Mit jedem Tag der fortschreitenden Entwicklung 1989 in der DDR hatte man größere Angst um das Leben des reformfreudigen sowjetischen Staats- und Parteichefs Michail Gorbatschow.
Die fehlende Unterstützung der sowjetischen Regierung zum Erhalt des DDR-Machtapparats spürte auch die Bevölkerung. Damit wich die Angst einer immer größer werdenden Euphorie. In vielen Orten entstanden »Runde Tische«. Hier wurde über das weitere Vorgehen beraten.
Die einzelnen Vertreter waren zum einen selbst ernannte Patrioten und zum anderen Menschen, die mit Sachverstand eine andere DDR wollten. Es gab auch fanatische Besserwisser, die in keiner Gesellschaft gern gelitten sind. Inzwischen wurden sie so lange weggelobt, bis sie an der Stelle angekommen waren, an der man glaubt, sie verkraften zu können.
Auch in der CDU hatten wir im Vorstand so einen Mitstreiter. Wenn es nicht nach seinem Willen ging, weinte er. Die CDU hielt im November 1989 in Berlin einen Parteitag ab. Ich war einer der Delegierten. Unter anderem wurde Lothar de Maizière zum Vorsitzenden gewählt. Sehr positiv kam der Besuch des CSU-Generalsekretärs Erwin Huber bei den Anwesenden an. Obwohl man im Vorfeld gegen ihn eher etwas Abneigung empfand, wurde er nach seiner Rede mit viel Beifall bedacht. Ein Vertreter der westdeutschen CDU ließ sich leider nicht blicken. Hier wurde erstmals die anfängliche Fehleinschätzung der Arbeit der CDU in der DDR durch einige westdeutsche CDU-Führungsgremien deutlich. Ein CDU-Mitglied in der DDR hatte sich mit dem Eintritt in diese Partei eindeutig von den Statuten der SED distanziert und war damit im Denken der Machthaber eher feindlich gesinnt. Das wussten auch die vielen neuen Mitglieder der CDU, die erst nach der „Wende“ den Weg in diese Partei suchten. In der DDR hatten sie nicht den Mut dazu oder konnten sich keinen Vorteil in irgendeiner Art erhoffen.
Ich glaube, dass zu dieser Zeit die ersten Bilder der Regierungswohnsiedlung Wandlitz veröffentlicht wurden. Man möge es mir nachsehen, ich war über das bescheidene Wohnniveau unserer Oberen ziemlich betroffen. Da wohnte jeder westdeutsche Manager deutlich komfortabler. Entsprechend fielen ihre Witze zu diesem Thema bei späteren Treffen aus.
Hans Modrow, Wolfgang Berghofer und einige andere SED-Genossen, die als reformwilliger galten, versuchten, ein System zu retten, was nicht mehr zu retten war. Komischerweise hofierten auch verschiedene westdeutsche Institutionen diese Herren. Vermutlich konnte sich auch die Bundesregierung noch nicht vorstellen, dass die Sowjetunion dem Lauf der Dinge in der DDR tatenlos zusehen würde.
„Niemand hatte in den letzten 45 Jahren einen Wahlkampf organisiert“
Nachdem alle Versuche der SED zur Machterhaltung scheiterten, wurden für den 18. März 1990 erstmals freie Wahlen in der DDR vereinbart. Das war eine gänzlich neue Erfahrung. Niemand hatte in den letzten 45 Jahren einen Wahlkampf organisiert. Wir hatten es noch etwas einfacher als die neugegründeten Parteien wie der DA, die DSU, die SPD und „Demokratie jetzt“. Wir hatten bereits flächendeckende Strukturen. Mein Kollege konnte mich auf der sächsischen Kandidatenliste zur Volkskammer auf der 15. Stelle platzieren. Das war eine große Leistung, war doch der Andrang sehr groß. Diese Position war sehr aussichtsreich, denn dass die CDU die Wahl in Sachsen deutlich gewinnen würde, war uns aufgrund der Stimmungslage im Vorfeld klar.
Doch wieder kam aus den westdeutschen Reihen der CDU, vermutlich von Mitgliedern, die keine Verwandten in der DDR hatten, einiges Störfeuer. Der Begriff der »Blockflöten« für die Mitglieder der bisher bestehenden Parteien wurde in den alten Bundesländern kreiert und sollte die Arbeit dieser Parteimitglieder diskreditieren. Aber auch in der DDR gab es genug Leute, die sich zu keiner Zeit für die Arbeit der Parteien außerhalb der SED interessierten und nun plötzlich ziemlich arrogant als Insider agierten.
