2 plus 4: "Ihr könnt mitmachen, aber nichts ändern“
Markus Meckel
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Ein selbstkritischer Rückblick des damaligen DDR-Außenministers Markus Meckel über genutzte und verpasste Chancen "auf dem äußeren Weg zur Einheit" mittels des Zwei-plus-Vier-Vertrags 1990. Dabei geht es auch um die Rolle der DDR in jenen Verhandlungen, die den Weg zur Deutschen Einheit auf internationaler Ebene ebneten.
Als ich am 12. April 1990 nach den ersten freien Wahlen in der DDR zum Außenminister gewählt worden war, waren wichtige internationale Konstellationen bereits festgelegt. Der Zwei-plus-Vier-Mechanismus war bereits erfunden und beschlossen. Die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, die USA, die Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien, saßen mit der Bundesrepublik und der DDR am Verhandlungstisch.
Die Hintergründe beschrieb mir der westdeutsche Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, als ich ihn wenige Tage nach der Wahl, am 17. April, in seinem Privathaus in Pech bei Bonn besuchte. Noch im Herbst 1989 war ich in meinem programmatischen Vortrag zur Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) für einen Friedensvertrag zur Lösung der deutschen Frage eingetreten. Genscher machte nun deutlich, weshalb eine solche Terminologie und jedes daran erinnernde Prozedere unbedingt zu vermeiden sei: Knapp fünfzig Jahre nach Kriegsende dürfe die zwischen Zweitem Weltkrieg und Gegenwart liegende Demokratiegeschichte in der Bundesrepublik und die lange Zeit der Partnerschaft in Westeuropa in der NATO und in den Europäischen Gemeinschaften (EG) nicht ausgeblendet werden.
Deutschland dürfe nicht wieder zum bloßen Objekt von Viermächtegesprächen werden. Vielmehr sei zu berücksichtigen, dass die Bundesrepublik nunmehr ein angesehener Partner unter den Demokratien des Westens sei. Und nicht zuletzt müsse ausgeschlossen werden, dass mehr als fünfzig ehemalige Kriegsgegner auf den Gedanken kommen könnten, bei der deutschen Vereinigung mitreden zu wollen und neue Reparationsforderungen zu stellen.
„Kein Blatt Papier soll zwischen uns passen“
Er betonte die Notwendigkeit, dass die beiden deutschen Staaten gleichberechtigte Verhandlungspartner wären, deren Zustimmung Voraussetzung für die anstehenden Entscheidungen war. Diese Argumentation leuchtete mir ein, ihre Intention teilte ich. Wir konnten zudem mit Stolz darauf verweisen, die Demokratie in der DDR selbst erkämpft zu haben. Wir als Ost- Deutsche, die aus ihrer Geschichte gelernt hatten, wollten mit Selbstbewusstsein nicht nur an der Gestaltung der deutschen Einheit, sondern auch der europäischen Zukunft mitwirken. Hans-Dietrich Genscher bot mir eine enge Zusammenarbeit an, »kein Blatt Papier solle zwischen uns passen«. Daran war ich sehr interessiert und ging davon aus, dass dem eine intensive gegenseitige Information und Absprache folgen würde. Das sollte sich jedoch als nicht realistisch erweisen.
NATO-Mitgliedschaft war nicht in Frage zu stellen
Die westlichen Staaten einschließlich der Bundesregierung wollten vor allem die Zustimmung der Sowjetunion zur deutschen Vereinigung, zur Ablösung der Rechte der Vier Mächte sowie die Akzeptanz der NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands erreichen, ansonsten aber möglichst wenig regeln. Für die Zukunft sollten alle Optionen offengehalten werden, denn es war klar, wo künftig in Europa das Machtzentrum liegen würde – nämlich im Westen. Die Frage war schließlich nur: Wie konnte man Gorbatschow dazu bringen, die NATO-Mitgliedschaft zu akzeptieren?
Ursprünglich wollte die Bundesregierung mit dem Beginn der Verhandlungen warten, bis es in der DDR eine frei gewählte Regierung gäbe. Doch drangen die Franzosen und Briten auf einen schnellen Beginn und wollten die Wahlen in der DDR nicht abwarten. So willigte man ein, schon vorher auf Beamtenebene die notwendigen Verabredungen zu treffen.
Brüskierung des DDR-Außenministeriums
Am 9. März 1990 gab es ein Vorbereitungsgespräch zwischen dem westdeutschen Verhandlungsführer Dieter Kastrup und dem stellvertretenden Außenminister der Modrow-Regierung, Ernst Krabbatsch, sowie am 14. März in Bonn das erste Treffen, bei dem die Tagesordnung beschlossen wurde. Als ich später Hans- Dietrich Genscher darauf ansprach, dass dies eine Brüskierung der frei gewählten Regierung sei, redete er sich heraus, es wäre ja nur um technische Fragen gegangen. Nun, ich war zwar ein Greenhorn in der Politik, wusste aber sehr wohl, dass sogenannte technische Fragen, wie z. B. Tagesordnungen, alles andere als nur technische Fragen sind. Faktisch war es die Botschaft: Ihr könnt mitmachen, aber nichts ändern! Eine eigene Rolle sollten wir nicht spielen. Die Haltung war von der Sorge bestimmt, ob wir auf der abgesprochenen Linie lägen. Und diese Sorge sollte sich als berechtigt erweisen.
Der Historiker Herrmann Wentker hat mich in einem Artikel zur DDR-Außenpolitik jener Monate einen »Überzeugungstäter« genannt – womit er Recht hat, denke ich. Ich fühlte mich jedenfalls in dieser Zeit von einer Mission erfüllt, denn die zentralen Themen dieser Monate waren mit tiefen Grundüberzeugungen verbunden. Neben der bedingungslosen Anerkennung der polnischen Westgrenze gehörte dazu auch die Ablehnung von Nuklearwaffen, ja, der Nutzung von Atomenergie überhaupt. Die Risiken der Lagerung der radioaktiven Abfälle über Zeiträume, die in meinen Augen jenseits der Beherrschbarkeit liegen, waren und sind für mich auch heute noch ein zentrales Argument gegen diese Form der Energiegewinnung.
