Das erste deutsche-deutsche Gipfeltreffen im März 1970 in Erfurt im Visier des BND
Jan Schönfelder
/ 24 Minuten zu lesen
Link kopieren
Was der Bundesnachrichtendienst dem Bundeskanzleramt im Vorfeld des ersten deutsch-deutschen Gipfeltreffen am 19. März 1970 in Erfurt zu berichten wusste, das der SED beinah entglitt. Und wie der BND die Begegnung von Bundeskanzler Willy Brandt mit DDR-Ministerpräsident Willi Stoph später aufbereitet hat. Auch die Strategie des Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands wird dabei deutlich - und das Erschrecken der SED-Parteiführung, dass Erfurter Bürgerinnen und Bürger lautstark den Gast aus dem Westen umjubelten.
Neue Ostpolitik
Der Deutsche Bundestag in Bonn ist am 28. Oktober 1969 bis auf den letzten Platz besetzt. Zum ersten Mal in der Geschichte ist ein Sozialdemokrat Bundeskanzler geworden. Willy Brandt tritt ans Rednerpult und gibt seine Regierungserklärung ab. Sie ist eine deutschlandpolitische Sensation. Brandt sagt, wie der DDR bereits vorab vertraulich signalisiert: „Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein.“
Mit dieser Formel bricht der neue Kanzler ein jahrzehntelanges Tabu. Bislang wird der östliche Teil Deutschlands von den bundesdeutschen Politikern als SBZ, Zone, Gebilde, Phänomen oder „sogenannte DDR“ bezeichnet. Die DDR-Regierung, da nicht demokratisch gewählt, ist für sie schlicht nicht vorhanden. Nun bricht eine neue Phase der Deutschlandpolitik an.
Auch im bayerischen Pullach, wo der Bundesnachrichtendienst seinen Sitz hat, beginnt an diesem Tag die neue Ostpolitik. Ein Mitarbeiter legt einen Vermerk an, in dem er fragt, „ob in Zukunft von uns auf Veränderungen Rücksicht genommen werden sollte, denen die Aussagekraft der überkommenen Bezeichnungen für den anderen Teil Deutschlands unterworfen ist.“ Der Beamte gibt zu bedenken, dass es schwierig sein dürfte, bei den Bonner Lesern der BND-Geheimberichte „weiterhin Verständnis für die Bezeichnung ,SBZ‘ zu finden.“ Der Vorschlag setzt sich nicht sofort durch. In den BND-Papieren tauchen in den kommenden Monaten die Begriffe „Pankow“ oder „sowjetzonal“ weiter auf.
Auch in Ost-Berlin wird die Sprachänderung in Bonn aufmerksam registriert. Der BND erfährt von einem höheren Funktionär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), dass Brandts Formulierung von zwei deutschen Staaten in der SED-Führungsspitze positiv aufgenommen worden sei. Ebenso positiv sei wahrgenommen worden, dass Brandt das Wort „DDR“ ohne Einschränkungen benutzt habe. „Aus beiden Punkten“, so die SED-Einschätzung, „lasse sich die Hoffnung ableiten, dass daraus weitere Schritte zur Verständigung folgen“. Der Regierungswechsel biete der DDR die Gelegenheit, mit der Bundesregierung ins Gespräch zu kommen. Sie erwarte deshalb „in absehbarer Zeit“ einen Brief von Brandt.
BND-Präsident Gerhard Wessel berichtet dem Kanzler am 18. November, dass die SED-Führung beschlossen habe, „in Fragen größerer politischer Bedeutung im Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten bis auf weiteres nach außen in weitgehender Passivität zu verharren.“
Um sich ein Bild von der Lage in der DDR – einem quasi unbekannten Land – zu machen, ist Bundeskanzler Brandt auch auf den Bundesnachrichtendienst angewiesen. Der Geheimdienst ist in die ersten zögerlichen deutsch-deutschen Kontakte von Anfang an eingebunden. BND-Präsident Gerhard Wessel berichtet wöchentlich im Kanzleramt über die Lage in der DDR. Außerdem schickt er immer wieder einzelne Berichte von der Zentrale in Pullach nach Bonn. Gleichzeitig nimmt der Geheimdienst-Chef Aufträge aus dem Kanzleramt entgegen. Aufgabe des Bundesnachrichtendienstes ist es, Informationen im Ausland – und hier zählt die DDR zum Ausland – zu sammeln und zu analysieren sowie die Bundesregierung darüber zu informieren.
Doch mit Blick auf die internen Vorgänge in der SED-Spitze ist das überaus schwierig. Dem Auslandsgeheimdienst fehlen in dem abgeschotteten Land die Spitzenquellen. Die wenigen und vagen Informationen reichen oftmals nicht, um ein klares Lagebild über die Vorgänge und Überlegungen in der SED-Spitze zu erhalten. Gerade mit Blick auf die ersten zaghaften deutsch-deutschen Kontaktversuche seit Herbst 1969 ist dies überaus misslich. Denn die Bundesregierung wird immer wieder durch Vorstöße der DDR überrascht.
