Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes, ihre Aufarbeitung und die Erinnerungskultur
Ein Überblick und ein Denkanstoß zu einer ausgebliebenen Debatte
Gerhard Sälter
/ 37 Minuten zu lesen
Link kopieren
Der Historiker Gerhard Sälter aus der Stiftung Berliner Mauer beleuchtet die Schwierigkeit, zu einer exakten und einheitlichen Zählweise der Opfer des Grenzregimes der DDR zu kommen, "für welche die SED-Führung verantwortlich war und welche dem SED-Regime zuzurechnen sind". Und er stößt eine weitere Debatte an: Wie und in welchem Kontext muss sich Erinnerungskultur damit auseinandersetzen, wenn sie kommende Generationen ansprechen will?
KAPITEL I. Forschen und Erinnern: Der öffentliche Umgang mit den Todesopfern
In der öffentlichen Wahrnehmung der DDR-Geschichte spielte das von der SED errichtete Grenzregime seit 1990 eine einerseits wichtige und zugleich untergeordnete Rolle.
Waren die Grenzopfer, die sog. Mauerschützen und die für das Grenzregime Verantwortlichen in der Öffentlichkeit und den Medien in den neunziger Jahren überaus präsent, so fand das Grenzregime selbst, über das man wahrscheinlich bereits alles zu wissen glaubte, als konkreter historischer Kontext wenig Beachtung. Das Grenzregime galt seit Beginn der Aufarbeitung in den neunziger Jahren als nicht erklärungsbedürftig, da sein verwerflicher Charakter schon während des Kalten Krieges fixiert worden war und eine moralische Neubewertung angesichts der Strafverfahren gegen die Verantwortlichen nicht notwendig schien. Die Enquete-Kommission des Bundestages zur Aufarbeitung der SED-Diktatur befasste sich in mehr als neun voluminösen Bänden gar nicht damit.
Bei dieser Haltung blieb es. Die Darstellung des von der SED unter Anleitung der Sowjetunion errichteten Grenzregimes und des Umgangs der Bevölkerung mit ihm überließ die akademische Forschung weitgehend den Autoren populärer Sachbücher und den Aufarbeitungsinitiativen. Damit fehlen bis heute wesentliche Kenntnisse über das Grenzregime, seine Motive und seine Ausformungen als Grundlagen für eine Bewertung.
Auf dem Weg zu einer Opferbilanz des Grenzregimes
Die Todesopfer fanden erstmalig mit der strafrechtlichen Ahndung der Gewalttaten an den Grenzen der DDR ein stärkeres öffentliches Interesse. Die Gerichtsverfahren waren in den neunziger Jahren Gegenstand einer kontrovers geführten öffentlichen Diskussion.
Ihre Ergebnisse sind in der juristischen Fachliteratur unter rechtsdogmatischen Gesichtspunkten breit diskutiert worden, in der Geschichtswissenschaft jedoch bisher kaum. Die neben der IM-Diskussion wahrscheinlich erhebliche politische Funktion der Strafverfahren in der Transformationsgesellschaft, etwa für die Delegitimierung der DDR-Eliten im Begründungszusammenhang für den Elitenaustausch in Ostdeutschland, ist bisher erst in Ansätzen thematisiert worden.
Erste belastbare Zahlen für die Todesopfer des DDR-Grenzregimes wurden von den Strafverfolgungsbehörden publiziert. Die zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter, eine staatsanwaltliche Vorermittlungsbehörde, ging 1993 von 274 durch Fremdeinwirkung getöteten Opfern aus. Die Zentrale Ermittlungsstelle der Polizei (ZERV) gab in ihrem letzten Bericht 2001 die Zahl von vermutlich 421 Toten an. Die Berliner Staatsanwaltschaft berichtete am Ende ihrer Ermittlungstätigkeit 2004 von 270 nachweislich durch Schusswaffen und Minen umgekommenen Opfern. Eine 1999 erstellte Bilanz der strafrechtlichen Ahndung nannte 264 Todesfälle. Diese Zahlen repräsentieren den strafrechtlich relevanten Kern des Grenzregimes, weil sie nur die durch Fremdeinwirkung zu Tode gekommenen Menschen beziffern.
Ausgehend von diesen Zahlen begann die historische Forschung zu den Todesopfern. Zunächst wurden empirische Kategorien für das biographisch angelegte Forschungsprojekt zu den Todesopfern an der Berliner Mauer entwickelt. Im Deutschland Archiv wurden bereits im Jahr 2006 Kategorien für die zu erfassenden Todesfälle zur Diskussion gestellt: Entweder sei ein Fluchthintergrund für einen Todesfall oder ein enger kausaler Zusammenhang mit dem Grenzregime sowohl zeitlich als auch räumlich gegeben. Daraus ergaben sich im Kern vier Fallgruppen:
Personen, die bei einem Fluchtversuch im Grenzgebiet von Angehörigen der bewaffneten Organe der DDR getötet wurden oder durch Minen zu Tode gekommen sind;
Personen, die bei einem Fluchtversuch im Grenzgebiet ohne Fremdeinwirkung bei einem Unfall gestorben sind;
Personen, die unabhängig von einer Flucht im Grenzgebiet aufgrund von Handeln oder Unterlassen staatlicher Organe der DDR zu Tode kamen;
Angehörige der Grenztruppen, die bei Fluchtaktionen getötet wurden .
Als relevant galt die Verbindung eines Todesfalls mit einer Fluchtaktion bzw. einem direkten Verursachen bzw. Unterlassen von Behörden der DDR im Grenzgebiet. Zentral für die Definition war der Gedanke, dass es sich um Opfer ungerechtfertigter Staatsgewalt im Zusammenhang mit dem Grenzregime handelte. Deshalb waren tödliche Schusswaffenunfälle bei den Grenztruppen ausdrücklich nicht einbegriffen, weil diese in jeder Armee vorkommen, weder intendiert waren noch billigend in Kauf genommen wurden und nicht in kausaler Beziehung zum Grenzregime stehen. Außerdem blieben Todesfälle durch „Herzanfall“ bei Kontrollen unberücksichtigt, weil auch diese nicht zwingend und nachweisbar durch das Grenzregime verursacht worden sind. Hinter der Diagnose „Herzschlag“, die zumeist von nichtmedizinischem Personal erstellt worden ist, können sich verschiedenste Todesursachen verbergen.
Außerdem wurden Suizide von Grenzsoldaten ausgeschlossen. Auch in diesen Fällen wurde ein direkter Kausalzusammenhang mit dem Grenzregime aus mehreren Gründen verneint. Erstens war nach den einschlägigen Forschungen die Selbstmordrate in den Grenztruppen niedriger als in der NVA. Zweitens standen gerade Grenzpolizisten und Grenzsoldaten, denen die Zumutungen des Grenzregimes zu viel wurden, andere Wege offen, sich ihm zu entziehen. Neben Anträgen auf Entpflichtung und Versetzung war das der für sie relativ einfache Weg in den Westen, für den sich einige entschieden. Drittens reagieren Suizide in der Regel auf sehr komplexe und zum Teil biographisch sehr weit zurückreichende psychische Problemlagen, was eine eindeutige kausale Beziehung zum Grenzregime ausschließt.