Die Frage der atomaren Bewaffnung
Die Entwicklung von Nuklearwaffen und ihr Gebrauch am Ende des Zweiten Weltkrieges gegen Japan hielt ich seit meiner frühen Jugend für einen »Sündenfall«. Ich sah – und sehe – keinen Wert, der durch den Gebrauch von Atomwaffen wirklich zu schützen wäre und diesen rechtfertigen könnte! Natürlich war das System der Abschreckung im Kalten Krieg darauf ausgerichtet, den Einsatz dieser Waffen gerade zu verhindern. Doch hatten wir diese Logik bereits in den 1980er-Jahren intensiv diskutiert und infrage gestellt.
Schon als Studenten hatten wir Carl Friedrich von Weizsäckers »Bedingungen des Friedens« diskutiert, die auch in der DDR erschienen waren. Die Verträge zum Verbot von Atomwaffenversuchen (CTBT), zur Verhinderung der Verbreitung von Atomwaffen (NPT) und zur Abschaffung der Mittelstreckenraketen (INF) sah ich als zentrale Errungenschaften an, die es weiterzuentwickeln galt. So hielt ich auch die Schaffung von kernwaffenfreien Zonen für wichtige Schritte hin zu mehr Sicherheit und auf dem Weg zu einer atomwaffenfreien Welt. Wir hatten damals große Hoffnungen, dass mit dem Ende des Kalten Krieges hier Entscheidendes global vorangebracht werden könne. Deshalb traten wir auf den verschiedenen Ebenen dafür ein, dass das künftige, vereinte Deutschland nicht nur den Besitz von Atomwaffen ablehne, sondern auch deren Stationierung.
Dies sollte ein Anstoß sein, eine künftige Sicherheitsstrategie für Europa nicht auf der Grundlage der Androhung der Nutzung von Kernwaffen zu gestalten. So forderte ich noch in meiner Rede beim dritten Treffen der Außenminister im Juli 1990 in Paris, dass Deutschland nicht nur den Besitz, sondern auch die Stationierung von Atomwaffen ablehne. Das war natürlich nicht nur für Frankreich, das bis heute viel von seinen Atomwaffen hält, sondern auch für die beteiligten NATO-Staaten illusorisch und unakzeptabel. Eine Bereitschaft, über Sicherheit ohne Atomwaffen nachzudenken, gab es damals unter den Beteiligten von Zwei-plus-Vier selbst in Ansätzen nicht.
Sicherheit in Europa sollte, so war unsere Hoffnung, in der Zukunft nicht mehr durch gegeneinanderstehende Bündnisse, sondern durch die Stärkung internationalen Rechts und ein System kollektiver Sicherheit gewährleistet werden. Deshalb wollten wir die Vereinten Nationen stärken (und reformieren) und die KSZE für Europa zu einer regionalen Institution der UNO entwickeln. Die Hochrüstung sollte beendet, die Abrüstung vorangetrieben und die Truppenstärken in Europa erheblich verringert werden.
„Wir gingen von noch zwei Jahren bis zur Wiedervereinigung aus“
Allein schon diese kurze Beschreibung macht deutlich, in welch hohem Maße mein Handeln von starken Visionen und hochgesteckten Zielen bestimmt war. Natürlich war mir klar, dass es Langzeitprojekte waren, die viele Mitspieler brauchten. Ebenso wussten wir, dass unsere Zeit begrenzt war, wenn wir auch nicht ahnten, wie begrenzt. Wir gingen ja noch von mehr als zwei Jahren bis zur Vereinigung aus, wie das Lothar de Maizière in seiner Regierungserklärung formuliert hatte. Doch selbst zwei Jahre waren eine kurze Zeit für solche Ziele. Und die DDR war keine Weltmacht. Wie stark wir auch durch die Festlegung des Weges zur deutschen Einheit, durch den Beitritt nach Artikel 23 und dann durch die schnelle Währungsunion als eigenständige Regierung an Bedeutung verloren und unsere Gestaltungsmöglichkeiten begrenzt wurden, ist mir damals erst nach und nach bewusst geworden. Es war ein schmerzhafter Prozess. Vor allem aber: Es war von Beginn an klar, dass die anderen Partner unsere Anliegen und Überzeugungen nicht teilten. Als der Schwächste und Unerfahrenste in der Runde der Außenminister hatte ich die weitreichendsten Ziele.
Im Nachhinein schaue ich selbst mit etwas Ambivalenz und Erstaunen zurück auf diesen jungen Mann, der ich damals war – und frage mich, wie ein solcher Enthusiasmus und Elan möglich war, wie ich ein solches Selbstbewusstsein entwickeln konnte angesichts der sehr begrenzten Möglichkeiten an Zeit, Ressourcen und Mitspielern. Unbeirrt suchten wir, d. h. ich selbst und meine engsten Mitstreiter im Außenministerium, nach Möglichkeiten, konkrete Schritte in Richtung dieser Ziele und Visionen zu entwickeln und sie zur Sprache zu bringen, als längst klar war, dass wenig davon umsetzbar sein würde.
Das erste Treffen der Außenminister der Zwei-plus-Vier- Gespräche fand am 5. Mai in Bonn statt. Am Tag vorher traf ich neben Hans-Dietrich Genscher und nach einem Gespräch mit Willy Brandt erstmalig den amerikanischen Außenminister Baker. Das Gespräch war freundlich, aber auch distanziert. Es unterschied sich deutlich von der Offenheit, die ich beim Besuch in Washington im März erfahren hatte. Vermutlich hatte das damit zu tun, dass meine inhaltlichen Positionen inzwischen bekannt geworden waren. Natürlich war ich am nächsten Tag ziemlich angespannt, war ich mir doch des historischen Moments dieses Ereignisses sehr bewusst. Hier wurde ein Prozess eröffnet, der international die Vereinigung möglich und Deutschland souverän machen würde. Das war die Ebene, die man in Potsdam betrachten konnte, wo 1945 das Potsdamer Abkommen beschlossen worden war. Und es war wahrhaftig nicht mein gewohntes Parkett.
Die DDR nur störender Akteur?
Die Aufnahme in den Kreis der Außenminister war freundlich, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass sie an meinem Beitrag wirklich interessiert waren. Entgegen mancher gegenteiligen Äußerung wollte man im Grunde nicht, dass mit der nun wirklich demokratischen DDR noch ein Akteur in das Spielfeld trat.