Post aus Ost-Berlin
Am 18. Dezember 1969 fahren zwei Abgesandte aus Ost-Berlin am Bonner Bundespräsidialamt vor. Sie haben einen Brief des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht an Bundespräsident Gustav Heinemann und den Entwurf für einen Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR in der Tasche. In dem Vertragsentwurf wird vorgeschlagen, zwischen beiden deutschen Staaten diplomatische Beziehungen aufzunehmen. In Bonn und Ost-Berlin sollten Botschaften eröffnet werden. Anschließend sei die DDR zu einem Gewaltverzichtsabkommen bereit. Und beide Staaten sollten sich gemeinsam um eine Aufnahme in die UNO bemühen. Gleichzeitig solle die Bundesrepublik den Anspruch aufgeben, ganz Deutschland zu repräsentieren.
In einem Antwortschreiben begrüßt Heinemann die Aufnahme von Verhandlungen, erklärt sich aber als Bundespräsident für nicht zuständig. Er leitet die Papiere an die Bundesregierung weiter.
Nach Brandts Regierungserklärung im Oktober hatte sich in den deutsch-deutschen Beziehungen nichts getan. Wochen waren verstrichen. Jetzt überraschte die DDR die Bundesregierung mit einem Vertragsentwurf. Mit der aktiven „neuen Westpolitik“ Ulbrichts hat in Bonn offenbar niemand gerechnet. Hatte nicht erst drei Tage zuvor der BND berichtet, „dass die DDR in der innerdeutschen Auseinandersetzung auf offizieller Ebene weiterhin größte Zurückhaltung gegenüber Bonn üben wird“? Ost-Berlin erwarte „Taten“ der Bundesregierung. Nun ist die DDR unerwartet in die Offensive gegangen. Dabei hatte es in den vergangenen Wochen durchaus widersprüchliche Signale aus Ost-Berlin gegeben.
Noch Anfang Dezember hatte der BND gemeldet, dass in Ost-Berlin eine „Konzeption zur Konkretisierung der Ostberliner Forderung nach Herstellung ,völkerrechtlicher Beziehungen‘ zwischen der Bundesrepublik und der DDR erarbeitet“ werde. Andererseits habe die SED den Beschluss gefasst, „in Fragen von größerer politischer Bedeutung im Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten sei bis auf weiteres nach außen in weitgehender Passivität zu verharren.“ Und: „Sollte dagegen aus der Bundesrepublik Deutschland ein schriftliches Angebot eingehen, so werde von Ostberliner Seite sofort mit Gegenvorschlägen geantwortet werden.“
Dass in Ost-Berlin ein Machtkampf zwischen Walter Ulbricht und Erich Honecker, die unterschiedliche deutschlandpolitische Vorstellungen haben, tobt, bekommt in Pullach niemand mit. Erst am Vortag der Regierungserklärung von Brandt hatte BND-Präsident Gerhard Wessel in der Kanzlerlage erklärt, dass es Hinweise gebe, „dass Führungswechsel trotz geschwächter Gesundheit Ulbrichts nicht vor Frühjahr 1970 diskutiert werden wird“. Außerdem sei Honeckers Ansehen in Moskau gesunken. Nun liegt plötzlich ein Vertragsentwurf aus Ost-Berlin in Bonn auf dem Tisch. Nicht nur im Kanzleramt, sondern auch in Pullach beim Bundesnachrichtendienst wird der Entwurf genau analysiert.
Der Geheimdienst ist sich sicher, dass das Ost-Berliner Angebot „Bestandteil sorgfältiger politischer Planung“ sei. Der DDR gehe es „ernstlich“ darum, „maximale Zugeständnisse der westdeutschen Seite“ zu fördern und die „eigene Position gegenüber Entspannungsforderungen oberflächlich“ zu entlasten. Die Analysten BND-Fachleute stellen fest, dass „die Formulierungen der Verhandlungsinitiative nicht darauf angelegt“ seien, „unter allen Umständen Ablehnung zu provozieren“, auch wenn sich im Entwurf eine ganze Reihe von Punkten befinde, die kommende Gespräche belasten würde. Kurzum: „Die SED sieht sich ihrerseits durch Bonn und seine Verbündete aus der Reserve gelockt und versucht nun, dieser Situation Vorteile abzugewinnen.“
Während Politiker in Ost und West miteinander ins Gespräch kommen wollen, ist die Bevölkerung in der DDR nach BND-Informationen an den Vorgängen eher desinteressiert. Das DDR-Vertragsangebot rege „kaum zu privaten Erörterungen und Diskussionen an.“ Die Menschen in der DDR seien der „aufdringlichen Agitations- und Propagandaarbeit der SED“ überdrüssig.
Gleichzeitig versucht der BND, Informationen zu den Hintergründen der Initiative aus der SED-Führung zu erhalten. Kurz vor Jahreswechsel erfährt der Geheimdienst von einem „leitenden SED-Funktionär“, dass die Partei darauf spekuliere, „dass Bonn den Ball aufgreife und dann bei konkreten Verhandlungen in Schwierigkeiten geraten werde.“ Die DDR, so die Quelle, werde weiter offensiv bleiben, den Bundeskanzler direkt zu Gesprächen auffordern und einen Termin vorschlagen. Eine Woche später meldet der BND weitere Hintergrundinformationen nach Bonn: Ein „höherer SED-Funktionär“ habe vertraulich mitgeteilt, dass der Vertragsentwurf von Ulbricht „persönlich inspiriert“, „aber zusammen mit den Sowjets vorbereitet worden“ sei. Die SED-Führung gehe davon aus, dass Brandt in seiner bevorstehenden Rede zur „Lage der Nation“ den Ost-Berliner Vorschlag „nicht in Bausch und Bogen ablehnen werde“. Vielmehr erwarte die SED nach der Rede „konkretere Kontakte für den Beginn der Verhandlungen“.