Diese Kategorien wurden in den ersten Forschungsprojekten zu den Grenzopfern adaptiert. Im biographisch angelegten Projekt zu den 140 Opfern an der Berliner Mauer wurden sie leicht variiert übernommen. Das Projekt zu den 39 Grenztoten in Berlin vor 1961 legte sie ebenfalls zugrunde, auch wenn sich der Anteil der getöteten Flüchtlinge im Ergebnis als sehr viel geringer erwies als in der Periode nach 1961. Eine Studie zu den 21 Opfern an den Grenzen Sachsens folgte, auch mit Blick auf eine konsistente Gesamtzahl der DDR-Grenzopfer, ebenfalls den erprobten Definitionen. Nach diesen ersten Projekten fehlten noch die Opferzahlen für die innerdeutsche Grenze und für die Ostsee. Die ZERV hatte eine Zahl von vermutlich „189 Grenztoten im Bereich der Ostsee“ ermittelt, die bei einem Fluchtversuch ertranken oder von Grenzern in und an der Ostsee getötet wurden. Die genaue Zahl versucht derzeit ein Forschungsprojekt der Uni Greifswald in Kooperation mit dem Forschungsverbund SED-Staat der FU Berlin zu dokumentieren.
Seit etwa einem Jahrzehnt wird fachöffentlich die Frage ventiliert, ob nicht Bürgerinnen und Bürger der DDR, welche versuchten, über Drittstaaten in den Westen zu flüchten, den Opfern des DDR-Grenzregimes zuzurechnen sind. Für die Grenze zwischen Rumänien und Jugoslawien sind mehrere Todesfälle dokumentiert. Für die Grenzen Bulgariens liegen Studien vor, die hinsichtlich der Bewertung des bulgarischen Grenzregimes und der Zahl der deutschen Opfer voneinander abweichen. Es wurden zwanzig Todesfälle ermittelt. Eine Diskussion darüber, ob und wie diese in eine Gesamtstatistik des DDR-Grenzregimes einzufügen wären, steht noch aus.
Den Forschungsprojekten ging es darum, die an der Grenze gestorbenen Menschen wieder sichtbar zu machen und ihre Geschichten in historische Kontexte einzubetten. Darüber hinaus eröffnen sie jedoch mit den generierten Fallzahlen ein wissenschaftlich abgesichertes Schuldkonto der SED-Diktatur. Es gibt weitere Opfergruppen der SED-Diktatur, aber was Todesopfer angeht, so finden wir sie vor allem an den Grenzen der DDR zum Westen.
Schuld bedeutet jedoch „Vorwerfbarkeit“. Es muss, so der Konsens der bisherigen Forschungsprojekte, eine Verantwortlichkeit der DDR-Regierung für jeden Todesfall nachweisbar sein, damit wir in ihm ein Opfer der SED-Diktatur erkennen. Das ist bei den Minenopfern und Erschossenen unmittelbar gegeben, im weiteren Sinne trifft es auch auf diejenigen mittelbar zu, die angesichts des Grenzregimes einen riskanten Fluchtweg nahmen und bei der Flucht tödlich verunfallten. Schon bei den Grenzpolizisten und Grenzsoldaten jedoch, die im Dienst getötet wurden, ist es fraglich, ob sie dem SED-Regime zur Last gelegt werden können, dessen Helfer sie waren.
Begrenzte Debatten um eine angemessene Erinnerung
Unterdessen fanden die Todesopfer der Berliner Mauer Eingang in das kollektive Gedächtnis. Für einige der Opfer, etwa den am 17. August 1962 an der Mauer verbluteten Peter Fechter, aber auch andere, bestanden seit langem mehr oder minder denkanstoßgebende Erinnerungsorte.
Zahlreiche Gedenkzeichen waren seit den sechziger Jahren errichtet worden, viele in bürgerschaftlichem Engagement. Nach dem Mauerfall setzte sich die westliche Tradition des Gedenkens ungebrochen fort: „the traditions that prevailed in former West Berlin continued largely unaltered“. Daran knüpfte auch die Stiftung Berliner Mauer an. Bei der 2006 durch das Senatskonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer angestoßenen Neugestaltung der Gedenkstätte Berliner Mauer war die Erinnerung an die Todesopfer ein wichtiges Element.
Ausgehend vom Gesamtkonzept des Berliner Senats war im wissenschaftlichen Beirat der 2008 gegründeten Stiftung Berliner Mauer unumstritten, dass der geeignete Ort der zur Gedenkstätte gehörende Teil des Evangelischen Sophienfriedhofs an der Bernauer Straße sei, weil dann die Erinnerung an die Todesopfer einen Rückbezug an die frühere Funktion dieses Teils der neuen Gedenkstätte erlaubte. Dort, wo ab 1961 Gräber dem Todesstreifen weichen mussten, wurde das „Fenster des Gedenkens“ errichtet, das mittels vergrößerter Portraitfotos in einem Stahlrahmen an die Todesopfer an der Berliner Mauer erinnert und ihnen ein Gesicht gibt. Die Gestalt des Fensters als moderne Interpretation eines antiken Kolumbariums war vom Architektenteam vorgegeben, das Ende 2007 den Wettbewerb gewonnen hatte.
Die Erinnerung an die Todesopfer bildet eines von fünf Darstellungsebenen der Dauerausstellung im Gedenkstättenareal. Außerdem wurden für die in der Bernauer Straße selbst zu Tode gekommenen Flüchtlinge Erinnerungszeichen an den Orten errichtet, an denen bereits kurz nach ihrem Tod erste Gedenkzeichen aufgestellt worden sind.
Kontrovers wurde in den Gremien der Stiftung die Frage diskutiert, welche Todesopfer überhaupt in das Fenster aufgenommen werden sollten. Im Zentrum der Diskussion des wissenschaftlichen Beirats stand dabei die Frage, ob die acht im Dienst getöteten Grenzsoldaten den Flüchtlingen und anderen Todesopfern in dieser Beziehung gleichgestellt werden sollten. Im Juli 2009 entschieden die Gremien der Stiftung nach intensiven Diskussionen, die Grenzsoldaten nicht aufzunehmen. Für diese Entscheidung war ausschlaggebend, dass die Helfer der Diktatur, die sie faktisch waren, wenn auch als Wehrpflichtige zumeist unwillentlich, nicht unkommentiert neben deren Opfern stehen sollten. Das wäre sowohl unangemessen als auch öffentlich nur schwer vermittelbar gewesen. Die Namen der acht getöteten Grenzsoldaten werden allerdings in einer gewissen räumlichen Distanz zum Fenster des Gedenkens in der Dauerausstellung der Gedenkstätte genannt. Um ihren Opferstatus gibt es am Fenster selbst immer wieder Diskussionen.