Schon bei meiner Rede hatte ich das Gefühl, in Watte zu reden. Ich traf den Ton nicht, der echte Aufmerksamkeit erregen konnte. Alle warteten gespannt auf die Rede Schewardnadses – und das galt auch für mich. James Baker formulierte deutlich die – vorher ausgehandelte – westliche Position. Dazu gehörte die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands ebenso wie die sehr begrenzte Tagesordnung. Er sprach davon, die Zwei-plus-Vier-Gespräche als »Lenkungsgruppe« zu verstehen, d. h. es solle im Wesentlichen darum gehen, dass Deutschland zur Vereinigung souverän werde und die Vier Mächte ihre Rechte über »Deutschland als Ganzes« beendeten. Alle weiteren politischen Verhandlungen sollten jeweils am anderen Ort geschehen, Fragen der Begrenzung von Truppenstärken bei den VKSE-Verhandlungen in Wien, die Anpassung der NATO-Strategie in der NATO, Fragen gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen in der KSZE etc. Dies war eine äußerst geschickte Strategie, die schließlich auch zum Erfolg führte. So konnte jederzeit in den Gesprächen darauf hingewiesen werden, dass ein Thema, das angesprochen wurde, eigentlich woanders zu behandeln sei – und man in der Sechserrunde nicht zu einem Ergebnis kommen musste.
Schewardnadses Werben für einen Friedensvertrag
Die Rede des sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadses schreckte auf. Nicht, weil er die NATO-Mitgliedschaft ablehnte und für einen Friedensvertrag eintrat – das waren bekannte Positionen –, sondern weil er den inneren und äußeren Einigungsprozess entkoppeln wollte: Noch nach der Vereinigung könne es eine mehrjährige Übergangszeit geben, an deren Ende dann über Deutschlands Souveränität entschieden wird. Damit wurde eine über den Tag hinausgehende längere Diskussion über die Frage von Übergangsregelungen entfacht.
Deutsches Interesse musste sein, mit der Vereinigung souverän zu sein. Dies wurde von den Amerikanern unterstützt. Heute sehe ich das genauso. Damals war ich verhaltener. Da der deutsche Vereinigungsprozess schnell voranschritt, wichtige Veränderungen aber mehr Zeit brauchten, lag es nahe, dass Übergangszeiten nötig waren. Das betraf z. B. den Abzug der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der DDR. Hier war – worauf Hans-Dietrich Genscher eindrücklich hinwies – ein wichtiges Kriterium, dass es keine offenen Fragen mehr geben, sondern nur der Vollzug des Beschlossenen noch Zeit in Anspruch nehmen dürfe. Das war vernünftig. Für mich wiederum war klar, dass der Aufbau gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen eine längerfristige Aufgabe war, mit unumgänglichen Übergangszeiten. Mit der Vereinigung Deutschlands sollte zumindest die Richtung künftiger europäischer Entwicklungen angelegt werden. So war ich gegenüber den sowjetischen Vorschlägen offener, auch wenn sie mir noch nicht konsistent erschienen. Doch es war ein Zeichen, dass Bewegung in die Diskussion kommt.
In verschiedenen Reden warb ich international für diese offenen, aber grundsätzlicheren Orientierungen, wie auch bei meiner Rede vom 10. Mai vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg. Ich betonte die »Chance zum friedlichen Neubeginn« in Europa. »Wir stehen daher in der Pflicht, das Unsere zu tun, dass der Umbau der Sowjetunion zu einem berechenbaren, konstruktiven Mitglied der europäischen Staatenfamilie gelingt. In unserem ureigensten Interesse wünschen wir, dass der Weg der UdSSR in die Demokratie unumkehrbar bleibt.«
Die NATO verändern? Für den Westen ein „No go“
Auch ich war damals überzeugt, dass das vereinte Deutschland für eine Übergangszeit Mitglied der NATO werden könne, aber eben einer veränderten NATO. So wollten wir einer solchen Mitgliedschaft erst zustimmen, wenn die NATO auch zu den notwendigen eigenen Veränderungen bereit ist, was ihre Funktion und Strategien betrifft, wobei uns hier gerade die Strategie des nuklearen Ersteinsatzes ein Dorn im Auge war. In diese Richtung zu denken war allerdings ein »No go« für die westlichen Partner.
Darüber hinaus galt es nach Möglichkeiten zu suchen, für die Sowjetunion diesen Weg zumindest akzeptabel zu machen. In diesem Anliegen wussten wir uns mit den westlichen Partnern einig. Dass die KSZE hier eine wichtige Rolle spielen würde, war ebenfalls Konsens, auch wenn die konkreten Vorstellungen dann, gerade wenn es um Priorität und Verbindlichkeit ging, verschieden waren. Meine eigenen Gedanken gingen insbesondere in die Richtung, wie eine Übergangsperiode bis zur Vollendung europäischer Sicherheitsstrukturen zu gestalten wäre.
Insbesondere das Gespräch mit US-Außenminister James Baker Anfang Juni in Kopenhagen machte deutlich, dass auch die USA nach Wegen suchten, Gorbatschow die Nato-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland verträglich zu machen. James Baker schlug hierzu ein Paket von neun Punkten vor. Dazu gehörten die Anerkennung der polnischen Westgrenze, die Institutionalisierung der KSZE, die Bereitschaft der NATO zur Überprüfung ihrer Strategie sowie die Festlegung von Obergrenzen für die Truppenstärken in Mitteleuropa bei den Wiener Verhandlungen. Vieles davon ging in eine Richtung, die ich ebenfalls unterstützte. Es blieb jedoch die fundamentale Differenz in der Einschätzung der Kernwaffen.
Die Idee einer Sicherheitszone
Wichtig waren für mich in der Zeit als Außenminister die Diskussionen in der SPD-Bundestagsfraktion. Sie hatte am 24. April eine wesentlich von Horst Ehmke konzipierte Resolution zur Sicherheitspolitik beschlossen, die meinen Positionen sehr nahe lag. Egon Bahr, der inzwischen zu einem Berater des neuen DDR-Verteidigungsministers Rainer Eppelmann (CDU) geworden war, stand gleichzeitig in regelmäßigem Kontakt mit meinem Beraterstab.