Viele Bürger, die sich zu Wortführern während der Demos aufschwangen, sind heute in der Versenkung verschwunden. Dabei spielten auch krasse Fehleinschätzungen der eigenen Wertschätzung in der Bevölkerung der DDR eine wesentliche Rolle. Vielfach galt auch in diesem Prozess der Spruch: Die Revolution frisst ihre Kinder. In einem Telex im Dezember 1989 bat ich den bundesdeutschen CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl, doch bitte seine Leute, die sich in ihrer Fehleinschätzung zur DDR-CDU hervortaten, sofort zurückzupfeifen. Wenn er diese Maßnahme durchziehe, sagte ich ihm ein hervorragendes Wahlergebnis voraus. In der Praxis habe ich mich nur um wenige Zehntel geirrt.
Den neuen Parteien standen viele, so auch ich, eher skeptisch gegenüber. Es musste jedem denkenden DDR-Bürger klar gewesen sein, dass die Stasi bei den Gründungen ihre Hände im Spiel hatte. Die westdeutschen Geheimdienste wussten wieder mal nichts, denn sonst hätten sie vor dem Rechtsanwalt Wolfgang Schnur gewarnt, dem Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs (DA), der zehn Tage vor der Volkskammerwahl als „IM Torsten“ aufflog.
Für die Stasi wäre es noch einmal eine Gelegenheit der intensiven Einflussnahme gewesen. Grundsätzlich war es aber dafür zu spät. Hier und da meinte man, die SPD könne die Wahl gewinnen. Das war für mich zu keinem Zeitpunkt nachvollziehbar, schon gar nicht in Sachsen. Vor allem aber konnte sich die SPD noch nicht zur deutschen Einheit bekennen, zu gegensätzlich waren die Positionen in der Partei. Große Teile der Bevölkerung waren da schon weiter. Meine Vorbehalte gegenüber Wolfgang Schnur vom DA waren, vom schlechten Gefühl her, größer als bei SPD-Geschäftsführer Ibrahim Böhme, der sich später ebenfalls als Stasi-IM herausstellte.
Nach und nach erkannten auch einige Leute aus der CDU der alten Bundesländer die Gefahr und favorisierten dann doch die Mannschaft um Lothar de Maizière. Der Wahlkampf verlief für die CDU sehr erfolgreich, da man bei den meisten Menschen offene Tore einrannte.
Prognosen, dass es zu einer großen Arbeitslosigkeit kommen würde, da eine hohe Zahl der Unternehmen der DDR nicht konkurrenzfähig war, wurden weitgehend in den Wind geschlagen. Ich kann mich an eine Veranstaltung in unserer Kreisstadt erinnern, als der regionale CDU-Vorsitzende des Bezirkes die Zuhörer bat, nicht sofort ein neues Auto zu kaufen und größere Urlaubspläne erst mal zu verschieben. Das hielt man für Schwarzmalerei, er wurde ausgepfiffen.
Der Wahlsieg des Bündnisses CDU/DSU/DA war am 18. März 1990 überwältigend. In Sachsen entfielen auf die CDU 17 bis 18 Mandate für die Volkskammer. Damit hatte ich den Einzug in das erste frei gewählte Parlament der DDR geschafft. Jetzt musste man aufpassen, um nicht noch in de Maizières Regierungsmannschaft zu kommen, denn in der Wirtschaft tätige Parlamentarier waren knapp. Ich meldete mich für den Finanzausschuss, weil mir in diesem Bereich die anstehenden Probleme besonders groß erschienen. Dabei war mir klar, dass diese Tätigkeit nur relativ kurz sein würde.
Mein Ausflug in die große Politik
Nachdem die Regierung um Ministerpräsident de Maizière stand, musste noch der Volkskammerpräsident, der auch gleichzeitig Präsident der DDR war, bestimmt und gewählt werden. Hier tat sich de Maizière schwer, da er aufgrund der anstehenden außerordentlich schwierigen Aufgaben die Last der Verantwortung gern etwas verteilt hätte. Dabei schwebte ihm als Kandidat offensichtlich Herr Stolpe von der SPD vor. Es folgte eine lange Diskussion zu diesem Thema. Um die immer länger andauernde Beratung abzukürzen, schlug ich die zufällig neben mir sitzende Frau Dr. Bergmann-Pohl aus Berlin für die Funktion des Volkskammerpräsidenten vor, obwohl ich die Frau bisher kaum kannte. Sie war auch über meinen Vorschlag ziemlich erschrocken – und wurde mit überraschend großer Mehrheit gewählt. Bei den sächsischen Mandatsträgern brachte mir mein Vorschlag herbe Kritik ein.