Tatsächlich ist Brandts Rede Mitte Januar 1970 die öffentliche Antwort auf Ulbrichts Vertragsentwurf. Brandt nimmt den Ball aus Ost-Berlin auf und gibt ihm eine andere Richtung und ein anderes Ziel. Er wolle die Einheit der Nation dadurch wahren, „dass das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird“. Sein Ziel sei es, durch ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen. Brandt geht in die Offensive: „Die Bundesregierung schlägt der Regierung der DDR Verhandlungen auf der Basis der Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung über den Austausch von Gewaltverzichtserklärungen vor.“
Unmittelbar nach Brandts Rede, so der BND, weist die SED-Führung die DDR-Nachrichtenagentur ADN an, dass die Rede des Kanzlers „auf jeden Fall“ zu kritisieren sei. Allerdings sollten die Kommentare „nicht in zu scharfe Form gefasst werden“. „Ausgesprochene Polemik sei zunächst zu vermeiden“. Auch „maßgebliche Regierungsfunktionäre der DDR“ reagierten nach BND-Informationen auf Brandts Rede intern negativ. Die Rede werde als „uneingeschränkte Ablehnung“ des DDR-Vertragsentwurfs gewertet. Die SED-Genossen kritisierten vor allem, dass für Brandt eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR nicht zur Debatte stehe. „Insgesamt seien die von Brandt entwickelten Grundsätze für Vereinbarungen zwischen beiden deutschen Staaten nicht akzeptabel“, so die die DDR-Regierungsfunktionäre.
Post aus Bonn.
Am 22. Januar schickt Brandt einen Brief nach Ost-Berlin. In seinem Schreiben bietet der Bundeskanzler der DDR-Führung, ohne Ulbrichts Vertragsentwurf zu erwähnen, einen offenen Meinungsaustausch und Verhandlungen an. Brandt schlägt vor: Die „nach dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung zu führenden Verhandlungen“ sollten „Gelegenheit zu einem breit angelegten Meinungsaustausch über die Regelung aller zwischen unseren beiden Staaten anstehenden Fragen, darunter denen gleichberechtigter Beziehungen, geben“. Jede Seite müsse aber frei sein, „alle ihr richtig erscheinenden Erwägungen, Vorschläge, Grundsätze und Entwürfe vorzubringen“. Die Bundesregierung wünsche, „in Verhandlungen über praktische Fragen zu Regelungen zu kommen, die das Leben der Menschen im gespaltenen Deutschland erleichtern können“. Die Gespräche sollten „ohne jeden Zeitdruck“ geführt werden. Die SED-Funktionäre reagieren nach BND-Informationen „irritiert“ auf Brandts Brief. Sie müssten „den nächsten eigenen Schritt nun erst noch überlegen“. Die DDR habe deshalb nur einen kurzen ADN-Kommentar veröffentlicht, der „nicht mehr als eine etwas kraftlose Unmutsäußerung“ sei.
Ende Januar erreichen den BND Signale aus Ost-Berlin, dass Brandts Brief beantwortet werden soll: Ein „höherer SED-Funktionär“ habe vertraulich mitgeteilt, dass der Brief im Politbüro beraten werde. Zwar seien noch keine konkreten Einzelheiten beschlossen, es stehe aber fest, dass die DDR Verhandlungen im Prinzip zustimme, der Bundeskanzler zu konkreten Vorschlägen aufgefordert werde und der Minister für innerdeutsche Beziehungen, Egon Franke, als vorgeschlagener Unterhändler nicht gefalle. Dies sei jedoch von zweitrangiger Bedeutung. Zwei Wochen später liegen dem BND Details zum geplanten Antwortbrief vor. Der Geheimdienst beruft sich dabei auf vertrauliche Angaben eines „maßgeblichen SED-Funktionärs“. Brandts Vorschlag für ein Gewaltverzichtsabkommen werde zwar aufgegriffen, aber mit der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR in Zusammenhang gebracht. Als der BND die Meldung nach Bonn schickt, ist sie allerdings überholt.
Denn erneut reisen zwei DDR-Abgesandte nach Bonn. Diesmal ist das Kanzleramt ihr Ziel. Das Schreiben von DDR-Ministerpräsident Willi Stoph, welches sie dort einem Beamten überreichen, enthält die üblichen Forderungen, aber auch einen konkreten Vorschlag. In dem Schreiben drückt Stoph sein „Bedauern“ aus, dass Brandt nicht auf den Vorschlag Ulbrichts eingegangen ist, einen Vertrag über die „Aufnahme gleichberechtigter Beziehungen“ abzuschließen. Grundlage für alle Verhandlungen könne nur die „völkerrechtliche Anerkennung“ der DDR sein. Dann geht Stoph auf den Vorschlag Brandts ein, Verhandlungen aufzunehmen. Er stimmt zu und erklärt die Gespräche zur Chefsache: Er halte es „für erforderlich“, dass er und der Bundeskanzler „zu direkten Verhandlungen zusammentreffen“. Damit überspielt Stoph Brandts Ansinnen, den Minister für innerdeutsche Angelegenheiten mit den Gesprächen zu beauftragen. Dann kommt überraschend die Einladung: „Möglichst bald“ solle Brandt in die „Hauptstadt der DDR, Berlin“ kommen. Stoph schlägt sogar Datum und Uhrzeit vor.