In diesen Gesprächen wurde ebenfalls die Frage von Übergangsstrukturen diskutiert, in die Egon Bahr seine Überlegungen einbrachte. Über Peter Schlotter im Beraterstab gab es auch Kontakte zum Friedensforscher Dieter Senghaas. Mein Gespräch mit ihm enttäuschte mich etwas, er dachte in großen Linien und hatte wenig Sinn für die »kleinen politischen Fragen« der gegenwärtigen Verhandlungen, für die ich Gesprächsbedarf hatte. Für sein Treffen mit dem Beraterstab hatte er ein Papier mit dem Titel »Leitperspektiven für eine Europäische Sicherheitsstruktur« verfasst, das später in einer überarbeiteten Form auch in der Frankfurter Rundschau erschien.
Angeregt durch diese Gespräche entstand in meiner Beratergruppe die Idee einer »Sicherheitszone« als Übergangsstruktur für eine europäische Friedensordnung. Sie sollte sich auf Polen, die CSFR und das Gebiet der DDR erstrecken, und für eine begrenzte Zeit – in der noch sowjetische Truppen in der DDR stehen – sollten in dieser Region die militärischen Strukturen stark reduziert und eng integriert werden. Dafür sollten beide noch vorhandenen Blöcke hier Sicherheitsgarantien übernehmen. Dies könne, so war die Hoffnung, für die Zukunft ein Ansatz für die künftigen Wiener Abrüstungsgespräche und damit für ganz Europa sein.
Ehrlich gesagt fällt es mir heute schwer, die Logik dieser Überlegungen wirklich nachzuvollziehen, zumal, wie sich Anfang Juni in Moskau beim Treffen des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Vertrages zeigte, dieser Vertrag selbst keine lange Lebensdauer mehr haben sollte – auch nicht als politisches Bündnis, wie es dann noch diskutiert wurde.
Mein wohl schwerwiegendster Fehler als Außenminister war, dass ich diese letztlich unausgegorene Idee am 5. Juni bei den Gesprächen mit Hans-Dietrich Genscher, James Baker und Douglas Hurd zur Sprache – und damit in die Öffentlichkeit – brachte. Dabei war diese noch nicht einmal mit den vorgesehenen Partnern Polen und CSFR konsultiert worden. Ich kann mir mein Vorgehen nur so erklären, dass ich in meinem Rollenverständnis zurückfiel in die Zeiten früherer Diskussionskreise, in denen wir auch nicht zu Ende gedachte Ideen offen miteinander diskutierten. Dass dies aber im Gespräch zwischen Außenministern absolut nicht geht, erwies sich dann sehr schnell. Mein zweiter Fehler war, dass ich das Ganze daraufhin nicht sofort ad acta legte, sondern es auf vielfältiges öffentliches Nachfragen, auch im Parlament, noch weiter als eine mögliche Denkrichtung vortrug. So haben dies Projekt und mein unbedachter Umgang damit mir und meiner Reputation als Außenminister sehr geschadet.
Thema Streikräftereduzierung
Anders war es mit den Überlegungen zur drastischen Reduzierung der deutschen Streitkräfte. Wir waren überzeugt davon, dass es gegenüber der Sowjetunion wichtig sei, möglichst frühzeitig eine verbindliche Aussage dazu zu machen, dass das vereinte Deutschland seine Truppenstärke deutlich reduzieren würde. Bundeswehr und Nationale Volksarmee hatten zusammen etwa 600.000 Mann. In einem Brief machte Horst Ehmke, der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, den Vorschlag, für die Zukunft eine deutsche Truppenstärke von 300.000 zuzusagen. Diesen Vorschlag griff ich auf und trug ihn beim zweiten Treffen der Zwei-plus-Vier-Gespräche in Berlin vor, als Kompromiss hatte ich noch die Zahl 380.000 notiert. Von den westlichen Partnern wurde das abgelehnt. Mir wurde eine »Singularisierung Deutschlands« vorgeworfen, d. h., dass ich Deutschland auch für die Zukunft in eine Sonderrolle bringen würde, die gerade vermieden werden musste. Dabei lag dieser Vorschlag genau auf der Linie dessen, was zwischen den westlichen Staaten – ohne mein Wissen damals – längst diskutiert wurde. Man wollte sich nur zu diesem Zeitpunkt nicht festlegen.
Nach einigen Diskussionen über die konkrete Zahl – es waren schließlich 370.000 Mann – geschah es, wie ich es empfohlen hatte. Ich schlug Hans-Dietrich Genscher Anfang August vor, dass wir beide gemeinsam bei den Wiener Abrüstungsgesprächen (VKSE) diese verbindliche Zusage abgeben würden, in der Erwartung, dass in der nächsten Verhandlungsrunde auch für die anderen Länder entsprechende Obergrenzen festgelegt würden. Nur war ich dann selbst nicht mehr dabei, der Termin lag nach meinem Rücktritt als Außenminister der DDR am 20. August 1990, als die große Koalition aus CDU und SPD in der DDR-Regierung im Disput über die wenig erfolgreiche Wirtschaftspolitik zerbrach. Doch bis dahin prägten die 2+4-Verhandlungen meinen Dienstplan.
Das nahe Ende des Warschauer Pakts
Nach dem Kopenhagener Außenministertreffen zur Eröffnung der KSZE-Konferenz über die menschliche Dimension flog ich mit den Kollegen Skubiszewski und Dienstbier gemeinsam nach Moskau zur Sitzung des Politischen Beratenden Ausschusses, dem höchsten Gremium des Warschauer Vertrages. Diese Sitzung der Mitglieder des Warschauer Vertrages war ein besonderes Ereignis. Ein Jahr zuvor, im Juli 1989, war dieses Gremium noch ganz anders zusammengesetzt gewesen und Gorbatschow hatte es noch mit DDR-Staatschef Honecker und Rumäniens Diktator Ceausescu zu tun, um nur diese zu nennen. Trotzdem war es ihm damals mit der klaren Ansage als Führungsmacht der Vertragsstaaten gelungen, auf der Linie seiner UN-Rede vom Dezember 1988 zu wegweisenden Beschlüssen zu kommen, die aufhorchen ließen. Kurz zuvor hatte Gorbatschow vor dem Europarat eine wegweisende Rede zu den Herausforderungen der Gestaltung eines »gemeinsamen europäischen Hauses« gehalten und – nach den Wahlen in Polen am 4. Juni – das »absolute Recht« aller Staaten »auf Wahl des Sozialsystems« bestätigt. Nun saß Tadeusz Mazowiecki als neuer Ministerpräsident mit am Tisch und mit ihm Václav Havel und Alexander Dubcek, Jozsef Antall, Ion Illiescu und Lothar de Maizière.