Die Todesopfer an der innerdeutschen Grenze
Die breite Öffentlichkeit und die Medien zeigten nach dem Ende der sog. Mauerschützenprozesse Anfang dieses Jahrhunderts nur noch wenig Interesse an den Todesopfern. Die öffentliche Wahrnehmung der DDR-Vergangenheit wurde dominiert von der Erinnerung an die Bespitzelung durch die Staatssicherheit, zudem wurde eine teilweise irritierende Diskussion über „Ostalgie“ geführt. Die Forschung zu den Todesopfern wurde jedoch fortgesetzt. 2012 beauftragte der Beauftragte für Kultur und Medien der Bundesregierung, Bernd Neumann, den Forschungsverbund SED-Staat mit Erhebungen zur Anzahl und zu den Biographien der Todesopfer an der innerdeutschen Grenze. Ergebnisse des Projekts unter Leitung von Klaus Schroeder und Jochen Staadt waren eine Internetseite und ein 2017 publiziertes umfängliches Handbuch mit 327 Biographien. Einbegriffen waren neben 238 zivilen Opfern 24 im Dienst getötete Grenzpolizisten und Grenzsoldaten, aber auch 21 „weitere“ Todesfälle und 44 Suizide von Grenzern.
Obwohl das quantitative Ergebnis dieser Studie auf einer Erweiterung der Opferkategorien beruhte und damit die Konsistenz einer Gesamtbilanz des DDR-Grenzregimes gefährdete, wurde der Band zunächst wohlwollend rezensiert. Erst mit zeitlichem Abstand wurde Kritik laut. Nach der exemplarischen Durchsicht einiger Fallakten warf die Fernsehjournalistin Gabi Probst den Verantwortlichen im November 2018 in einem Beitrag des ARD-Mittagsmagazins vor, sie hätten „Täter zu Opfern gemacht“, weshalb die Zahl der Todesopfer um „mindestens 50 Opferfälle“ nach unten korrigiert werden müsse. Unter die aus ihrer Sicht zweifelhaften Fälle zählt Probst die Suizide von Grenzsoldaten. Mehrere Verwandte und Freunde hätten ihr eindeutig private Motive für mehrere Selbstmorde von Grenzern bestätigt, die im Buch als Opfer des Grenzregimes bezeichnet werden. Zudem weist Probst auf Uminterpretationen hin, wenn etwa der Hauptwachtmeister der DDR-Grenzpolizei Walter Monien, der im August 1951 von einem sowjetischen Militärtribunal in Halle wegen „Antisowjethetze“ zum Tode verurteilt worden war, weil sich der ehemalige SS-Mann angeblich vor Kameraden mit der Erschießung von Kriegsgefangenen und seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS gebrüstet hatte, unter die Opfer des Grenzregimes eingereiht wird. Dieser Kontext wird im Buch auch beschrieben. Weil aber Monien einem Kameraden erzählt hatte, er wolle im Umfeld der Ost-Berliner Jugendweltfestspiele in den Westen flüchten, gilt er den Autoren als Opfer des Grenzregimes, obwohl er nicht bei der Flucht selbst zu Tode kam (räumlicher Zusammenhang) und es zudem den Anschein hat, als ob Monien wegen seiner Äußerungen verhaftet wurde und erst in zweiter Linie wegen der Fluchtgefahr.
Die Fallbeschreibung zu Walter Monien im Buch von Klaus Schroeder und Jochen Staadt, eingeordnet im Kapitel "Todesfälle im kausalen Zusammenhang des DDR-Grenzregimes".
Aufgrund der Vorwürfe, nicht einschlägige Todesfälle zu den Opfern des Grenzregimes gezählt zu haben, kündigte Staatsministerin Monika Grütters an, die Ergebnisse der Studie überprüfen zu lassen. Das Internetangebot der Bundesregierung nennt mittlerweile die Zahl von „mindestens 260“ Todesopfern an der innerdeutschen Grenze und hält sich damit eine Festlegung offen. Die Angaben werden in einer Fußnote erläutert, in der es heißt: „Höhere Opferzahlen, die an anderer Stelle genannt werden, beziehen wissenschaftlich umstrittene Fallkategorien ein oder gründen auf unsicheren Quellen“.
Staadt Grenzregime-Buch
Kontrovers diskutierte Studie: "Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949-1989". Das Handbuch erschien 2017 zunächst als Studie des Forschungsverbunds SED-Staat der Freien Universität Berlin im Wissenschaftsverlag Peter Lang, später auch in der Schriftenreihe der bpb (Band 10119).
Kontrovers diskutierte Studie: "Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949-1989". Das Handbuch erschien 2017 zunächst als Studie des Forschungsverbunds SED-Staat der Freien Universität Berlin im Wissenschaftsverlag Peter Lang, später auch in der Schriftenreihe der bpb (Band 10119).
Die Bundeszentrale für politische Bildung nahm das Schröder/Staadt-Buch zeitweilig aus ihrem Angebot und eröffnete eine Debatte darüber im Interner Link: Deutschland Archiv. Anfang 2021 wird sich dort ein wissenschaftliches Kolloquium mit breiter Beteiligung um die Entwicklung einheitlicher Opferkategorien bemühen.
Der Kritik von Probst schlossen sich drei DDR-Forscher und -Aufarbeiter, Christian Sachse, Maria Nooke und insbesondere Interner Link: Michael Kubina mit ähnlichen Argumenten an. Kubina konzentriert seine Kritik auf die Aufnahme von drei Personengruppen. Dazu zählt er, an mehreren Beispielen untermauert, Todesfälle, die eben keinen kausalen Zusammenhang zum Grenzregime aufwiesen, sondern bestenfalls einen akzidentiellen. Bei den Suizidfällen bemängelt Kubina, dass es sich fast durchweg um Offiziere und Unteroffiziere handelte, die „aus eigenem Entschluss“ zum Grenzdienst gegangen waren und entweder aufgrund dienstlicher Versäumnisse ihre Karriere gefährdet glaubten oder private Probleme hatten. Diese Männer den Grenzopfern gleichzustellen, bezeichnet Kubina als „skandalös und respektlos“ diesen gegenüber. Es diskreditiere die Erinnerung an sie, wenn ihnen verzweifelte Militärkader zugerechnet würden, die sich aus Angst um ihr individuelles Fortkommen in der Diktatur das Leben nahmen
Die Bedeutung der Zäsur von 1961 für das Grenzregime
Während diese Einwände nachvollziehbar sind, verhält es sich bei der von Kubina ebenfalls kritisierten Einbeziehung der Todesopfer vor 1961 anders. Kubina postuliert, dass das Grenzregime der DDR bis 1961 hauptsächlich auf die Bekämpfung krimineller Schmuggler ausgerichtet gewesen sei, weshalb es keine erinnerungswürdigen Opfer produziert haben könne.