Von einer plötzlichen Einladung war in der BND-Meldung überhaupt keine Rede. Der Geheimdienst analysiert später: „Pankow möchte prüfen, inwieweit die Bundesrepublik bereit ist, ihre Ostpolitik durch Konzilianz gegenüber der DDR zu fördern“. Brandt antwortet Stoph und schlägt ein Treffen im März vor. Zuvor sollten Unterhändler das Gipfeltreffen vorbereiten. Laut BND ist die DDR-Regierung überrascht: Sie habe nicht damit gerechnet, dass Brandt auf Stophs Schreiben positiv reagiert. „Mit Rücksicht auf das angestrebte Entspannungsalibi sowie im Interesse der damit verbundenen Verleumdungsabsichten wäre es Ostberlin sogar nicht unlieb gewesen, wenn die Bundesregierung den Gesprächsvorschlag Stophs zurückgewiesen hätte.“ Trotzdem habe die Annahme der Einladung – so ein „zuverlässiger Meldungshinweis“ – in Ost-Berlin „trotz gegenteiliger Erwartungen und ungeachtet der damit verbundenen Risiken – Optimismus ausgelöst.“
Beim BND gibt es gleichzeitig Befürchtungen, das Gipfeltreffen in Ost-Berlin könne „Pankow reizen, dem Besuch aus der Bundesrepublik gerade demonstrativ alle nur erdenklichen protokollarischen Ehren angedeihen zu lassen.“ Mit Ehrenformation und Nationalhymne könnte die DDR die Zweistaatlichkeit öffentlich demonstrieren und symbolisch die stets gewünschte Anerkennung durch die Bundesrepublik erlangen. Doch eine BND-Quelle aus Ost-Berlin beruhigt: Die DDR-Regierung verstehe einen Besuch Brandts in der DDR als Arbeits- und nicht als Staatsbesuch. Es werde keinen protokollarischen Akt geben. „Der Bundeskanzler brauche daher nicht zu befürchten, dass er überraschenden Verlegenheiten ausgesetzt werde.“ Andere Quellen sprechen dagegen von Planungen für einen „großen Empfang mit Ehrenkompanie vor dem Staatsratsgebäude“, falls sich Brandt dazu entschließe, Ulbricht einen Höflichkeitsbesuch abzustatten.
Forschungsverbund Buch
Die Erstveröffentlichung dIeser Recherche erschien in der Augustausgabe der Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin 45/2020, veröffentlicht im Dreilindenverlag Berlin.
Die Erstveröffentlichung dIeser Recherche erschien in der Augustausgabe der Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin 45/2020, veröffentlicht im Dreilindenverlag Berlin.
Die intensiveren deutsch-deutschen Kontakte verändern nach und nach auch die Stimmung in der DDR-Bevölkerung. Nach BND-Beobachtungen schwindet dort das anfängliche Desinteresse. Ziel der SED sei es deshalb, die Diskussionen zu lenken und „gesamtdeutsche Hoffnungen“ zu dämpfen. „Erstaunlich freimütig wird von den Werktätigen in Diskussionen mit Funktionären einerseits Kritik an der starren Haltung der SED geübt und andererseits den Verständigungsbemühungen der Bundesregierung Beifall gespendet.“
Entscheidung für Erfurt
Nach komplizierten Vorgesprächen zwischen den Unterhändlern beider Staaten einigen sich am 12. März beide Seiten letztendlich darauf, das erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen am 19. März in Erfurt stattfinden zu lassen. Die Vorverhandlungen standen kurz vor dem Scheitern. Wohl auch sowjetischer Druck und der Unmut der osteuropäischen Bündnispartner hat zu dieser Entscheidung der SED geführt. Da die Bundesregierung bereit gewesen sei, auf einen anderen Verhandlungsort als Berlin auszuweichen, so ein „gewöhnlich gut orientierter polnischer Vertreter in Berlin“, hätten „die Vertreter eines harten Kurses im Politbüro der SED einen schweren Stand gehabt“.
Die SED muss nun die thüringische Bezirkshauptstadt in wenigen Tagen für das Treffen und einen internationalen Medienansturm vorbereiten. Auch der BND hat viel zu tun, jetzt muss er nicht nur die Vorgänge in der SED-Führung aufklären, sondern auch die Situation in Erfurt ins Visier nehmen. Ihm gelingt es, Anweisungen der Agitationskommission des SED-Politbüros zu bekommen. Danach sei die öffentliche Meinung in der DDR darauf vorzubereiten, „dass von dem Treffen mit Vertretern der derzeitigen Bonner Regierung nicht viel zu erwarten ist.“ In Betriebsversammlungen sollten die Agitatoren sogar behaupten: „Das Ziel der SPD-Führung ist eine spätere Einverleibung der DDR in die Bundesrepublik Deutschland bzw. die Liquidierung der DDR.“ Und: Der einzige Unterschied zwischen der CDU und der SPD sei die „sozialistische Fassade“ der SPD. Vor allem befürchte die SED „falsche Hoffnungen in der Bevölkerung“.