Jetzt stand die Zukunft der Institution selbst zur Debatte. Václav Havel brachte es auf den Punkt: Sollte der Vertrag abgeschafft oder grundlegend verändert werden? Der Führungsanspruch der Sowjetunion wurde nicht mehr anerkannt. Jeder Staat hatte seine eigene Agenda. Die neu aus Wahlen hervorgegangenen Regierungen Mitteleuropas hatten sich auf Einladung der Ungarn am Abend vorher auf eine Linie verständigt. Gorbatschow hielt eine lange Rede, er berichtete von seinem vor kurzem stattgefundenen Treffen mit Präsident Bush und entwarf ein Bild der Lage in Europa.
Tschechiens Präsident Václav Havel erinnerte an den Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrages in der CSSR nach dem Prager Frühling 1968. Es brauche also eine neue Militärdoktrin, nach der jeder Staat auch militärisch souverän bleibe. Antall sprach von der Niederschlagung der ungarischen Revolution 1956. Er befürwortete die militärische Präsenz der USA in Europa und trat für einen radikalen Umbau des Warschauer Vertrages ein. Seine militärischen Komponenten seien bis 1991 abzubauen. Das ungarische Parlament hatte die Regierung aufgefordert, innerhalb eines Jahres aus dem Vertrag auszutreten.
Diese Beiträge machten auch für Gorbatschow deutlich, dass da nicht nur andere Personen saßen, sondern die Welt eine andere geworden war. Wir, die DDR-Regierung, plädierten für eine Übergangszeit, in der sich die Umgestaltung des Warschauer Vertrages zu einer politischen Organisation vollziehen sollte. Seine Auflösung hätte mehr Unsicherheit geschaffen, die für den Prozess der deutschen Einheit Risiken barg. Als politisches Bündnis hatte er dagegen noch eine wichtige Funktion als Träger der Abrüstungsverhandlungen und als Partner für die Gestaltung künftiger gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen. Die lange verhandelte Abschlusserklärung trat für die Entwicklung eines neuen, gesamteuropäischen Sicherheitssystems ein und erklärte, dass sich der Warschauer Vertrag zu einem politischen Bündnis freier und souveräner Staaten entwickeln und neu definieren wolle. Es wurde die Bereitschaft bekräftigt, mit den Staaten der NATO und den anderen Staaten Europas konstruktiv zusammenzuarbeiten, um Europa zu einem Kontinent des Friedens und des Rechts zu entwickeln.
17. Juni 1990. Ein vorschneller Antrag in der Volkskammer der DDR
Am 17. Juni fand im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, dem heutigen Konzerthaus, ein Festakt beider Parlamente zum Gedenken an den Volksaufstand 1953 statt. Im Foyer des Schauspielhauses stand ich mit Willy Brandt im Gespräch, als Helmut Kohl eintraf. Er hatte mich damals normalerweise schlicht ignoriert, doch in dieser Konstellation konnte er nicht anders und gab mir die Hand. Es blieb das einzige Mal.
Im Anschluss tagte die Volkskammer, obwohl es ein Sonntag war. Vor der Tür protestierten Einheitsgegner. Auf der Tagesordnung standen die umstrittenen Gesetze zu den Verfassungsgrundsätzen und zur Errichtung der Treuhand, die damals – anders als nach dem 3. Oktober 1990 – beim Amt des Ministerpräsidenten angesiedelt war und einen Auftrag im volkswirtschlichen Sinne hatte.
Für mich überraschend beantragte die DSU eine Abstimmung über den sofortigen Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Art. 23, die auch mit einer Zweidrittelmehrheit auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher und schließlich auch Rita Süssmuth und Petra Kelly saßen auf der Tribüne. Die Lage war zusätzlich kurios, da auch Wolfgang Ullmann und Konrad Weiß für einen sofortigen Beitritt eintraten – sie waren frustriert darüber, dass die Mehrheit der Volkskammer keine Diskussion über eine eigene DDR-Verfassung führen wollte. Ich war entsetzt. Eine Mehrheit für diese Anträge hätte alle Bemühungen dieser Monate zunichte gemacht – nämlich in Verhandlungen die Bedingungen der deutschen Einheit zu klären und auf dieser Grundlage die Einheit zu beschließen. Nur die Wirtschafts- und Währungsunion war beschlossen, die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen nach meiner Wahrnehmung noch weit entfernt von einer Lösung und die Verhandlungen zum 2. Staatsvertrag, der dann Einigungsvertrag genannt wurde, hatten noch nicht einmal begonnen.
Ein aufrechter Gang in die deutsche Einheit wäre so zunichte gemacht worden – und genau das fand jetzt viele Anhänger. Selbst in der Volkskammer, noch mehr aber in der eigenen Bevölkerung, wurden diese Verhandlungen, die ich ja für die DDR-Bürger geführt hatte, von vielen nicht geschätzt und allein als Verzögerung der Einheit angesehen. Lothar de Maizière wagte es nicht, eine Abstimmung zu riskieren, da er sich seiner Leute in der Fraktion nicht sicher war. So gelang es schließlich, diese Anträge in die Ausschüsse zu überweisen.
Die Frage der polnischen Westgrenze
Am 22. Juni 1990 war ich selbst Gastgeber des zweiten Treffens der Außenminister im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Gespräche. Ich war sehr angespannt. Am Tag vorher war in der Volkskammer die lange diskutierte gemeinsame Erklärung von Volkskammer und Bundestag zur polnischen Westgrenze verabschiedet worden. Ich hatte außerdem mit Außenminister Baker gesprochen. Das Treffen fand im Komplex des Schlosses Schönhausen in Berlin-Pankow statt; in dem Raum, in dem zuvor auch der Runde Tisch getagt hatte.
