Standpunkte bewahren - trotz Brüchen. Ein biografischer Beitrag im Rahmen der Reihe "ungehaltene Reden" ehemaliger Abgeordneter der letzten DDR-Volkskammer. Das einstige Mitglied der SPD-Fraktion, Stefan Körber beschreibt, wie er als zeitweiliger Staatssekretär im Wirtschaftsministerium hinter die Kulissen der wirtschaftlichen Transformation Ostdeutschlands blicken konnte und beklagt die "Entwertung von Biografien und Know-how".
1947 geboren gehöre ich zur „Goldenen Generation" in Deutschland. Nicht das wir auf Rosen gebettet waren, die Nachkriegsjahre bis circa 1960 waren mühsam, aber wir mussten nicht in den Krieg ziehen. Zur Kubakrise 1961 sah es kurz anders aus aber die Weltmächte USA und UdSSR konnten sich arrangieren. Ich hatte eine gute Schulausbildung, die mich, wenn ich das Fach Staatsbürgerkunde ausklammere, in Verbindung mit dem Erziehungseinfluss meiner Eltern und der Medien aus Ost und West zu einem kritischen jungen Mann geformt hat. Denken hatten wir in der DDR ja gelernt!
Trotzdem die Eltern privatwirtschaftlich eine Drogerie betrieben, konnte ich nach dem Abitur das Studium der technischen Kybernetik – meinem Wunschstudienfach – aufnehmen. Mit Anfang 40 hatte ich mich mit meinem Leben in der DDR eingerichtet. Ich hatte einen interessanten Beruf, war verheiratet und hatte zwei Töchter. Wir hatten uns ein ansprechendes Heim geschaffen, besaßen ein Auto, ein kleines Kajütsegelboot und auch einen kleinen Garten. Alles in allem haben wir aus unserem Leben in der DDR das Beste gemacht und haben unser Leben gelebt. Es war Teil unserer Jugend und möglicherweise unser längster Lebensabschnitt. Den mitleidigen Blick meiner späteren westdeutschen Geschäftsführerkollegen zu unserer Existenz in der DDR habe ich nie verstanden. Aber sie kannten ja nur ihre Seite.
Richtig ist, dass auch ich mich seit dem Mauerbau 1961 und der Abschottung der DDR von der internationalen Entwicklung immer stärker eingegrenzt und bevormundet fühlte. Ständig waren mehr Tabus zu beachten und es zehrte an einem, wenn immer neue Grenzen aufgezeigt wurden. Schon als Schuljunge hatte ich mir mittags nach Schulschluss im DDR Fernsehen entweder die Fernsehfunk –Testfilmreihe, in der DEFA Filme gezeigt wurden oder im BRD Fernsehen die Übertragung von Bundestagsdebatten angesehen. Letztere, äußerst spannend! Nachdem Willy Brand mit seiner Interner Link: Ostpolitik auch für uns in der DDR Veränderungen bewirkte, schlug mein Herz für die SPD.
Nach ihrer Neugründung trat ich im Januar 1990 der SDP, wie sich die SPD in der DDR zunächst abkürzte, bei und errang für sie in Brandenburg an der Havel ein Mandat in der letzten Volkskammer der DDR, dem einzig demokratisch legitimierten Parlament in der DDR. Das Mehrheitsvotum, der Wahlsieg der konservativen Allianz für Deutschland zielte auf eine schnelle Widervereinigung und zügiger Umstellung der staatlich gelenkten Planwirtschaft der DDR in eine soziale Marktwirtschaft. Den Weg dorthin kannte niemand, für empirische Versuche war keine Zeit. Welche Verantwortung lastete plötzlich auf unseren Schultern.
Die D-Mark und die Transformation der Wirtschaft
Nachdem mich meine Fraktion als parlamentarischen Staatssekretär ins Wirtschaftsministerium empfahl, wurde ich Mitte Mai 1990 dorthin berufen, stieg meine Verantwortung, denn der Arbeitsauftrag des Wirtschaftsministeriums bestand einzig in der Schaffung von Voraussetzungen für die Transformation der DDR-Wirtschaft, die zukünftig dem freien Markt ausgesetzt sein würde.