Eine Vorgabe für die Genossen in den Betrieben laute deshalb: „Gegen das Bonner Schlagwort von den menschlichen Erleichterungen ist mit dem Argument zu agitieren, dass die DDR-Bevölkerung Erleichterungen nur aus einer Erhöhung der Produktivität und der damit verbundenen Stärkung des Staates beziehen kann und nicht aus Almosen der Bundesrepublik Deutschland.“
Zwei Tage vor dem geplanten Treffen meldet der BND „vertrauliche Mitteilungen“ eines „höheren SED-Funktionärs“ nach Bonn. Bei dem Gipfeltreffen werde Stoph immer wieder auf den DDR-Vertragsentwurf zurückkommen. Und: „Das gesamte Gespräch solle nach Ostberliner Wunsch in freundlicher Atmosphäre stattfinden.“ Allerdings: „Übereinstimmung sei bei diesem ersten Treffen in keiner Frage zu erwarten.“ Die DDR werde einem zweiten Treffen in der Bundesrepublik zustimmen. Es solle, da Brandt nicht nach Ost-Berlin gekommen ist, auch nicht in Bonn stattfinden. Ebenfalls zwei Tage vor dem Gipfeltreffen meldet der BND, dass die SED darauf bedacht sei, den Brandt-Besuch in Erfurt „sorgfältig gegen die mitteldeutsche Bevölkerung abzuschirmen“.
Abgehörter SED-Spitzenfunktionär
Am selben Tag findet die letzte Lagebesprechung vor der Abreise mit BND-Präsident Gerhard Wessel im Kanzleramt statt. Er referiert zwanzig Minuten lang und kann punkten:
Den Anwesenden präsentiert er ein mitgeschnittenes Telefonat zwischen SED-Propagandachef Albert Norden und dem 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Erfurt, Alois Bräutigam. „1.000 Genossen oder so viele wie Du für nötig erachtest“ will der Spitzenfunktionär dem Erfurter Statthalter zur Verfügung stellen, „damit nicht etwa die Kleinbürger – besonders da in der Gegend Bahnhof, ‚Erfurter Hof‘ usw. – damit nicht Kleinbürger das Bild beherrschen…“. Die Information, dass die Telefonleitung eines SED-Spitzenfunktionärs erfolgreich angezapft wurde, ist so brisant, dass Wessel die kleine Runde ausdrücklich auf den Schutz solcher Quellen hinweist. „Werden sie bekannt, wird DDR sie sofort stopfen“.
„Vielleicht trage ich Eulen nach Athen“, sagt Brandt-Berater Egon Bahr. Aber sei es nicht möglich, die Gespräche während des Treffens zwischen Stoph und Ulbricht mit Richtstrahlern zu erfassen? Wessel antwortet kurz: „Sie tragen Eulen nach Athen.“ Die Runde lacht. Kanzler Brandt gibt zu Protokoll, dass er an „allen Erkenntnissen zu Gespräch Erfurt“ interessiert sei. Wessel verspricht, dass er alle neuen Informationen in den Sonderzug des Kanzlers nachschicken werde.
In der gleichen Lagebesprechung informiert der BND-Präsident auch über die KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Das Kanzleramt hatte um Informationen gebeten, als der Besuch Brandts in der Gedenkstätte in den Reiseplan kurzfristig aufgenommen wurde. Wessel legt die Ergebnisse seiner Recherchen vor. Er versichert, „dass Buchenwald nach 1945 nur von Sowjets als Internierungslager benutzt worden und Stoph nicht für Gräueltaten verantwortlich sei.“ Der BND schickt noch einen Lageplan und eine „nähere Darstellung über die nunmehrige Ausgestaltung der Gedenkstätte“ ins Kanzleramt. Die Dokumente hat der Geheimdienst dem „Stadtführer Weimar“ von 1969 entnommen. Das ist scheinbar alles, was der BND in der Kürze der Zeit ermitteln kann.
In Erfurt laufen gleichzeitig die letzten Vorbereitungen für das Gipfeltreffen. Brandt und Stoph sollen sich im Hotel „Erfurter Hof“ treffen. Dort sind mehrstündige Gespräche geplant. Nach BND-Informationen sollen die Straßen im Erfurter Bahnhofsviertel bereits zwei Tage vor dem Gipfeltreffen „von linientreuen Parteigenossen beherrscht werden“. „Kleinbürger“ passen der SED nicht ins Bild. Auch die zahlreichen westlichen Journalisten bereiten nach BND-Informationen der SED Sorge. Sie sollen daran gehindert werden, das Land zu „überschwemmen“ und sich Bürger zu „greifen“. Deshalb sollen sie durch ein umfangreiches Programm „beschäftigt“ werden. Unter anderem seien Gedenkstätten-Besuche und Interviews mit Spitzensportlern geplant.