Vor dem offiziellen Treffen konnte ich noch einmal die Erfahrung machen, was der Viermächtestatus der Stadt Berlin bedeutete. Auf Initiative der Amerikaner fand am Checkpoint Charlie ein öffentlicher symbolischer Akt statt, bei dem das Kontrollhäuschen des Grenzübergangs mit einem Kran weggetragen wurde. Die Regie hatten bei diesem Ereignis die Amerikaner, mitten in Berlin! Es war ein fröhliches Treiben. Willy Brandt war anwesend und wurde für das Foto mit nach vorn gerufen. J. D. Bindenagel, Gesandter an der US-Botschaft und heute ein guter Freund, hatte das damals mit organisiert.
Heute bemühen wir uns seit mehr als zehn Jahren darum, an diesem Ort ein »Zentrum des Kalten Krieges« zu errichten, das an die internationalen Zusammenhänge der Teilung Berlins und Deutschlands erinnern soll. Denn die Mauer und der Mauerfall in Berlin gehören in diesen globalen Zusammenhang, der bisher in der deutschen Erinnerungslandschaft deutlich unterbelichtet ist.
Gemeinsamer Truppenabzug der Alliierten aus Berlin
Bei dem Berliner Außenministertreffen sollte es um den Status Berlins und die Sicherheitsfragen gehen. Ich brachte, wie oben schon beschrieben, den Vorschlag ein, die deutschen Truppen für die Zukunft zu begrenzen. Wie alle war auch ich auf der Suche nach Vorschlägen, wie man der Sowjetunion die – in meinen Augen zumindest übergangsweise – NATO-Mitgliedschaft Deutschlands verträglich machen könnte. Das hätte zur Folge gehabt, dass die westlichen Alliierten ihre Truppen auf deutschem Boden im Rahmen der NATO behalten würden, die sowjetischen Truppen aber abziehen mussten. So machte ich den Vorschlag, an einem besonders symbolischen Ort alle gleich zu behandeln. Dies sollte der sowjetischen Seite entgegenkommen, gewissermaßen »die Seele streicheln«, hätte sicherheitspolitisch aber faktisch nichts gekostet. Alle Truppen der ehemaligen Alliierten sollten Berlin verlassen. Ich halte das auch heute noch für einen guten Vorschlag, seit vielen Jahren ist das heute längst Realität.
Damals jedoch erntete ich nur Kopfschütteln. Selbst Walter Momper kam später zu mir und kritisierte, wie ich das vorschlagen könne, wer dann die Westberliner schützen solle.
Buchcover Meckel
Vom Pfarrer und Mitakteur der Friedlichen Revolution zum Außenminister der DDR. Ausführlich hat Markus Meckel seine politischen Erinnerungen im März 2020 in der Evangelischen Verlagsanstalt veröffentlicht.
Vom Pfarrer und Mitakteur der Friedlichen Revolution zum Außenminister der DDR. Ausführlich hat Markus Meckel seine politischen Erinnerungen im März 2020 in der Evangelischen Verlagsanstalt veröffentlicht.
ch entgegnete ihm, in wenigen Monaten wären wir Bürger desselben Staates, und dass Berliner einen anderen Schutz brauchen als Leipziger und Rostocker sei doch sehr zu bezweifeln. In Erinnerung bleibt das Papier, das Schewardnadse in Berlin vorlegte. Hier schlug er noch einmal die Doppelmitgliedschaft Deutschlands in NATO und Warschauer Pakt vor und zeigte insgesamt wenig Flexibilität. Von Genscher erhielt ich die Einschätzung, das sei nur eine Fensterrede, die innenpolitisch motiviert sei. Auch mir war klar, dass der Parteitag der KPdSU bevorstand, Gorbatschow unter Druck war und wiedergewählt werden musste. Insofern schloss auch ich das nicht aus, konnte es aber selbst nicht wirklich einschätzen. Das war in diesen Wochen ein Dauerproblem.
„Wir tappten im Dunkeln“ – Die Separatverhandlungen Kohl und Genschers mit Gorbatschow und Schewardnadse
Hans-Dietrich Genscher und seine Mitarbeiter hatten uns über intensive Gespräche mit Schewardnadse in Brest und Münster, die in den Tagen zuvor stattgefunden hatten, nicht informiert. Wie man heute nachlesen kann, hatte der Chef des sowjetischen Planungsstabes Tarassenko am Rande des wenige Tage zuvor stattgefundenen Treffens der beiden Minister an Genschers Büroleiter Frank Elbe ein Papier übergeben, das eine weitaus größere Offenheit widerspiegelte, wie sie von Schewardnadse auch schon zuvor in Vieraugengesprächen gezeigt worden war. Er versicherte: So werde es laufen!
Das ermöglichte natürlich eine ganz andere Einschätzung des Auftretens Schewardnadses in Berlin. Für mich erschien es damals nicht absehbar, ob die Sowjetunion jemals der NATO-Mitgliedschaft zustimmen würde. Auch dass Gorbatschow beim Gipfeltreffen mit Präsident Bush Ende Mai schon akzeptiert hatte, dass entsprechend der KSZE-Prinzipien jedes Land sein Bündnis selbst wählen könne, erreichte uns nicht. So tappten wir im Dunkeln.
Die Gespräche mit der sowjetischen Botschaft, u. a. mit dem damaligen Botschaftsrat und späteren langjährigen russischen Botschafter in Deutschland, Wladimir M. Grinin, vermittelten den Willen der Sowjetunion, die Verhandlungen nicht scheitern zu lassen, warfen aber auch mehr Fragen als Antworten auf. Egon Bahr vermittelte die Botschaften Valentin Falins, der eine künftige NATO-Mitgliedschaft als nicht akzeptabel ausschloss.
Gleichzeitig versuchte Bahr uns davon zu überzeugen, dass wir in dem Prozess nur noch eine Rolle spielen würden, wenn wir etwa in der Frage der Nuklearwaffen drohten. Wir sollten androhen, die Unterschrift unter den Vertrag zu verweigern, wenn am Ende nicht zentrale Forderungen erfüllt seien. Das wollte ich mir überhaupt nicht vorstellen und hielt es für unrealistisch. Das wäre weder in der Regierung noch gegenüber der eigenen Bevölkerung durchhaltbar gewesen.