Nachdem das DDR-Wirtschaftsministerium spiegelbildlich zum Bundeswirtschaftsministerium strukturiert wurde, wurden auch wirtschaftsrelevante Gesetze der Bundesrepublik-Alt im Eiltempo zum Gesetz auf dem Gebiet der noch DDR. Im 1. Staatsvertrag wurde dieses Gesetzespaket unter der Überschrift „Wirtschaftsunion“ zusammengefasst. Daraus resultierte dann, dass Kombinate in Aktiengesellschaften umzuwandeln waren und deren Vermögen mit Stichtag 1. Juli 1990 in D-Mark in der Eröffnungsbilanz zu erfassen war. In einer zentralen Veranstaltung vor DDR-Wirtschaftsführern hatte ich das zu vertreten. Eine Aufgabe, die viele Betriebe zunächst überforderte. Mit dem Treuhandgesetz der Volkskammer vom 17.Juni 1990 nahm der Transformationsprozess der ostdeutschen Wirtschaft konkrete Gestalt an. Die Treuhandanstalt (THA) war gesetzlich mit einem klaren Arbeitsauftrag institutionell verankert. Sie unterliegt nunmehr der Dienstaufsicht des Ministerpräsidenten, die Satzung der Treuhandanstalt ist durch den Ministerpräsidenten der Volkskammer vorzulegen. Beides Institutionen, die es mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik dann nicht mehr gab!
§5 des Treuhandgesetzes „Einnahmen und ihre Verwendung“ ging noch von positiven Einnahmen des Privatisierungsvorganges aus und sieht sogar die Möglichkeit vor, das „.. Sparern ein verbrieftes Anteilsrecht am volkseigenen Vermögen eingeräumt werden kann“.
Die Entwertung von DDR-Biografien und Know-how
Mit der Widervereinigung wurde die THA als Anstalt des öffentlichen Rechts faktisch zum Funktionalorgan der Bundesregierung, angeleitet durch das Bundesfinanzministerium in Abstimmung mit dem Bundeswirtschaftsministerium. In Vorstand und Verwaltungsrat (Ausnahme: Ministerpräsidenten neue Bundesländer) saß bald kein ostdeutscher Vertreter mehr. Ende 1994 gab es etwa 14.000 privatisierte Unternehmen und Betriebsteile und von den rund 4 Mio. Arbeitsstellen in Treuhandunternehmen blieben Ende 1994 allenfalls eineinhalb Millionen übrig. Welche katastrophale Entwertung von Biographien und Know-how war hier erfolgt! Zugleich hatte die THA ein Schuldenberg von 230 Mrd. D-Mark angehäuft. Wie war das möglich?
Ideologisch geprägte Geister haben dann oft die These von der „Schrottwirtschaft“ der DDR vertreten. Ich empfinde diese Auffassung noch heute als diskriminierend. In meiner beruflichen Tätigkeit vor 1990 hatte ich das Glück einem Spezialistenteam anzugehören, das DDR-weit im Sektor Metallurgie die Inbetriebnahme moderner Anlagentechnik zu begleiten hatte, die oft aus dem damaligen kapitalistischen Ausland importiert wurde. Ich habe so einen eigenen Blick auf die Dinge bekommen. Renommierte Wirtschaftswissenschaftler sahen die DDR-Wirtschaft 1990 etwa auf dem realen Leistungsstand von Portugal, die innere und äußere Staatsverschuldung/Kopf der Bevölkerung der DDR lag bei ca. 5.400 D-Mark, analog für die Bundesrepublik bereits bei circa 11.700 D-Mark.
In einem Lehrgang für Unternehmensberater, den ich Anfang der 90er Jahre abschloss hat sich mir ein Satz eingeprägt: Es genügt nicht, eine Fabrik zu haben, sondern man braucht auch einen Markt für deren Produkte. Und der Markt brach nahezu vollständig weg.