Gleichzeitig werden SED-Genossen auf den Umgang mit westlichen Journalisten vorbereitet. Grundsätzlich hätten sie „brutale Klassengegner“ vor sich, wird ihnen eingeschärft, „die jedes Wort auszunutzen versuchten“. Deshalb sollten die Genossen in Interviews stets offensiv antworten, „um Veränderungen des Inhalts durch Schnitte möglichst zu verhindern“. Einen Tag vor dem Treffen meldet der BND das Ergebnis einer geheimen Umfrage der SED unter der DDR-Bevölkerung. Danach hätten 70 Prozent der Arbeiter auf die Frage, ob die DDR ihr Vaterland sei, mit „nein“ geantwortet und „Deutschland“ als ihr Vaterland bezeichnet. Für die SED-Führung sei das Ergebnis „katastrophal“ gewesen. „Trotz nüchterner Erwartungen“ sei die Parteispitze „schockiert“. Deshalb habe dort die Tendenz bestanden, das Treffen zwischen Stoph und Brandt kurzfristig scheitern zu lassen. Honecker, der Ulbrichts deutschlandpolitische Vorstellungen ablehnt, „habe im Politbüro triumphierend darauf hingewiesen“, so der BND, „dass er der einzige gewesen sei, der sich gegen das Treffen von Brandt und Stoph ausgesprochen habe.“
"Die Erregung in der Bevölkerung nimmt immer mehr zu"
An dem Tag vor dem Treffen schickt der BND mehrere Meldungen nach Bonn. Der Geheimdienst meldet mit Blick auf die DDR, „dass die Erregung in der Bevölkerung noch immer zunimmt.“ Offenbar braut sich etwas zusammen. Deshalb, so der BND, „wachsen die agitatorischen und administrativen Anstrengungen der Partei“. So müsse die SED „energisch gegen die Parole vorgehen, es lohne sich, sofort nach Erfurt zu reisen, weil dort aus propagandistischen Gründen im Augenblick – ähnlich wie gewöhnlich zur Messezeit in Leipzig – die Schaufenster und Läden gefüllt seien.“ Außerdem gebe es Stimmen: „Man müsse eine Dienstfahrt per Wagen nach Erfurt organisieren, damit man den Bundeskanzler begrüßen und ihm zujubeln könne.“ Vor allem Schüler seien entschlossen, nach Erfurt zu fahren. Es gebe sogar unter Schülern den Gedanken, in Erfurt zu demonstrieren. Die Stasi habe die SED gebeten, die Namen ehemaliger Sozialdemokraten zu nennen, „die im Zusammenhang mit dem Erfurter Treffen Schwierigkeiten bereiten“. Denn: „Dies wird für notwendig gehalten, weil sich derartige Erscheinungen mehrten.“ Der BND berichtet auch, dass die SED-Bezirksleitung Erfurt allein am Tag des Gipfeltreffens 1.000 Agitatoren einsetzen wolle, „um die Diskussionen in der Öffentlichkeit politisch bestimmen und beherrschen zu können. Bei den Agitatoren handelt es sich um Funktionäre aus einer Sonderschule bei Erfurt und der Bezirksparteischule; „der Einsatz einheimischer Agitatoren wird vermieden.“
Trotz aller Detailmeldungen und Stimmungsbilder ist für Brandt und die Bundesregierung bis zuletzt unklar, welche Absichten die SED-Führung hat. In der „Nachrichtendienstlichen Führungsorientierung“ vom 18. März schreibt der BND: „Das Meldungsbild lässt noch keinen eindeutigen Schluss zu, ob die SED-Führung in Erfurt eine einmalige Konfrontation sucht oder dem Erfurter Treffen weitere folgen zu lassen bereit ist.“ Und: Brandt weiß nicht, was ihn in Erfurt erwartet: ein organisierter Parteiaufmarsch oder Demonstrationen von Jugendlichen?
Als Brandt am Abend des 18. März in Bonn mit einem Sonderzug Richtung Erfurt aufbricht, sind auch BND-Mitarbeiter mit an Bord. Sie sollen die Nachrichtenverbindung des Kanzlers nach Bonn aufrechterhalten. Kurz nach Mitternacht, um 0.37 Uhr, tickert im Nachrichtenwaggon des Sonderzuges der Fernschreiber. Der Bundesnachrichtendienst schickte eine Meldung: Stoph werde sich „in seiner Argumentation gegenüber Brandt möglicherweise auf bestellte Äußerungen aus der Bevölkerung abstützen“. Nach BND-Informationen werde entsprechendes Material von der SED-Bezirksleitung Erfurt bereitgehalten. „Über seine tatsächliche Verwendung ist noch nicht entschieden.“ Wenige Stunden später rollt der Sonderzug durch den Eisernen Vorhang in ein unbekanntes Land.
Der Tag von Erfurt
Würden die Erfurter Willy Brandt und Willi Stoph zu sehen bekommen? Am Morgen des 19. März ist sich die Bild-Zeitung sicher: „Wer Willy Brandt in Erfurt sehen darf, bestimmt die SED!“. Den Kanzler werde „kaum Beifall oder gar Jubel begrüßen“. Die Zeitung zitiert Regierungssprecher Conrad Ahlers mit den Worten, „dass der Bahnhofsvorplatz mit ausgesuchten Personen gefüllt sein wird“. Doch Bild sollte sich irren. Schon am Morgen registriert der BND in Erfurt, dass der Absperrgürtel um das Bahnhofsviertel nicht umfassend ist. Bereits eine halbe Stunde vor der Ankunft von Brandts Sonderzug ist der erste Sicherheitsgürtel durchbrochen. Eine Straßenbahn, die die Sicht auf den Bahnhofsvorplatz verdecken soll, und nach lautstarkem Protest der Erfurter wegfährt, ist laut Geheimdienst „das auslösende Moment“.