Zusammenbrechende Feindbilder
Schon früh hatte ich mich entschieden, wichtige Partner des Zwei-plus-Vier-Prozesses auch zu besuchen und bilaterale Gespräche zu führen. In den Tagen vor dem Berliner Treffen hatte ich Paris und London besucht und die Außenminister Roland Dumas und Douglas Hurd getroffen. Besonders die Gespräche mit Dumas habe ich als sehr herzlich und zugewandt in Erinnerung. Am 10. Juli besuchte ich das NATO-Hauptquartier in Brüssel mit Generalsekretär Manfred Wörner und war überrascht über die gute und freundliche Aufnahme trotz der erheblichen Meinungsunterschiede. In London hatte kurz zuvor der NATO-Gipfel stattgefunden, bei welchem die NATO beschlossen hatte, den Warschauer Pakt nicht mehr als Feind anzusehen und die Hände zur Zusammenarbeit auszustrecken. Sie hatte die Überprüfung ihrer Strategie beschlossen und sich auf den Weg gemacht, sich der neuen weltpolitischen Lage anzupassen.
Ich hatte die Beschlüsse zwar einerseits begrüßt, gerade auch die Aussagen über ein neues Verhältnis zwischen den Blöcken, aber andererseits Kritik daran geäußert, dass sie nicht weit genug gingen. Ich forderte die Änderung der weiterhin gültigen Vorwärtsstrategie und den Verzicht auf den atomaren Erstschlag sowie die Aussicht auf die Abschaffung der atomaren Kurzstreckenraketen und Gefechtsfeldwaffen. Das trug mir in der Öffentlichkeit viel Kritik ein. Auch mein eigener Ministerpräsident war auf Distanz gegangen. Bei den Amerikanern – am 12./13. Juli besuchte ich Washington und traf James Baker bei ihm – galt ich wohl inzwischen als unverbesserlich. Das Gespräch mit Manfred Wörner und dem deutschen NATO-Botschafter Hans- Friedrich von Ploetz dagegen habe ich in sehr positiver Erinnerung wegen seiner offenen Gesprächsatmosphäre, wie ich sie später, als langjähriges Mitglied der NATO-Parlamentarierversammlung in verschiedenen Funktionen, immer wieder kennengelernt und geschätzt habe.
Gorbatschow baute auf Wirtschaftshilfe aus dem Westen
Die Ergebnisse der Reise Kohls und Genschers nach Moskau und in die Heimat Gorbatschows im Kaukasus überraschten mich. Es war an uns vorbeigegangen, wie weit man offensichtlich in bilateralen Gesprächen schon gekommen war.
Entscheidend war natürlich, dass Gorbatschow den Parteitag zu Hause überstanden hatte und wiedergewählt worden war. Erst im späteren Nachlesen ist mir deutlich geworden, welch entscheidende Rolle Schewardnadse nicht nur außenpolitisch, sondern auch in der innenpolitischen Debatte gespielt hatte. Er hatte beim Parteitag die Hauptkämpfe geführt. Mit dem durch die Wiederwahl gewonnenen Handlungsspielraum konnten Gorbatschow und Schewardnadse nun umsetzen, was sie offensichtlich schon in den Wochen zuvor als richtig erkannt hatten. Sie setzten angesichts der schweren finanziellen und wirtschaftlichen Krise im eigenen Land auf die Zusammenarbeit mit dem Westen. Nur mit der Hilfe von dort konnten die dringenden Reformen und die anstehende Modernisierung des Landes auf den Weg gebracht werden.
Hier hatte Helmut Kohl klug vorgearbeitet, für ihn waren die wirtschaftliche und finanzielle Hilfe und die Erwartung der sowjetischen Zustimmung in den sicherheitspolitischen Fragen ein Gesamtpaket. Ein umfangreiches Kreditprogramm stand zur Soforthilfe bereit, ebenso das Angebot langfristiger Hilfe und intensiver Zusammenarbeit. Unmittelbar vor dem Treffen im Kaukasus hatte der Weltwirtschaftsgipfel in Houston hierzu wichtige Zusagen gemacht, die Helmut Kohl stark beeinflusst hatten. Nicht zufällig wurde am Tag nach dem Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages in Moskau ein langfristiger bilateraler Vertrag über gute Nachbarschaft zwischen Deutschland und der Sowjetunion abgeschlossen; die Grundlage für eine neue, auf Zusammenarbeit gegründete Beziehungsgeschichte.
Der Durchbruch im Kaukasus
Zum dritten Außenministertreffen kam ich von Brüssel nach Paris. Die Nachrichten vom Gipfel Kohls Mitte Juli mit Gorbatschow im Kaukasus erreichten mich über die öffentlichen Medien. Es gab keine direkten Informationen vor dem Zusammentreffen, weder von Seiten des Auswärtigen Amtes noch von der Sowjetunion. Schewardnadse merkte ich das schlechte Gewissen darüber im Gespräch mit mir an, denn er wusste, dass die Berücksichtigung der sowjetischen Interessen mir immer wichtig gewesen war. Man hatte mir sogar – in Verkennung der eigentlichen Motive – vorgeworfen, »sowjetischer als die Sowjets« zu sein. Ich stand da wie unter einer kalten Dusche. Mein Mitarbeiter Hans Misselwitz versuchte in meinem Auftrag, Ministerpräsident Lothar de Maizière zu erreichen, der ebenfalls keine direkten Informationen erhalten hatte. Ich wollte eine Stellungnahme abstimmen. Denn es war unverkennbar: Es war geschafft! Die Sowjetunion akzeptierte die deutsche Einheit zu den Bedingungen, die der Westen festgelegt und entworfen hatte. Deutschland würde vereint und souverän sein, vom ersten Tage an. Das musste ein Grund zur Freude sein! Auch das Problem der Grenze, an dem mir so viel lag, schien gelöst: Unmittelbar nach der Einheit sollte der Grenzvertrag abgeschlossen sein.
Als "Mäkler“ isoliert
Und doch – wirkliche Freude kam bei mir nicht auf. Wenn ich heute darüber nachdenke, warum das so war, erschließen sich mir verschiedene Ebenen. Zum einen machte ich in Paris die schmerzhafte Erfahrung völliger Isolation. Ich stand dort allein da – und galt als Mäkler, der sich über den großartigen Erfolg nicht freuen wollte. Dabei stimmte das nicht ganz. Es war erreicht, wenn auch auf ganz anderem Wege, als ich es für hilfreich und zukunftsweisend angesehen habe. Ich hatte immer erklärt, die Interessen und Positionen der östlichen Nachbarn seien mir wesentlich – und diese hatten sich entschieden, sowohl die Sowjetunion wie Polen. Das galt es zu akzeptieren, das musste die Grundlage für die Zukunft sein!