Sicherlich hätte es der Klarheit gedient, wenn das Buch die Zäsur des Mauerbaus deutlicher markiert hätte, aber die an der Grenze erschossenen Menschen in (zu den Opfern gehörende) Flüchtlinge und (dazu nicht zu zählende) Grenzgänger zu scheiden, führt in die Irre. Dadurch gerät der Unterschied zwischen dem Grenzregime der DDR und üblichen Formen der Grenzüberwachung aus dem Blick. Kubinas Hinweis auf Tote an der Westgrenze der Bundesrepublik, zu denen es keine Forschung gibt, ist nicht sachgemäß, weil das DDR-Grenzregime eben nicht vorrangig auf die Bekämpfung von organisierten Schmuggelbanden ausgerichtet war (die an der belgischen Grenze sogar Panzerwagen einsetzten ), sondern von vorn herein der Stabilisierung der SED-Diktatur diente.
Es mag sogar sein, dass die Verhinderung von Fluchten bis 1961 nicht der primäre Zweck des Grenzregimes war, auch wenn das nur Kubina mit Vehemenz bestreitet. Wahrscheinlich war die Demonstration ihrer von der Bundesrepublik bestrittenen Souveränität gerade an den Grenzen zum Westen ein wesentliches Motiv der SED zur Errichtung des Grenzregimes. Auch sowjetische Traditionen der Grenzsicherung und der Feindbildproduktion dürften eine Rolle gespielt haben.
Die Ausgestaltung des Grenzregimes spricht zudem dafür, dass schon früh eine von der SED befürchtete ideologische Beeinflussung der DDR-Bürger aus dem Westen etwa durch Alltagskontakte verhindert bzw. in ihren Auswirkungen vermindert werden sollte.
Aus diesem Motivgeflecht entstand ein besonderes Grenzregime an den Grenzen der DDR zum Westen, das nicht primär auf eine Überwachung des grenzüberschreitenden Verkehrs und das Unterbinden von Schmuggel ausgerichtet war.
Schon 1948/49 wurden an der innerdeutschen Grenze die zuvor unbürokratisch ausgegebenen Erlaubnisscheine für den kleinen Grenzverkehr eingezogen, um die DDR gegen den Westen abzuschotten. 1952 schuf die SED nach sowjetischem Vorbild und einem Fingerzeig aus Moskau einen Grenzraum entlang der innerdeutschen Grenze, dessen Bewohner besonderen und im Alltag erheblich einschränkenden Normen unterworfen waren. Das verdeutlicht das Bestreben der SED, die innerdeutsche Grenze zu einer Systemgrenze auszubauen, die einer besonderen Überwachung und Kontrolle unterlag.
Spätestens seit diesem Zeitpunkt, wahrscheinlich aber früher, war bei nicht autorisiertem Übertreten der Grenze der Einsatz von Schusswaffen angedroht. Das kennzeichnet das frühe Grenzregime der DDR als eines, das von internationalen Standards abweicht, indem es die Staatsraison gegenüber den Rechten und dem Leben der Bürger absolut setzte.
In Berlin tritt der Zusammenhang zwischen prekärer Souveränität, Machtsicherung und Grenzregime ebenso deutlich hervor. Dort setzte ein besonderes Grenzregime 1948 mit der Blockade ein. Nachdem die Grenzkontrollen mit ihrem Ende 1949 zunächst aufgehoben worden waren, wurden sie 1952/53 wieder aufgenommen. Seitdem versuchte die SED-Führung, in Berlin ein gestaffeltes Grenzregime aus drei Elementen zu etablieren: Vollständige Abschottung der Grenze zwischen der DDR und West-Berlin, Stichprobenkontrollen an der Grenze zwischen den beiden Stadthälften und Ausbau der Grenze zwischen Ost-Berlin und der DDR zu einer vorgeschobenen Systemgrenze. Aufgrund der weltpolitischen Konjunkturen ließ sich das erste Element nicht dauerhaft umsetzen, aber die Kontrollen in der Stadt wurden Realität und Bürger der DDR mussten in den fünfziger Jahren Pass- und Zollkontrollen über sich ergehen lassen, wollten sie ihre Hauptstadt besuchen.
Der Einsatz von Schusswaffen auch an diesen Grenzen, selbst zwischen der DDR und Ost-Berlin, schuf ein alles andere als normales Grenzregime. Weil es dazu diente, Freizügigkeit und Westkontakte mit polizeistaatlichen Mitteln zu verhindern und dadurch die Diktatur von den Grenzen her zu stabilisieren, ist das Grenzregime der DDR als ein nicht gerechtfertigtes zu verstehen, an dessen Opfer wir uns erinnern – und zwar unabhängig vom individuellen Motiv des Grenzübertritts, das die SED und die von ihr beauftragten Grenzeinheiten ebenfalls nicht interessierte.
So sind vor dem Mauerbau in Berlin Bauern aus der DDR an der Grenze erschossen worden, die eigene Produkte auf West-Berliner Märkten verkaufen wollten. Ost-Berliner kamen zu Tode, die Verwandten im Westteil ein paar Pfund Butter mitbringen wollten. Bereits anerkannte DDR-Flüchtlinge gingen über die halboffene Grenze nach Ost-Berlin, um einzukaufen oder Freunde zu treffen. Sie mussten Grenzkontrollen vermeiden, wenn sie nicht wegen ihrer Flucht verhaftet werden wollten, und mehrere wurden dabei erschossen. Diese Menschen müssen, im Gegensatz zu Kubinas Auffassung, als Opfer dieses Grenzregimes verstanden werden. Dabei tut es nichts zur Sache, wie intensiv die Grenze bereits durch technische Sperren gesichert war und wie häufig legale wie illegale Grenzübertritte waren.
Problematische Fälle und eine noch ausstehende Gesamtbilanz
Abgesehen von der Bewertung der Zäsur von 1961 ist die Kritik Probsts und Kubinas am Buch zu den Opfern an der innerdeutschen Grenze jedoch berechtigt. Einige Fälle wären selbst nach den im Buch aufgestellten Kriterien nicht als Opfer des Grenzregimes einzustufen, wie zwei Beispiele zeigen. 1950 kam Ida Fuß zu Tode. Ein befreundeter Grenzpolizist schnitt ihrem Bruder die Haare und nahm, als eine Streife sich näherte, seinen Karabiner auf, wobei sich versehentlich ein Schuss löste und sie traf. Dieser Fall wäre als nicht durch das Grenzregime verursachter Unfall einzustufen. Auch bei anderen ist eine kausale Verbindung zum Grenzregime umstritten, insbesondere, wenn große Interpretationsspielräume blieben.