„Durch den überstürzten Rückzug dieses Gespanns wurde vollends jede Ordnung beseitigt.“ 4.000 bis 5.000 Menschen stürmen nun Richtung Hotel. In dieser Menge hätten sich nach BND-Informationen auch 1.000 SED-Genossen befunden, „die auftragsgemäß ‚Pfui Brandt‘ riefen“. Als um 9.30 Uhr Brandt zusammen mit Stoph das Portal des Erfurter Hauptbahnhofes verlässt und die wenigen Meter über den Bahnhofsvorplatz zum Tagungshotel „Erfurter Hof“ schreitet, brechen alle Dämme. Der Platz wird endgültig von den Menschen gestürmt. Kann Brandt mit den widersprüchlichen BND-Berichten im Hinterkopf die Situation einordnen? Ist das eine SED-Inszenierung? Oder hat die Partei die Kontrolle verloren? Auf den Fernsehbildern ist Brandts ungläubiger, ernster Blick zu sehen. Die beiden Delegationen retten sich schließlich im letzten Augenblick ins Hotel. Die Menge jubelt und schreit und fordert schließlich „Willy Brandt ans Fenster!“
Genau um 9.45 Uhr zeigt sich Brandt schweigend am Hotelfenster. Die Menschen auf dem Platz schreien auf, jubeln, winken – niemand kann sie hindern. Der Korrespondent der New York Times berichtet: „Es war ein Aufschrei tief aus dem Innersten, der sich an die Deutschen in allen Teilen des Landes richtete und zu besagen schien: ,Wir sind ein Volk!‘“
Für die SED ist der spontane Jubel für Brandt vor den Kameras der Weltöffentlichkeit eine internationale Blamage. Der BND zitiert einen ZK-Funktionär: „Wir haben eine Niederlage erlitten.“ Der BND nennt später mehrere Gründe, weshalb die SED nicht eingreift: die westlichen Kamerateams, zu wenige zuverlässige Genossen in Zivil und die Anordnung, die Funkgeräte nicht zu benutzen. „Mit dieser Maßnahme hatte sich der Apparat selbst lahmgelegt.“
Die SED steht nun vor einem Problem: Wie sollen die Vorgänge auf dem Bahnhofsvorplatz den eigenen Genossen und der Bevölkerung erklärt werden? Zwar wird in den DDR-Medien nicht über den Zwischenfall berichtet, doch die Nachricht verbreitet sich über westliche TV- und Radio-Stationen.
Nach BND-Informationen schickt die SED-Bezirksleitung noch am Abend eine „Direktive“ an die Funktionäre. Urheber für die „Beifallskundgebungen für Brandt“ seien westliche Journalisten gewesen, „die mit einigen feindlichen Elementen aus der eigenen Bevölkerung zusammengearbeitet hätten“. Und: „Die Partei habe trotz der komplizierten Situation und der Provokation eine großartige Leistung vollbracht.“ Die Genossen empfehlen ihren Agitatoren, für die „programmwidrige Begrüßung“ des Kanzlers „westliche Journalisten im Bündnis mit verkleideten Provokateuren und feindlichen Elementen“ verantwortlich zu machen.
Nach dem spontanen Jubel für Brandt und dem Beginn der Gipfelgespräche beruhigt sich vor dem Hotel die Lage schnell wieder. Den Sicherheitskräften gelingt es nach und nach, die Menge abzudrängen und zu zerstreuen. Der Platz wird wieder abgeriegelt. Nur noch die Presse hat Zutritt. Doch plötzlich tauchen wieder Menschen auf. Gegensprechchöre marschieren auf. Zuverlässige, regimetreue Bürger von der Bezirksparteischule skandieren ab Mittag: „Hoch, hoch, hoch, es lebe Willi Stoph!“ Ein absurdes Schauspiel.
Nachdem die SED die Ordnung auf dem Bahnhofsvorplatz und in der Erfurter Innenstadt wiederhergestellt hat, beginnen die Festnahmen. Der Bundesnachrichtendienst ist über die Zahl der Festgenommen detailliert informiert. Nach seinen Angaben werden bis zum Nachmittag des 19. März circa 30 Menschen festgenommen. Bis zum Abend ist die Zahl auf 100 gestiegen. Zwei Tage nach dem Gipfeltreffen weiß der Geheimdienst von 119 „überwiegend jugendliche Personen“, die in Gewahrsam genommen wurden. Die Stasi versucht wochenlang, die Brandt-Jubler zu identifizieren. Dabei nutzt sie nicht nur ihre eigenen Beobachtungsfotos, sondern auch westdeutsche Fernsehbilder, die sie abfotografiert hat.
Aber das deutsch-deutsche Gipfeltreffen ist noch nicht zu Ende. Eine ähnliche Blamage wie auf dem Bahnhofsvorplatz will die SED am Nachmittag in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald nicht noch einmal erleben. Dort wird Brandt zu einer Kranzniederlegung erwartet. Durch „Täuschungsmanöver“ über die Fahrtroute Richtung Weimar soll verhindert werden, dass der Konvoi mit dem Bundeskanzler „durch auf die Straße drängende Bevölkerungsgruppen einfach zum Stehen gebracht“ wird. Außerdem werden tausende zuverlässige Angehörige der Betriebskampfgruppen in die Gedenkstätte gebracht. Denn die SED befürchtet, dass Brandt auch in Buchenwald zugejubelt werde.
Auf Brandt wartet in Buchenwald eine gelungene DDR-Inszenierung, die ihn in Verlegenheit bringt. All das, was sich Brandt für Erfurt verbeten hatte, wird in der Gedenkstätte aufgeboten: Zwei Soldaten der Ehrenkompanie der Nationalen Volksarmee tragen den bundesdeutschen Kranz in den Glockenturm zum ewigen Feuer, weitere Uniformierte mit Stahlhelm und Kalaschnikow bilden das Spalier. Dahinter stehen schweigende Menschen, rote Fahnen wehen im eisigen Wind. Alles wirkt wie ein Staatsbesuch. Brandt ist in eine protokollarische Falle getappt.