Mit der Währungsunion vom 1. Juli1990 wurde ein Preis-Kosten Verhältnis herbeigeführt, das eine kostendeckende Produktion nicht mehr ermöglichte. Die DDR als Billiglohnland fiel weg und osteuropäische Handelspartner, die ab 1991 ihre Waren in D-Mark bezahlen sollten, waren dazu nicht mehr in der Lage. Der Binnenmarkt (Lebensmittel, Konsumartikel) brach ebenfalls weg, weil die Neubundesbürger lieber Originalartikel einkauften. Erst gegen Mitte der 90er Jahre gelang es Spitzenprodukten der nun privatisierten DDR-Lebensmittelindustrie wie zum Beispiel „Rotkäppchen-Sekt“, „Bautzener Senf“, „Filinchen“, "Spreewaldgurken" u.a.m. in Supermarktketten gelistet zu werden.
Mit dem Austritt der SDP aus der Koalition aufgrund einer Vielzahl von Gründen endete am 20. August.1990 meine Mitarbeit in der Regierung. Einen Tag vorher hatte ich mit EU-Kommissar Karel van Miert die Einbeziehung der Stahlindustrie der DDR in die Regularien des EGKS-Vertrages besprochen [EGKS ist die Abkürzung für Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl]. Die letzte DDR-Regierung hat in kurzer Zeit sehr viel leisten müssen aber die Anerkennung der frei gewählten Regierung der DDR im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland ist bis zum heutigen Tag leider eine unerledigte Aufgabe.
In die Zeit im Wirtschaftsministerium fällt auch die Berufung in Aufsichtsratsgremien großer Unternehmen. Als Beispiel genannt sei der Aufsichtsrat der EKO Stahl AG in Eisenhüttenstadt, dem ich bis Ende 1994 angehörte. Dies ermöglicht mir tiefere Einblicke in das Interessengeflecht das beim Transformationsprozess der ostdeutschen Wirtschaft Wirkung entfaltete. Nach Verabschiedung des Treuhandgesetzes entwickelt sich die Behörde Treuhand unter der neuen Führung von Dr. Rohwedder zielgerichteter. Das Wirtschaftsministerium verlor zunehmend an Einflussnahme auf die DDR-Wirtschaftsunternehmen. In der Exekutive erfolgte am 20. August mit dem Rückzug der SDP aus der Regierung für mich eine Absenkung der Arbeitsintensität von 150 Prozent auf null. Aber die Volkskammer erforderte weiterhin die ganze Kraft. Eine Sitzung jagte die Nächste. Exekutive und Legislative arbeiteten angestrengt an den letzten Formulierungen des Einigungsvertrages.
Die erste Lesung fand am 6. September und 13. September 1990 statt, die zweite Lesung und Abstimmung über das Gesetzeswerk erfolgte am 20. September 1990.
Ein Ja mit Bedenken
Am 22. August 1990 fasste die Volkskammer mit der notwendigen 2/3-Mehrheit den Beschluss, am 3.Oktober 1990 der Bundesrepublik beizutreten. Am 20. September erfolgte dann die Abstimmung zum Einigungsvertrag. Hier habe ich unter Bedenken mit „Ja“ gestimmt, aber mit 13 weiteren Abgeordneten der SDP dies auch in einer Erklärung zum Abstimmungsverhalten deutlich gemacht. Mir reichten die vereinbarten Instrumente der Wirtschaftsförderung nicht aus, um den Strukturanpassungsprozess in der gewerblichen Wirtschaft in hinreichender Zeit unter sozialen Ansprüchen zu gewährleisten. Meine Einschätzung war nicht verkehrt, wie sich später herausgestellte.
Am 2. Oktober 1990 trat die Volkskammer zur 38. Tagung, zur letzten Sitzung zusammen und löste sich auf. Noch sind mir folgende Worte der Präsidentin im Ohr: „Wo immer Ihr Weg sie hinführen mag, ein reicher Schatz aus Erfahrungen wird Sie dazu begleiten, neue Herausforderungen werden sich stellen“. Und so war es dann auch.
Das Ländereinführungsgesetz der Volkskammer vom 22. Juli 1990 bildete die Grundlage für die Wahl zum Brandenburger Landtag, die am 14.10.90 stattfand. Mit einem beachtenswerten Votum von 39,3 Prozent wurde ich für die SPD in den Brandenburger Landtag gewählt, dem ich bis 1994 angehörte. Ich bin kein Wirtschaftswissenschaftler aber promovierter Diplomingenieur, der viele Jahre in der Industrie von der Entwicklung bis zur Investitionsrealisierung, in verschiedenen Funktionen tätig war. Den zeitgemäßen Bewertungsstandard für Unternehmen, der auch von den nun allgegenwärtigen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften angewandt wurde, habe ich mir in einem Lehrgang für Unternehmensberater angeeignet. Ich konnte folglich – in Verbindung mit den o.g. Aufsichtsratsmandaten besser als andere Abgeordnete verstehen, vor welchen Problemen die Unternehmen jetzt standen, die dem Privatisierungsziel unterworfen waren.
Dies war auch für den im Jahr 2020 verstorbenen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe der Grund, mich ab und zu als seinen Vertreter in den Verwaltungsrat der THA zu delegieren. An den Beratungen habe ich dann als Gast teilgenommen. Mittlerweile auch Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses im Brandenburger Landesparlament hatte ich voll damit zu tun, den Transformationsprozess von Unternehmen im Land zu begleiten, und Neuansiedlungen und den Aufbau des Mittelstandes zu fördern.
Im Westen kaum Gespür für den Wandel im Osten
Schnell wurde ich auch Mitglied im Arbeitskreis Allgemeine Wirtschaftspolitik der SPD, dem Kocheler Kreis. Hier kam ich mit führenden Wirtschaftspolitikern der SPD im Bund zusammen und es fand ein reger Gedankenaustausch statt. Hier musste ich auch erkennen, dass meinen Genossen aus den Altbundesländern überhaupt nicht bewusst war, welche auch persönlich einschneidende Zäsur der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik für deren Bürger bedeutete – ich nenne hier nur einmal die Stichworte: Arbeitsplatzverlust, Qualifikations- und Biographieentwertung.
Wohin sollte die Entwicklung des Landes Brandenburg zielen? Reichte die Orientierung am Partnerbundesland Nordrhein-Westfalen, aus dem viele Aufbauhelfer in die Brandenburger Politik kamen oder konnten wir auch einiges besser machen? Um einen weiteren Blick zu bekommen, unternahm der Wirtschaftsausschuss unter meiner Leitung Studienreisen nach Großbritannien (1991) und in die spanische Boomregion Katalonien(1992). In London staunten wir nicht schlecht, wie sich die ehemaligen verfallenen Docklands zu einem internationalen Finanzcenter gemausert hatten. Magret Thatcher war es dann vorbehalten durch die nahezu vollständige Deregulierung der Finanzmärkte den zerstörerischen Neoliberalismus in Europa zu etablieren. Wir sahen Technologiezentren aber auch Bauhöfe in denen arbeitslosen Jugendlichen und Umschülern das ABC des Maurerhandwerks beigebracht wurde.
Kontakte nach China und in die USA
Mit dem Vizelandtagspräsidenten und einem Vertreter der Industrie- und Handelskammer IHK wurde ich bereits im Jahr 1991 zu einem Besuch nach China eingeladen. Der Kontakt in die Stadt WUXI, einer 4 Millionenmetropole in der Nähe von Shanghai, kam auf Initiative der chinesischen Seite zustande und wurde durch einen ehemaligen Mitarbeiter des DDR Außenhandels vermittelt. Der damalige chinesische Ministerpräsident Li Peng hatte gerade die Weisung herausgegeben, „ ..insbesondere in Ostdeutschland mit Firmengründungen und gegenseitigen wirtschaftlichen Aktivitäten zur praktischen Zusammenarbeit zu kommen“.
Öffentliche politische Kontakte mit dem Reich der Mitte wurden damals in Europa vermieden, die Ereignisse am Tian`anmen-Platz waren noch frisch in Erinnerung. Wir hatten überhaupt keine Vorstellung, was uns in China erwartete. Zurückgekommen sind wir mit der Erkenntnis, ein wirtschaftlich hochdynamisches Land mit einer sehr engagierten Bevölkerung kennengelernt zu haben. Die Entwicklung hat das bestätigt und einige der Kontakte haben sich in der Folgezeit sehr positiv entwickelt und wurden auch von späteren Delegationen genutzt. In Abstimmung mit der Präsidentin der Treuhandanstalt, Birgit Breuel, wurden der chinesischen Seite relevante Broschüren der THA zur Privatisierung und ihr aktuelles Firmenverzeichnis mit dem Hinweis überreicht, sich an deren Privatisierung aktiv zu beteiligen.