Buchseite Witte
Ausschnitt aus der insgesamat dreiseitigen Fallbeschreibung "Maria Witte" im Buch über die Grenzregimeopfer von Schröder/Staadt.
Ausschnitt aus der insgesamat dreiseitigen Fallbeschreibung "Maria Witte" im Buch über die Grenzregimeopfer von Schröder/Staadt.
Die Nonne Maria Witte ("Schwester Sigrada") aus Aschersleben wollte im August 1951 die Grenze bei Hötensleben zu Fuß in Richtung Bundesrepublik überqueren, als sie offenbar einen Herzanfall erlitt, so diagnostizierten es zumindest mehrere Ärzte. Mehrere Kinder gaben jedoch an, sie hätten deutliche Spuren von Gewalt und mehrere russische Soldaten direkt neben der Leiche gesehen. Ihre Aussagen deuten auf eine versuchte Vergewaltigung hin, deren Spuren die Täter durch einen Mord zu vertuschen versuchten. Von solchen nur schwer einzuordnenden Fällen gibt es mehrere. Nach Prüfung der Falldarstellungen im Buch, ohne Nachprüfung in den Quellen, sind mindestens neun Fälle bei den zivilen Todesopfern nicht einschlägig, mindestens weitere elf sind zumindest als diskussionswürdig zu bezeichnen. 1971 drang beispielsweise Frank Möller von der Bundesrepublik aus bewaffnet in das Grenzgebiet ein und eröffnete bei seiner Entdeckung das Feuer auf die Grenzsoldaten, was die Schuldfrage zumindest schwierig macht.
Zusammen mit den aus meiner Sicht grundsätzlich fragwürdigen Suizidfällen, bei denen es sich in ihrer Majorität um überzeugte Mittäter handelte, und den eindeutig nicht dem Grenzregime zuzurechnenden Fällen, bei denen Personen in Moskau erschossen worden sind, wurden zweifelhafte Todesfälle in solchem Ausmaß in das Buch aufgenommen, dass sie dessen Gesamtergebnis in Frage stellen. Die Darstellung und Bewertung der Einzelfälle deuten zudem, soweit sich das ohne Kenntnis der Quellen sagen lässt, auf Defizite in der Quellenkritik und der historischen Kontextualisierung hin.
Wenn nicht allein ein loser Zusammenhang mit dem Grenzregime, sondern eine Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit der DDR-Staatsführung das grundlegende Kriterium für die Bewertung eines Todesfalls als Opfer des Grenzregimes bilden soll, wenn also die Darstellung sich auf die Opfer ungerechtfertigter Staatsgewalt an den Grenzen beziehen soll, dann steht zu befürchten, dass möglicherweise bis zu einhundert der aufgeführten Todesfälle einer eingehenden Überprüfung hinsichtlich einer kausalen Verbindung zum Grenzregime nicht standhalten werden. Das macht aus meiner Sicht, obwohl die Mehrheit der Fälle valide zu sein scheint, eigentlich eine Neubewertung der Ergebnisse des Projekts erforderlich.
Unabhängig von der Bewertung dieses Projekts, um das weiter diskutiert werden wird, ist die Forschung zu den Opfern des DDR-Grenzregimes auch wegen der immer präziseren Schilderung von Einzelschicksalen aber gut vorangekommen. Mit den erwähnten Forschungen der Universität Greifswald zum Geschehen an und in der Ostsee werden wir einer Gesamtbilanz der Todesopfer des DDR-Grenzregimes deutlich näher kommen. Aber gleichzeitig geht es bei der Diskussion um die anzuwendenden Kriterien auch um den Stellenwert der Opfer in der kollektiven Erinnerung.
Nachdem die Zahlen zu den Todesopfern an der innerdeutschen Grenze konsolidiert worden sind und die Universität Greifswald ihre Forschungen zu den Todesopfern in und an der Ostsee abgeschlossen haben wird, werden am Ende wahrscheinlich etwa 650 Todesopfer des DDR-Grenzregimes dokumentiert sein, für welche die SED-Führung verantwortlich war und welche dem SED-Regime zuzurechnen sind.
Auch wenn die Zahlen noch etwas höher ausfallen sollten, was durchaus sein kann, bleibt die Aufgabe, diese Bilanz des SED-Grenzregimes zu bewerten und, um dies angemessen und glaubwürdig zu tun, in die Gewaltgeschichte des Kalten Krieges einzuordnen. Anders formuliert, ist die Frage zu beantworten, was es über die SED und den von ihr dominierten Staat aussagt, wenn in einer Periode von vierzig Jahren etwa 650 Menschen an seinen Grenzen durch Staatsgewalt zu Tode kamen. Wenn wir an diese Opfer erinnern, sollten wir uns vergegenwärtigen, in welchem Kontext wir das tun.
Seit einigen Jahren wird darüber diskutiert, ob es geschichtspolitisch angemessen war, die westdeutschen Traditionen des Gedenkens nach 1990 ohne öffentliche Debatte unverändert weiterzuführen: „Der Zäsurcharakter von 1989/90 kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wurzeln der Mauer-Erinnerung in der Zeit der Teilung selbst liegen“ und dass „der politische Gebrauch ihrer Geschichte die jeder öffentlichen Erinnerung inhärenten Tendenz zur selektiven Reduktion historischer Komplexität noch verstärkt.
Das Grenzregime diente nach der Vereinigung zunächst als negative Vergleichsfolie zur westdeutschen Demokratie, ohne dass die Opfer und die Umstände ihres Todes dabei eine große Rolle spielten: „The inhumane boundary and the authoritarian East German regime behind it were thereby stylized into comparative object lessons in the virtues of present-day liberal democracy. [...] The bad days of the GDR and its brutal border regime were gone, and although an evocation of the Wall’s evils was desirable, within carefully defined lines, a more comprehensive public occupation with the barrier’s victims was not.“ Die Geschichte der Bundesrepublik diente dabei „lediglich als eine positive Interpretationsfolie für eine Negativdarstellung der DDR.“
Da für ein solch kurzsichtiges und affirmativ auf die Bundesrepublik bezogenes Erinnern die 1990 schon bestehenden Mahnmale auszureichen schienen und vermeintlich keine originalen Relikte als Anschauungsmaterial benötigt wurden, bestand für eine Gedenkstätte zur Berliner Mauer, in der die Opfer erinnert und in die historischen Zusammenhänge eingebettet werden, in den neunziger Jahren noch kein geschichtspolitischer Bedarf.
Die bruchlose Fortsetzung der im und vom Kalten Krieg geprägten westlichen Erinnerungskultur gedieh in einer Atmosphäre des Triumphs, die aus dem westdeutschen Antikommunismus erwachsen war. Die Todesopfer an den Grenzen der DDR galten bis 1989 als Blutzeugen „in broader battles between the two Germanys over the most fundamental asset necessary for these bitter rivals, as indeed for any state: political legitimacy“. Das auf diesen Märtyrern sich gründende Gefühl moralischer Überlegenheit des Westens verfestigte sich 1989/90 und motivierte das anfangs beschriebene Desinteresse an den konkreten Details des Grenzregimes.