Gleichzeitig aber stimmte es doch: Für mich waren die Bemühungen um gesamteuropäische Sicherheitsstrukturen eben nicht nur als ein Zugeständnis an die Sowjetunion gedacht gewesen, sie entsprangen tiefen Überzeugungen davon, was künftig für Europa wichtig sein würde. Das galt insbesondere für die kritische Haltung zu Atomwaffen überhaupt und zur Nuklearstrategie der NATO. Diese Position hatte ich auch in einem Brief an Eduard Schewardnadse wenige Tage zuvor noch einmal deutlich gemacht. In dieser Frage jedoch stand ich völlig allein da; ich fühlte mich ohnmächtig.
Das »schmale«, auf wenige Verhandlungspunkte angelegte Konzept des Westens war strategisch auf einen schnellen Verlauf angelegt – und hatte Erfolg. Ich hatte das so nicht für möglich gehalten. Die unmittelbaren Vorteile dieser erfolgreichen Konzeption waren dann mit Händen zu greifen. Dieser schnelle und erfolgreiche Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages ermöglichte die zeitnahe deutsche Einheit. Er war für Deutschland und seine europäischen Nachbarn ein großer Gewinn.
Der »Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland« vom 12. September 1990 machte jedoch nicht nur den Weg frei für die deutsche Einheit, sondern mündete auch in die »Charta von Paris für ein neues Europa« vom November 1990. Wer diesen Text heute liest, spürt noch etwas von der Vision eines neuen, auf gemeinsame Werte gegründeten Europa, die uns und viele Menschen in ganz Europa damals erfüllte.
Den Abschluss des Vertrages am 12. September konnte ich nach dem Zerbrechen der Koalition und meinem Rücktritt als Außenminister nur von Berlin aus beobachten. Am Tag darauf gab ich in der Volkskammer eine Erklärung ab, in der es u. a. heißt:
»[Mit diesem Vertrag] ist die Nachkriegszeit beendet und Deutschland zu einem gleichberechtigten Partner in Europa geworden. Die ehemaligen Siegermächte und Polen haben uns großes Vertrauen erwiesen, das uns als Deutschen dauerhafte Verpflichtung sein muss. Das vereinigte Deutschland hat für das zusammenwachsende Europa wichtige Aufgaben. Besonders wir im Osten Deutschlands werden uns verantwortlich fühlen für den neuartigen und solidarischen Ausbau enger Beziehungen zu den Völkern in Osteuropa. Im Zusammenhang mit der Vereinigung Deutschlands konnte abrüstungspolitisch viel erreicht werden. Das ist für Europa ein wichtiger Schritt. Mit neuen, der heutigen Situation angemessenen Sicherheitsstrukturen für ganz Europa jetzt schon zu beginnen, konnte angesichts der kurzen Zeiträume nicht gelingen. Hier bleibt eine wichtige Aufgabe.«
Auch wenn das Ergebnis des Zwei-plus-Vier-Vertrages anders erreicht wurde, als ich es mir vorgestellt hatte: Im Rückblick ist der Zwei-plus-Vier-Vertrag für mich heute der beste Vertrag zur deutschen Einheit. Sowohl der dann folgende deutsch-deutsche Einigungsvertrag als auch der Abzugsvertrag mit der Sowjetunion für deren Truppen waren dagegen voller Fehler und führten zu großen Problemen. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag wiederum schuf zentrale Grundlagen für die künftige europäische Entwicklung.
Noch offene Fragen
Wenn es auch in meiner nachträglichen Beurteilung richtig war, Themen, die ich damals mit auf die Tagesordnung setzen wollte, nicht in diese Verhandlungen einzubeziehen, so sollte es sich doch als ein Problem herausstellen, dass man sie auch in den folgenden Jahren schwer vernachlässigte. Das betrifft die Fragen der Proliferation der Nuklearwaffen ebenso wie die Gestaltung gesamteuropäischer Sicherheit oder die Verantwortung Deutschlands vor dem Hintergrund unserer Geschichte.
Gerade in Bezug auf die zuletzt genannte war es nicht konsistent, sie nicht zu behandeln und darauf zu verweisen, dass sie mit diesem Vertrag endgültig abgeschlossen sei. So ist es meiner Meinung nach nicht verwunderlich, dass Fragen nach Entschädigungen für Opfer von Massakern in Griechenland, Frankreich und andernorts noch heute ein aktuelles Thema sind.
Joachim Gauck hat 2015 als Bundespräsident an die mehr als drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen erinnert, die in der deutschen Erinnerungskultur bisher keinen Ort haben. Auch wenn die Forderung nach staatlichen Reparationen heute gewissermaßen aus der Zeit gefallen erscheinen, so halte ich es für geboten, wenigstens den heute noch lebenden Opfern großzügige Anerkennung und Entschädigung zuzuerkennen. Erst in dieser Legislaturperiode hat sich die Bundesregierung vorgenommen, einen Ort zu schaffen, der über den deutschen Vernichtungskrieg im Osten informiert und dem Gedenken seiner Opfer gewidmet ist.
Zitierweise: Markus Meckel, 2+4 "Ihr könnt mitmachen, aber nichts ändern“, in: Deutschland Archiv, 11.09.2020, Link: www.bpb.de/315302. Die Erstveröffentlichung dieses Beitrags erfolgte unter dem Titel „Die Einheit international verhandeln“ im Buch von Markus Meckel „Zu wandeln die Zeiten“ , erschienen in der Evangelischen Verlagsanstalt, Leipzig 2020
Der Theologe Markus Meckel aus Brandenburg war Mitinitiator der Gründung einer Sozialdemokratischen Partei (SDP) in der DDR 1989 und wurde nach der ersten freien Wahl vom 18. März 1990 vom 12. April bis zum 20. August 1990 Außenminister der DDR in der Großen Koalition. Bis 2009 gehörte er dem Deutschen Bundestag an und leitete von 2013 bis 2016 den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.. Von 1992 bis 1994 war er Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion in der von ihm initiierten Enquête-Kommission Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland. Im März 2020 erschien sein Buch über den Prozess der deutschen Einheit "Zu wandeln die Zeiten" in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig.
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