Während der Beratungen des Parlamentes erschien auch ab und zu die junge Angela Merkel und brachte Unterlagen für die Präsidiumsmitglieder. Ich glaube, sie war stellvertretende Pressesprecherin. Damals hat noch kein Mensch in ihr die erste deutsche Kanzlerin gesehen. Die Sitzungen der Volkskammer zogen sich wegen der großen Anzahl notwendiger Gesetzesvorlagen oft bis weit nach Mitternacht hin. Anschließend nächtigten wir in einem ehemaligen Stasihotel in Niederschönhausen oder fuhren nach Hause, um am nächsten Morgen pünktlich am Arbeitsplatz zu erscheinen.
Es war in jedem Fall eine außerordentlich interessante, aber auch anstrengende Zeit. Ich verlor bis Jahresende sechs Kilogramm Gewicht, obwohl ich schon schlank war. Die vielen Fahrten nach Berlin und zurück waren nicht ungefährlich. Vor allem, weil man oft übermüdet war. Andererseits konnte man damals auf der Autobahn Dresden – Berlin kaum einschlafen, weil der holprige Plattenversatz den heute zum Einsatz kommenden Spurassistenten ersetzte.
Zum Mittagessen suchten wir jeweils ein Restaurant im Palast der Republik auf. Dort standen wir dann wie in der Mensa in der Schlange. Am Brett der Speiseankündigung wurde unter anderem Teufelsbraten angeboten. Ich sagte zu meinem CDU-Kollegen, dass wir so etwas wohl nicht essen dürfen. Da drehte sich Gregor Gysi um und meinte, dass er dafür zweimal essen werde. Als PDS-Mitglied schien ihm der Teufel egal zu sein. Da ich mit Stanislaw Tillich aus der sächsischen CDU zu Beginn der Volkskammersitzungen hin und wieder ein Zimmer teilte, nutzte er die Gelegenheit, in unserem Unternehmen für Erzeugnisse seiner mit einem Kollegen damals betriebenen GmbH zu werben.
Während der Sitzungen der Volkskammer hatte ich auch öfter Gelegenheit, einen Plausch mit dem ehemaligen Radrennfahrer und nunmehr Volkskammerabgeordneten Täve Schur von der PDS zu machen. Ein anderer Mandatsträger hatte es fertiggebracht, ihm nach der „Wende“ noch einen PKW »Wartburg« aufzuschwatzen. Außer der Speerwerferin Ruth Fuchs sah ich keine weiteren verdienten Sportler der DDR im Gremium. Sie wirkte auf mich etwas überdiszipliniert.
Mir fiel der erhöhte Alkoholkonsum eines verdienten Wissenschaftlers im Parlament auf. Da wurde mir klar, dass auch nachgewiesene Intelligenz keine Garantie für ein suchtfreies Leben sein muss. Es ist und bleibt eine Willensfrage. Im Palast der Republik fühlten wir uns sehr wohl. Von einer Asbestverseuchung war uns nichts bekannt. Mitte des Jahres 1990 stand die Währungsunion an. Ich erklärte meinen Mitarbeitern im Unternehmen die Folgen der D-Mark-Einführung für die DDR-Wirtschaft. Das Wegbrechen der osteuropäischen Märkte würde für viele Betriebe, trotz einer hoch motivierten Belegschaft, das Ende bedeuten. Diese Argumente wollte niemand hören. Die D-Mark musste her, koste es, was es wolle. Natürlich fühlte auch jeder, dass damit ein wichtiger Schritt zur deutschen Einheit getan wäre.