Doch mittlerweile wird das Ausbleiben von „geschichtspolitischen Auseinandersetzungen um das Erinnern und Gedenken“ beklagt. Es könnte an der Zeit sein, die Debatte um die Konturen des Erinnerns an die Grenztoten nachzuholen, auch um sie von der politischen und geschichtspolitischen Inanspruchnahme zu entlasten.
Einordnen und kontextualisieren: Die Gewaltgeschichte des Kalten Krieges
Bei diesen Toten an Grenze und Mauer handelt es sich einerseits nur um die leidvollsten Opfer des Grenzregimes. Vermutlich 75.000 Menschen wurden wegen eines Fluchtversuchs oder der Vorbereitung dazu inhaftiert. Mehrere tausend Menschen verloren bei den Zwangsumsiedlungen 1952 und 1961 Eigentum und Heimat. Antragsteller auf Ausreise wurden diskriminiert, Repressionen unterworfen und inhaftiert. Dazu kommt die Vielzahl all jener, die in der DDR aus politischen Gründen in Haft saßen, Überwachung, Drangsalierung und Repression ausgesetzt waren oder aus anderen Gründen diskriminiert wurden.
Die Todesopfer an Mauer und Grenze bilden andererseits die weitaus größte Gruppe von Opfern tödlicher Staatsgewalt, welche der SED-Diktatur zuzurechnen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese, anders als die Opfer nationalsozialistischer Verbrechen, von der SED-Führung nicht intendiert waren. Sie wurden, um es in der Sprache der Strafgerichte zu sagen, für die Erhaltung der Macht der SED in der DDR und für die Durchsetzung des Grenzregimes „billigend in Kauf genommen“. Dieser Unterscheidung zwischen Intention und billigender Hinnahme markiert – neben der Größenordnung – einen wesentlichen Unterschied zum Nationalsozialismus. Insofern begründen die Grenzopfer „ungeachtet so vieler Übereinstimmungen in Herrschaftsinszenierung und Machtausübung“ zwischen dem Dritten Reich und der DDR „eben keinen Zivilisationsbruch“ der SED-Diktatur.
Eine Frage ist zudem, wie sich die DDR-Grenzopfer in die Gewaltgeschichte des Externer Link: Kalten Krieges einordnen lassen. Wir kennen Gewaltszenarien ungleich größeren Ausmaßes und wer diese bei der Bewertung der SED-Diktatur ignoriert, läuft Gefahr, an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Denn das Insistieren auf der Signifikanz der Grenztoten für den Unrechtscharakter der SED-Diktatur kann angesichts der Dimensionen staatlichen Gewalthandelns zu einer Verzerrung des Geschichtsbildes und zu einer Perhorreszierung des Bildes von der DDR führen.
In diesem Zusammenhang verbietet es sich, von den Millionen Opfern der nationalsozialistischen Diktatur zu sprechen, welche wegen des Ausmaßes der von ihr ausgehenden Todesgewalt ein unvergleichlicher „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) war. Das 20. Jahrhundert kennt jedoch zahlreiche Beispiele für massive Tötungsgewalt. Die Militärdiktatur in Argentinien ließ von 1976 bis 1983 mindestens 12.000 Menschen töten, wahrscheinlich deutlich mehr (die sog. Verschwundenen), und es sind 340 Haft- und Folterzentren nachgewiesen.
Der Diktatur der Militärs in Chile von 1973 bis 1990 sind nach zurückhaltenden Berechnungen mindestens 4.000 Todesopfer und vermutlich mehr als 100.000 Folteropfer zuzurechnen. In Indonesien fielen 1965/66 mindestens eine halbe Million (wahrscheinlich betrugen die Opferzahlen ein Vielfaches) Kommunisten, Christen und Demokraten Massakern zum Opfer, die mit Unterstützung der USA und aus der Bundesrepublik organisiert worden sind. Die Thematisierung dieser Gewaltdimension gehört zum Bewertungskontext der SED-Diktatur und ihres Grenzregimes.
Auch die Nachkriegsgeschichte der demokratischen Staaten Westeuropas ist geprägt von staatlichem Gewalthandeln gegen Unschuldige in den Kolonien, aber auch in Europa selbst – das ist kein Alleinstellungsmerkmal von Diktaturen. Als in Paris am 17. Oktober 1961 beispielsweise Algerier friedlich gegen eine Ausgangssperre demonstrierten, welche menschenrechtswidrig nur für Algerier galt, wurde die Demonstration mit massiver Polizeigewalt aufgelöst, selbst Maschinenpistolen kamen zum Einsatz. Menschen wurden erschossen oder brutal zusammengeschlagen. Verletzte verbluteten in den Straßen. Verhaftete wurden in den Polizeirevieren totgeschlagen, andere mit gebrochenen Gliedern oder gefesselt in die Seine geworfen. Mindestens 200 Menschen wurden Opfer dieses Massakers, einige Schätzungen gehen von zwei- bis dreifach höheren Zahlen aus. Allein 50 Menschen wurden nach der Festnahme in der Polizeipräfektur erschlagen. Solche Ereignisse sind den Rezipienten unserer Erzählung über die DDR gegenwärtig. Das gilt umso mehr in einer Zeit, in der solche Informationen ubiquitär medial verfügbar sind und rezipiert werden.
Darüber hinaus sind auch heutige Opferzahlen staatlicher Gewalt in der Gesellschaft präsent. In den USA, um eine weitere Zahl zu nennen, starben in den Jahren 2015 bis 2017 jährlich knapp 1.000 Menschen durch Polizeikugeln. Die Zahl der Todesopfer, die zwischen 1993 und 2015 im Mittelmeer bei der Flucht nach Europa zu Tode gekommen sind, wird auf 14.000 bis 22.000 geschätzt; offizielle Zahlen liegen nicht vor.
Es ist umstritten, wie stark das EU-Grenzregime dazu beiträgt, die Todesrate bei der Migration in Richtung Europa zu erhöhen. Allerdings dürfte unbestreitbar sein, dass das Migrations- und Grenzregime der EU Teil der komplexen Ursachen dafür ist. Solche Zusammenhänge können Zweifel säen an einer Gedenkpraxis, die 650 Grenzopfer der DDR beklagt, aber von diesen Opfern schweigt.
Darüber hinaus droht das sich auf die Friedliche Revolution und die Vereiniung stützende Freiheitspathos brüchig zu werden, wenn die EU und die Bundesregierung gleichzeitig mit der libyschen Regierung paktieren, welche Flüchtlinge unter grausamen Bedingungen in Lagern festhält. Damit haben die Europäische Union und die Bundesrepublik ihre Unschuld in Bezug auf Grenzregime verloren, welche bisher das historische Gedächtnis an die Grenzopfer der DDR stützte.