Kontrastprogramm USA im Jahr 1993. Hier gehörte ich einer Delegation von Abgeordneten Deutscher Landtage an. Es ging mehr um den Einblick in das politische System der USA. Hängengeblieben bei mir ist der große Kontrast zwischen Arm und Reich, der vom politischen System zugelassen und gefördert wird. Die Villen der Reichen auf der einen Seite der Stadt und Straßen mit lodernden Altreifen und johlenden, bekifften Teenagern drum herum auf der anderen Seite – alles in einer zweieinhalb stündigen Bustour durch Chicago habe ich in bleibender Erinnerung. In Chicago, Illinois, North Carolina und Washington konnten wir zahlreiche Gespräche mit Politikern führen. Umweltschutzbetrachtungen steckten in der politischen Administration in ersten Anfängen. Und auch das Thema Rassismus blieb uns nicht verborgen. Die USA-Reise half mir ein eigenes Bild von dem Land zu machen. Die kritiklose Hinwendung vieler Mitbürger in Richtung USA konnte ich nicht mehr verstehen. Und heute, da die Defizite des präsidial geprägten US-amerikanischen Systems – nicht nur wegen Corona - immer offensichtlicher zu Tage treten, darf man glücklich sein, hier in der Bundesrepublik zu leben.
Neben solchen Horizonterweiterungen, an die ich mich gern erinnere, gab es natürlich auch im Landtag eine Menge Arbeit. Ein Höhepunkt war die Verabschiedung der Landesverfassung. Allein 256 ins Parlament eingebrachte Gesetzentwürfe standen auf der Tagesordnung des ersten Brandenburger Landtags. So viel Arbeit kam auf keinen Landtag nach uns zu. Aber es war notwendig, um das Land Brandenburg auf die Beine zu stellen.
Plötzlich im Fokus der Presse
Im Sommer 1993 wurde ich plötzlich Objekt einer öffentlichen Kampagne. Was war geschehen? Ich war in eine größere Mietwohnung eingezogen, die vor Einzug durch die örtliche Wohnungsbaugesellschaft vom heruntergekommenen DDR-Niveau auf den Stand des sozialen Wohnungsbaus der Bundesrepublik “hochsaniert“ worden war. Eine „Luxussanierung“ bestimmte im Sommer 1993 die Schlagzeilen im Sommerloch. Regionale und überregionale Presse fielen über mich her, schnell kam ich mir vorverurteilt vor. Mit Ausnahme der Bild-Zeitung hielt es kein Journalist für nötig, einen Blick auf das „Korpus Delikti“ zu werfen beziehungsweise mit unserer Familie zu sprechen. Objektivität in der Berichterstattung hatte ich mir in einer freien Presse anders vorgestellt.
Meine Partei gab mir keinen Rückhalt, wohl auch, weil 1993 die Transformationsbrüche auf ihren Höhepunkt zusteuerten. Ein eingeleitetes Ermittlungsverfahren gegen mich wurde allerdings nach kurzer Zeit niedergelegt. Juristisch ist mir kein Fehlverhalten angelastet worden, politisch war ich aber verbrannt. Aus Enttäuschung und Schmerz trat ich aus der SPD aus und blieb bis zum Ende der Legislaturperiode fraktionsloser Abgeordneter.
Die viereinhalb Jahre in der Politik waren die bisher intensivsten in meinem bisherigen Leben. Einen nochmaligen Einzug in den Landtag habe ich 1994 als Kandidat einer freien Wählergemeinschaft versucht, aber nicht mehr geschafft.
Meine Bilanz, nicht nur als zeitweiliger Volkakammerabgeordneter in der DDR? Politik als eine Tätigkeit, die Gestaltungsmöglichkeiten bietet, hat mir Spaß gemacht und ich habe mich mit ganzer Kraft eingesetzt und auch für meine Heimatstadt Brandenburg einiges erreicht. So habe ich an der Gründung der heutigen Technischen Hochschule mitgewirkt und deren Aufbau im Gründungssenat begleitet. Auch dass das Oberlandesgericht sich in der Stadt Brandenburg etablieren konnte, kann ich mir „mit auf die Fahne schreiben“.