Nachdem wir auch in Ostdeutschland die D-Mark hatten, riefen täglich irgendwelche Spekulanten und Broker aus der ganzen Welt an, um uns eine Schiffsladung Mais oder Ähnliches anzudrehen. Einmal bedrängte mich ein Anrufer aus Los Angeles außerordentlich hartnäckig zu einem Einstieg in eines seiner Angebote. Als ich ihm klarmachte, dass wir dafür kein Geld haben, verlor er die Nerven und schrie mich plötzlich in bestem Deutsch an, obwohl er vorher nur Englisch sprach: „Eure Armut da drüben kotzt mich an!“
Meine große Ähnlichkeit mit dem seinerzeitigen SPD-Vorsitzenden Böhme brachte mir den Spitznamen »Ibrahim« ein. Selbst die Damen von der SPD-Fraktion grüßten mich in der Mittagspause artig. Zum Glück konnte Böhme im Frühjahr 1990 als IM enttarnt werden, sodass er in der Folge kein Thema mehr war. Die Integration der Mitglieder der neuen Parteien DA und DSU in die CDU war eine folgerichtige Konsequenz. Der spätere Wechsel von Mitgliedern der Partei Bündnis 90 zur CDU war schon eher außergewöhnlich.
Zu Hause hatte meine Frau mit der Gattin unseres Marketingchefs eine Boutique mit Sonnenstudio eröffnet. Die Bürger hatten aber damals andere Probleme, als Klamotten zu kaufen oder sich bräunen zu lassen. Nachdem ein Überleben der Boutique nicht gewährleistet war, übernahm meine Frau wieder ihre ehemalige Arbeit der Dokumentationserstellung in unserem Unternehmen.
»Miteinander-Füreinander – nie wieder gegeneinander«
Trotz der umfangreichen Arbeit in der Volkskammer und im Betrieb war ich auch einer der Fußballer, die für ein Spiel gegen die Mannschaft des Bundestages trainierten. Das machte nach den stressigen Sitzungen viel Spaß. Unter dem Motto »Miteinander-Füreinander – nie wieder gegeneinander« fand am 21. September 1990 das historische Fußballspiel »Volkskammer gegen Bundestag« in Berlin statt. Mit diesem Slogan bekam jeder Spieler einen entsprechenden Wimpel zum Andenken an diese einmalige Begegnung. Ich war als linker Verteidiger aufgeboten und spielte anfänglich gegen den damaligen Umweltminister Klaus Töpfer, den ich mit meiner Laufarbeit und mit sportlicher Härte beeindruckten konnte. Nach seiner Auswechselung war der Oberbürgermeister Bonns, Dr. Hans Daniels, mein Gegenpart. Er schien mir nicht so robust, deshalb schonte ich ihn etwas. Das Spiel endete 2:2. Leider nahm mir der vor mir stehende Spieler die Ehre, zum Ausgleich einzuköpfen.
Das Spiel fand im Stadion des Berliner Fußball-Clubs „BFC Dynamo“ statt, also bei Stasichef Mielkes ehemaliger Truppe. Immerhin hatte man uns für das Spiel Fußballschuhe, Dress, Stutzen, Hose, Wetterjacke und ein großes Handtuch gesponsert. Ein Dress von der Volkskammer und dem Bundestag hängt in meinem Arbeitszimmer. Auch damit bleiben die Erinnerungen an diese ereignisreiche Zeit immer wach.
Zitierweise: Reiner Schneider, „2:2 gegen den Bundestag", in: Deutschland Archiv, 17.07.2020, Link: www.bpb.de/315714.
Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden nach und nach folgen. Eine öffentliche Diskussion darüber ist im Lauf des Jahres 2021 geplant. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
In dieser Reihe bereits erschienen:
- Sabine Bergmann-Pohl,
- Rüdiger Fikentscher,
- Hinrich Kuessner
- Klaus Steinitz,
- Richard Schröder -
- Maria Michalk,
- Markus Meckel,
- Hans-Peter Häfner,
- Konrad Felber,
- Walter Fiedler,
- Hans Modrow,
- Joachim Steinmann, "
- Christa Luft,
- Dietmar Keller, "
- Rainer Jork,
- Jörg Brochnow,
- Gunter Weißgerber, "
- Hans-Joachim Hacker,
- Marianne Birthler -
- Stephan Hilsberg -
- Ortwin Ringleb -
- Martin Gutzeit,
- Reiner Schneider -
- Jürgen Leskien -
- Volker Schemmel -
- Stefan Körber - "
- Jens Reich -
- Carmen Niebergall -
- Susanne Kschenka -
- Wolfgang Thierse -
- u.a.m.
- Die
- Die
- Film-Dokumentation
- Analyse von Bettina Tüffers: