Kreativität in der nicht-industriellen Sphäre (sozusagen im Garten und Bastelraum) auflaufen und im Idealfall die Tugenden der verblichenen Bürger- und Bauernstände leben. In der Öffentlichkeit zeigten die meisten Menschen hingegen ein antrainiertes Verhalten, das man als „desinteressierte Persönlichkeit“ bezeichnen könnte. Bezeichnend dafür ist die Leere im Gesichtsausdruck, wenn DDR-Bürger und -Bürgerinnen unterschiedlicher Schichten gemeinsam veranlasst waren, sich die Verlautbarung eines Politfunktionärs anzuhören. Musste man hier sein öffentliches Gesicht zeigen, dann verloren die Gesichtsmuskeln augenblicklich die Spannung. Der Blick wurde leer, bis die notwendige Veranstaltung vorbei war und wieder Leben in die Physiognomie kam.
Ein tiefer sitzendes Merkmal der Nivellierung des Menschen als politisches Wesen war (zumindest in der DDR-Gesellschaft habe ich das beobachtet) eine leicht abrufbare üble politische Laune, mit der nicht wenige sogar die Bereitschaft verbanden, menschenverachtenden Stimmungen und Parolen nachzugeben.
Wir haben das im Jahre 1989 im späteren Verlauf der Aufstandsbewegung erfahren. In der Zeit davor war die schlechte Laune aus politischer Rücksicht meist vor der öffentlichen Wahrnehmung versteckt. Gelegentlich wurde sie von oben ausdrücklich ermuntert (zum Beispiel gegen die „faulen Polen“ von der Solidarność). Wie heiter und gelöst und mit offenen Augen haben wir demgegenüber in den Herbst-1989-Tagen die Menschen erlebt, in der Öffentlichkeit und bei politischen Demonstrationen (beispielhaft am 4. November in Berlin).