Tötungsgewalt und SED-Diktatur
Versteht sich das Erinnern an den Nationalsozialismus angesichts der Dimension der Verbrechen heute von selbst, so ist die staatliche und kollektive Erinnerung an die DDR, anfangs eine plausible Selbstverständlichkeit, dreißig Jahre nach ihrem Ende immer wieder neu zu begründen. Das hängt auch mit Veränderungen der Gesellschaft zusammen: „Generationswechsel, Migrationsprozesse und Globalisierung bedingen einen Wandel von Geschichtsbewusstsein und Erinnerungskultur. [...] Die nationalen Bezugsrahmen historischer Identitätsstiftung und kollektiver Gedächtnisbildung sind zu starr geworden.“
Angesichts dieser Herausforderung und der beschriebenen Zusammenhänge muss die DDR-Aufarbeitung die Opfer der Diktatur in größere Zusammenhänge einordnen, um den Nachgeborenen die Bedeutung des Grenzregimes und seiner Opfer zu erläutern. Aus den vielfältigen Informationen zu staatlichem Gewalthandeln außerhalb der DDR ergibt sich, wenn sie nicht aktiv aufgegriffen werden, die Gefahr einer Relativierung der DDR-Erinnerung. Diese Gedanken sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Unrecht an der Mauer ein zentrales Element der kollektiven Erinnerung an die DDR bleiben muss und ein individuelles Gedenken an ihre Opfer erfordert. Es geht vielmehr darum, verständlich zu machen, was an den Grenzen der DDR geschah, und dies Geschehen in die Gewaltgeschichte Europas als Erfahrungshintergrund einzubetten, ohne es zu relativieren. Vorderhand scheinen dies drei Strategien zu ermöglichen. Dazu gehört eine Individualisierung, um ein Verständnis zu erreichen, welcher Schmerz den Opfern und ihren Angehörigen zugefügt worden ist. Um dabei Perhorreszierung zu vermeiden, sollten die Opferschicksale eine historische Einbettung erfahren. Das setzt eingehende Forschungen zum Grenzregime voraus, die Akteure, Motive und Zusammenhänge konkret benennen.
Schließlich könnte sich eine Gedenkkultur als sinnvoll erweisen, welche sich zu anderen Opfergruppen öffnet und aktuelle Ereignisse aufgreift, um im öffentlichen Gedenken aus der verlorenen Unschuld des Westens eine Tugend zu machen.
Buchcover Mauertote
Ebenfalls im Angebot der bpb-Medienzentren: "Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961-1989" von Hans-Hermann Hertle und Maria Nooke (560 S.), bpb-Schriftenreihe (Band 10504).
Ebenfalls im Angebot der bpb-Medienzentren: "Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961-1989" von Hans-Hermann Hertle und Maria Nooke (560 S.), bpb-Schriftenreihe (Band 10504).
Mit den drei in Teil I erwähnten biographischen Büchern zu den Todesopfern (an der Berliner Mauer, in Berlin vor 1961 und an der innerdeutsche Grenze) ist ein wesentlicher Schritt getan, weil sie nicht nur die Biographien der Opfer dokumentieren und würdigen, sondern darüber hinaus individuelle Entscheidungsprozesse nachvollziehbar machen und in geschichtliche Zusammenhänge einordnen.
Der finnische Historiker Pertti Ahonen geht noch weiter, indem er Opferbiographien exemplarisch in die Geschichte der DDR und der deutsch-deutschen Beziehungen einbettet. Dabei bleibt der persönliche Schmerz der Betroffenen als eine Erfahrungsebene deutlich: „The Wall and its commemoration remain highly politicized, despite the more dispassionate and inclusive form that some of the relevant effort has assumed. [...] Amidst all the discussions of the Wall’s political, ideological and symbolic significance, it is imperative to remember that its profoundest legacies remain highly personal ones, composed of irreparable loss and sustained grief.“
Hinsichtlich der Einbettung in die DDR-Geschichte ist jedoch der gelegentlich hervorgerufene Eindruck irreführend, die SED-Führung habe diese Opfer intendiert. Die Gewalt an den Grenzen muss zudem nicht zwingend ein Beleg für den totalitären Charakter der DDR sein, sie kann auch als Zeichen für die Schwäche des SED-Staates gelesen werden. Nicht umsonst gilt der Einsatz von Militär gegen die eigenen Bürger (im Fall der DDR die Verwendung der Grenztruppen) in der Geschichte der Moderne als Kennzeichen eines schwachen Staates.
Die Gewalt an den Grenzen ist Ausweis der geringen Akzeptanz der SED-Herrschaft in der ostdeutschen Gesellschaft. Deshalb sah sich die SED-Führung genötigt, den Bürgern für den Erhalt ihrer Macht das Menschenrecht auf Freizügigkeit zu verweigern, ihre Herrschaft durch eine vergleichsweise starke Geheimpolizei und intensive Bespitzelung zu festigen, sowie durch ein Grenzregime, das Todesopfer in Kauf nahm. Diese beiden Aspekte, die Verweigerung von Freizügigkeit und die von der SED als absolutes Ziel verstandene Machtsicherung, kennzeichnen das Grenzregime der DDR als Herrschaftsinstrument einer Diktatur.
Jedoch gehört Tötungsgewalt nicht zu den zentralen Merkmalen des SED-Staates. Die Macht der SED beruhte (mit den folgenreichen Ausnahmen wie nach dem 17. Juni 1953 oder eben an der Grenze) im Alltag nicht auf massivem Gewalthandeln gegen seine Bürger. Ihre Herrschaftspraxis war auf die Integration möglichst vieler Bürger in die von ihr errichtete politische und soziale Ordnung ausgerichtet – ohne nach deren legitimierender Zustimmung zu fragen. Die ostdeutsche Diktatur ist dadurch gekennzeichnet, dass die SED-Führung nicht nur die Wirtschaft zentral lenkte, sondern das öffentliche Leben kleinteilig durchorganisierte und dabei lenkend und ordnend in das Leben der Bürger eingriff. Die Funktionäre der SED entwickelten sehr konkrete Vorstellungen davon, wie die Menschen leben und sich verhalten sollten, und daraus erwuchsen Rollenzuschreibungen für die Bürger, welche ihnen ihren Ort und ihre Funktion in der Gesellschaft zuwiesen.
Weil die SED damit in paternalistischer Weise tief in die individuelle Lebensführung eingriff, eines Lebensbereichs also, der in freien Gesellschaften vor Eingriffen des Staates geschützt ist, entstand in der DDR ein im Vergleich zu westlichen Gesellschaften wesentlich intensiverer Konformitätsdruck. Dieser wurde noch einmal dadurch erhöht, dass die SED nicht nur die politische Macht bei sich konzentrierte, sondern erheblichen Einfluss auf die sozialen Chancen aller DDR-Bürger nahm, die sich dadurch zu Wohlverhalten gegenüber der SED gezwungen sahen.