Indem er das Protokoll, die Fahnen, Hymnen und Soldaten respektiert, so das Kalkül der SED-Genossen, zollt er symbolisch die erhoffte Anerkennung. Der BND hatte den Kanzler nicht gewarnt. Den Besuch in der Gedenkstätte hatte ihm ein neuer Mitarbeiter vorgeschlagen. Sein Name: Günter Guillaume, Top-Spion der DDR-Staatssicherheit, Deckname „Hansen“. Es ist unklar, ob Guillaume aus eigenem Antrieb den Gedenkstättenbesuch vorgeschlagen oder ob er im Auftrag gehandelt hat.
Suche nach Schuldigen
Auch nach der Rückkehr Brandts in die Bundesrepublik bleibt Erfurt weiter im Visier des BND. Noch in der Nacht nach dem Gipfeltreffen habe es ein Gespräch zwischen dem Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung, Ministerpräsident Stoph und Ulbricht gegeben, so der Geheimdienst. Vor allem für Ulbricht, der sich mit dem Gipfeltreffen gegen seinen Rivalen Honecker durchgesetzt hat, ist der Jubel für Brandt eine Niederlage. Bei dem Gespräch, so der BND, sei die ursprüngliche Kritik an der Bezirksleitung für die „Pannen“ etwas abgemildert worden. Nach Ulbrichts Einschätzung habe „das Protokoll die Partei zu Hilfskräften degradiert und die Sicherheitsfunktionäre die Polizei zu stark eingeschränkt“.
Der BND kommt zu dem Schluss: „Fest steht, dass Partei, Sicherheitsapparat und Protokoll mit getrennten Stäben nebeneinander her gearbeitet haben.“ Später legt nach BND-Informationen die SED intern fest, „dass der Parteiapparat des Bezirkes Erfurt weder einzige noch wichtigste Zielschreibe für Tadel sein soll.“ Allerdings weiß der BND auch von erheblichen „persönlichen Reibungen“ zwischen SED-Spitzenfunktionären und Mitarbeitern des Staatsapparates. Der Erfurter SED-Bezirkschef wirft vor allem den Mitarbeitern des Ministerrates „Amtsanmaßung“ vor. Aber auch der verantwortliche Generalmajor der Staatssicherheit gerät in Visier. Letztendlich verzichtet die SED nach BND-Informationen aber auf „exemplarische Maßregelungen“. Dadurch werde eine Schwächung des Funktionärsapparates vermieden „und durch Kritik und Selbstkritik eine wirkungsvollere Vorbereitung auf ähnliche Fälle gefördert“.
Nach dem deutsch-deutschen Gipfeltreffen liefert der BND auch umfangreiche Stimmungsberichte aus der DDR. Dort würden deutschlandpolitische Fragen „weiterhin lebhaft“ diskutiert. Viele „Werktätige“ seien verärgert über das „anmaßende Auftreten der Repräsentanten der DDR gegenüber der westdeutschen Delegation“. Vor allem die „offiziösen Unfreundlichkeiten“ gegenüber Regierungssprecher Conrad Ahlers würden kritisiert. Die nachmittägliche „Gegendemonstration des Funktionärsapparates“ vor dem Tagungshotel werde als „Störung des Verhandlungsklimas“ empfunden. Außerdem werde die Berichterstattung in den DDR-Medien „heftig und breit“ kritisiert. Über den Jubel für Brandt sei nicht berichtet worden. Deshalb hätten sogar viele Parteimitglieder westliche Informationen genutzt. Die Persönlichkeit Brandts werde von der DDR-Bevölkerung dagegen „sehr positiv“ beurteilt.
Nach dem Gipfeltreffen stellt der BND auch eine „Beurteilung des Erfurter Treffens durch Pankow“ zusammen. Die Analyse beruht auf „internen Informationen aus dem Führungsapparat“ der SED. Danach werde das Treffen zwiespältig bewertet: Einerseits glaube die DDR, sie habe politischen Gewinn verbuchen können, andererseits hätten sich unerwartet Schwächen der eigenen Position gezeigt.
So werde die Demonstration für Brandt intern als Demonstration gegen die SED gewertet. „Die von der SED aufgebaute Kulisse zielte nämlich darauf ab, die westdeutsche Delegation von der Etablierung eines DDR-Bewusstseins in der Bevölkerung zu überzeugen.“ Der BND ist sich deshalb sicher: „Für die mitteldeutsche Bevölkerung wird dies in nächster Zeit eine spürbare Verhärtung des innenpolitischen Kurses der SED zur Folge haben.“ Ein Jahr später stürzt Honecker seinen Mentor Ulbricht.
Zitierweise: Jan Schönfelder, "Das erste deutsche-deutsche Gipfeltreffen im März 1970 in Erfurt im Visier des BND", in: Deutschland Archiv, 24.08.2020, Link: www.bpb.de/314392 Der Text ist zugleich in einer gedruckten Fassung erschienen in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (der FU Berlin), Ausgabe 45/2020, S. 148-159.
Dr. Jan Schönfelder ist seit 1999 Redakteur des Mitteldeutschen Rundfunks in Thüringen mit dem Schwerpunkt deutsch-deutsche Zeitgeschichte. Er studierte Neuere Geschichte, Kunstgeschichte und Germanistischen Literaturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).