Schwierige Neuorientierung
Oft war ich nur als Schlafgast zu Hause. Meine Frau – als Pädagogin auch berufstätig – hielt mir den Rücken frei und war für unsere zwei Töchter und meine invalidisierte Mutter da. Heute kann ich besser einschätzen, was sie damals geleistet hat. Wie viele meiner Mitbürger war ich aber plötzlich ohne Arbeit, das Unternehmen, das ich 1990 verließ, existierte nicht mehr, der Nachfolgebetrieb hielt sich an die ursprüngliche Delegierung nicht mehr gebunden. Wie sollte ich nun meine Brötchen verdienen? Sollte ich Autoverkäufer, Versicherungsvertreter oder Dozent für Umschulungsmaßnahmen werden?
Anfang 1995 bewarb ich mich im Brandenburger Wirtschaftsministerium auf die ausgeschriebene Stelle eines „Regionalbetreuers Berliner Umland“. Ich wurde eingestellt und hatte meinen Arbeitsort von nun an in der Stadt Oranienburg. Pendeln war ich ja seit 1990 gewöhnt und bei einem Dieselpreis von rund einer D-Mark pro Liter war das ökonomisch auch darstellbar. Ich war jetzt Ansprechpartner und Mittler für Wirtschaftsakteure in der Region, die Unterstützung von Seiten der Landesregierung erwarteten. Meine erste Aufgabe bestand in der Kartierung der wie Pilze aus dem Boden schießenden Gewerbegebiete und Erfassung ihrer Auslastung. Aufnahmebereit waren sie, aber häufig nur spärlich belegt. Kritik wegen verpulverter Millionen wurde laut. In meiner Heimatstadt Brandenburg konnte ich verfolgen, dass erst im Jahr 2020, das heißt nach mehr als 25 Jahren, alle Flächen im damals ausgewiesenen Gewerbegebiet „ehemaliges Opelgelände“ einen Erwerber gefunden haben. „Blühende Landschaften“ sind in wenigen Jahren halt nicht zu errichten.
Im Jahr 1996 erreichte mich eine Anfrage des Fachverbandes Holz und Kunststoff des Landesinnungsverbands des Tischlerhandwerks (LIV) im Land Brandenburg. Ob ich mir vorstellen könnte, die Geschäftsführung des Verbandes zu übernehmen. Ich sagte zu, sprang einmal mehr ins kalte Wasser und führte den LIV bis ins Jahr 2005. Der LIV ist eine Interessenvertretung des Tischlerhandwerks, deren Mitgliedschaft freiwillig ist und von den Mitgliedern finanziert wird, aber unter Rechtsaufsicht des Landeswirtschaftsministeriums steht. Jetzt war ich in der Privatwirtschaft angekommen, ganz nahe an deren Akteuren und hatte mich für ihre Belange einzusetzen.
Es war eine konfliktreiche Zeit für die Tischlermeister im Land und für den Verband. Freier Markt, freier Wettbewerb, Anwendung neue Technologien und Maschinen, Anwendung neue Normen, plötzlich Material im Überfluss. Aber mit welchem Lieferanten arbeitet man zusammen? Eine neue Steuergesetzgebung war zu berücksichtigen, Fragen der Firmenfinanzierung bis zur Verpfändung des eigenen Vermögens über Banken - Hut ab vor allen, die den Weg in die Selbständigkeit gewählt und durchgestanden haben. Seit ungefähr zehn Jahren hat auch das Tischlerhandwerk wieder „goldenen Boden“. Hoffentlich bleibt das auch nach Corona so.
Von der Industrie kam in den 90er Jahren der Druck, ihre Erzeugnisse über Spezialisten mit Teilqualifikationen, die Handwerker der Handwerksrolle B in den Markt zu drücken. Das Tischlerhandwerk konnte sich dieser Entwicklung entziehen und blieb Gewerk des Vollhandwerks mit Ausbildungsberechtigung auch Dank der Verbandsarbeit. Unter Schirmherrschaft des Bundesverbandes entwickelte die Verbandsorganisation geprüfte Produkte, die von den Mitgliedsunternehmen alternativ in Lizenz gefertigt werden konnten. Wir gaben Unterstützung im Marketingbereich und waren für die Unternehmen im Weiterbildungsbereich aktiv.
Trotz aller Bemühungen wurde auch für den Verband die Luft enger. Der Solidargedanke, der in den ersten Jahren nach 1990 noch trug, wurde seitens der Mitgliedschaft in angespannter Wirtschaftslage zunehmend durch eine Kosten-Nutzensrechnung verdrängt. Es gelang nicht, die Zahl der Mitglieder stabil zu halten. Ende des Jahres 2005 kündigte mir der Verband aus wirtschaftlichen und strukturellen Erwägungen und ich wurde mit 58 Jahren arbeitslos.
Über die Arbeitslosigkeit habe ich dann im Jahr 2008 mit Abschlägen die frühzeitige Rente erreicht. Auch meine Frau hat als Pädagogin die angebotene Altersteilzeit genutzt und so sind wir beide am 1. August 2008 In Rente gegangen. Der Rest ist schnell erzählt:
Als erstes haben wir unser Hobby aus DDR-Zeit – unsere Segelboot reaktiviert. Auch hier hatte sich der Horizont erweitert. Die Ostsee war von nun an bevorzugtes Revier. Dänemark, Schweden, Polen, Niederlande – was für ansprechende Länder. Länder, die wir mit unserem Boot nicht erreichen konnten, und die uns interessiert haben, haben wir mit dem Flieger oder per Schiffsreise besucht, auch unsere jüngste Tochter, die in Lissabon heimisch geworden ist. Unsere Ältere wohnt mit unseren zwei Enkeln in Jena. Hier beneiden wir unsere Freunde, deren Kinder und Kindeskinder in der Nähe wohnen und sich so gegenseitig unterstützen können. Mit jetzt 73 Jahren steht schon einmal mehr die Erhaltung der Gesundheit im Vordergrund. In der Corona-Krise besonders. Corona zeigt aber auch, wie anfällig unsere „hochgezüchtete“ und global vernetzte Welt geworden ist. Corona offenbart aus meiner Sicht die Defizite des neoliberalen Kapitalismus in erschreckender Weise. Weiter so?
Wie viele Andere habe ich Ausstieg, Aufstieg, Abstieg, und Umstieg selbst erlebt. Langweilig war es nicht und ich kann mich glücklich schätzen, dies ohne existentielle ökonomische Brüche und bisher ohne große gesundheitliche Einbrüche gemeistert zu haben. Die Zeit nach 1990 hat viel Kraft gekostet. Den eigenen Standpunkt zu bewahren, wo „politikal correctness“ angezeigt war und honoriert wurde, war nicht immer einfach.
Als junger Mann hatte ich das Glück, mit der Fachrichtung „Technische Kybernetik und Automatisierungstechnik“ mein Wunschstudium aufzunehmen und abschließen zu können. Wird Automatisierung zukünftig dem Wohl der Menschheit dienen oder wird der Einsatz von Automaten (Industrie 4.0, selbstlernende Systeme, autonome Waffensysteme, Digitalisierung usw.) an den Menschen vorbei weiter nur der Profitmaximierung und dem Machtkampf dienen? Wie wird unsere Welt aussehen, wenn meine Enkelkinder 70 Jahre alt sind?
Aber auch sie werden, wie alle vorhergehenden Generationen ihr Leben meistern müssen, mit Umbrüchen, Aufbrüchen, aber auch Abbrüchen, wie ich sie erlebt habe.
Zitierweise: Stefan Körber, „Ausstieg, Aufstieg, Abstieg, und Umstieg", in: Deutschland Archiv, 18.09.2020, Link: www.bpb.de/315728.
Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden nach und nach folgen. Eine öffentliche Diskussion darüber ist im Lauf des Jahres 2021 geplant. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Stefan Körber ist promovierter Kybernetiker aus Brandenburg an der Havel. Er trat 1990 in die SPD ein. Von März bis Oktober 1990 war er Mitglied der ersten und einzigen frei gewählten Volkskammer der DDR und von 1990 bis 1994 Abgeordneter im Brandenburgischen Landtag, zuletzt als Fraktionsloser, nachdem er 1993 die SPD wieder verlassen hatte.
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