Gefragt war in der DDR das Unterordnen unter die Macht der Partei, das Einfügen in die von ihr geschaffene soziale Ordnung und die aktive Beteiligung an der Gestaltung dieser Ordnung nach den Vorstellungen der Parteifunktionäre. Das wurde zu Recht als beständige Gängelung erfahren, die bei sozialer und politischer Abweichung durch Zwangsmaßnahmen auf unterschiedlichen Stufen staatlicher Repression flankiert war, welche die Überwachungsmaßnahmen der Staatssicherheit und mitunter langjährige Haftstrafen einschloss.
Wegen ihrer Eingriffe ins Private und des darin sich ausdrückenden staatlichen Misstrauens (und ihres wirtschaftlichen Misserfolgs) hat die SED, trotz ihrer Angebote auf Integration und sozialen Aufstieg und anders als die nationalsozialistische Diktatur, die Mehrheit der Bevölkerung niemals für sich gewinnen können. Diese Erfahrung von allge-genwärtigem Anpassungsdruck und Repressionsfurcht, in den Gebieten an der Grenze noch einmal verstärkt, begründet wesentlich den Unrechtscharakter der SED-Diktatur und sollte das Zentrum der DDR-Erinnerung bilden.
Umrisse einer erneuerten Erinnerungskultur
Wenn man dieser Sicht auf die DDR-Geschichte folgen mag und gleichzeitig die Gewaltgeschichte des Kalten Krieges und aktuelle Entwicklungen als Hintergründe historischen Erinnerns mitdenkt, stellt sich die Frage nach einem angemessenen Gedenken neu.
Fraglos muss die Vergegenwärtigung der Todesopfer des Grenzregimes als ein von der SED sehenden Auges verursachtes individuelles Leid in einer veränderten Erinnerungskultur ihren Platz behalten. Wie diese veränderte Praxis des Gedenkens und der Vermittlung aussehen könnte, ist in der weiteren Diskussion zu klären. Es könnte jedoch sinnvoll sein, die Geschichte der DDR nicht mehr als ein abgeschlossenes Kapitel zu behandeln, bei der Jüngere die Frage stellen, warum sie überhaupt noch von Belang ist. Schon heute wird die Feststellung getroffen, die DDR sei für Schüler so weit entfernt wie die Antike. Eine Chance, die DDR-Erinnerung virulent zu halten, wäre, sie stärker in einen Diskurs über aktuelle Probleme zu integrieren und durch lebensweltliche Bezüge die zeitliche Distanz zu überwinden. Die DDR bliebe nicht „tote“ Geschichte, sondern würde einprägsames Beispiel. Migration und Grenzregime drängen sich – trotz aller Unterschiede zwischen der DDR und heutigen Problemen – geradezu als Themen auf. Dadurch könnte ein stärkerer Aktualitätsbezug den Beitrag der DDR-Aufarbeitung zur gesellschaftlichen Selbstvergewisserung stärken. Verweigert sie sich einer solchen Horizonterweiterung, läuft sie Gefahr, mit den Erzählungen über die DDR zu einer zwar medial präsenten und gut finanzierten, aber ansonsten belanglosen Nischenangelegenheit zu werden.
Dass solche Verbindungen funktionieren können, ist an zwei Beispielen staatlicher und kirchlicher Erinnerungspraxis zu sehen. Bei der offiziellen Andacht zum Mauerbau in der Gedenkstätte Berliner Mauer verknüpfte Interner Link: Jörg Hildebrandt, ein langjähriger Bewohner der Bernauer Straße, am 13. August 2019 das Gedenken an die Mauertoten mit der Erinnerung an die Grenztoten im Mittelmeer und den Herausforderungen wachsender autoritärer Tendenzen.
Seit 2018 verfolgt die evangelische Versöhnungsgemeinde Berlin ein ähnliches Konzept. Eine Andacht erinnerte auf Youtube unter dem Motto: „Grenzen töten – gestern und heute“ an das Maueropfer Klaus Brueske. Zwei Flüchtlinge begleiteten, offenbar aus einem Flüchtlingsheim, die Andacht mit Musik. Die Andachten für die Maueropfer wechseln sich im Internetauftritt der Gemeinde ab mit solchen für im Mittelmeer ertrunkene Fluchtopfer, etwa an Suzan Hayider, die zusammen mit ihren beiden Kindern im März 2017 ertrank.
Die Beispiele zeigen, dass die Verbindung von aktuellen Problemen mit der Erinnerung an die Opfer des DDR-Grenzregimes letzterer keinen Abbruch tut, sondern deren gesellschaftliche Relevanz verstärkt. Die Einbettung der Geschichten der SED-Opfer in eine breitere Narration und die Einbeziehung heutiger Erfahrungen, Fragen und Debatten wird deren Erfahrungen nicht entwerten, sondern könnte ein angemessenes Erinnern an die DDR und die Opfer der SED-Diktatur befördern und bereichern. Die Externer Link: Stiftung Berliner Mauer hat solche Anregungen in ihren Vermittlungsangeboten etwa mit ihrem Outreach-Programm bereits aufgenommen.
Auch Fragen über die heutigen Grenzbefestigungen rund um Europa und über ertrinkende Fluchtopfer auf dem Mittelmeer zu stellen, gehört zum Nachdenkprozess, den die Gedenkstätte Berliner Mauer mit zusätzlichen Sonderausstellungen auf dem ehemaligen Mauerstreifen anregen möchte.
Die Verquickung von aktuellen Problemen und DDR-Erinnerung geschieht ohnehin. Ein Beispiel sind die „Weißen Kreuze“ für Maueropfer, die 2014 im Rahmen einer als Kunstaktion deklarierten Intervention temporär von ihrem Standort nahe dem Reichstag entfernt worden sind. Sie wurden an den Grenzzäunen der EU zu einer Anklage gegen dessen Grenzregime und zu einer Kritik an dem als „nostalgisch-sedierend“ und angesichts der Todesopfer im Mittelmeer als heuchlerisch wahrgenommenen offiziellen Gedenken.
Linke Aktivisten sind nicht die einzigen, die solche Verbindungen herstellen. Jorge M. Bergoglio, der aktuelle Papst Franziskus, kritisierte unlängst, die Berliner Mauer bleibe dreißig Jahre nach ihrem Fall „ein Sinnbild für eine Kultur der Teilung“, die heute in neuer Form bestehe und „der Gewalt die Türen öffnet“. Es könnte der öffentlichen Erinnerung förderlich sein, solche Kontrastierungen nicht abzuwehren, sondern für eine lebensweltliche Verankerung von DDR-Geschichte produktiv zu machen.
Der Historiker Volkhard Knigge hat vor fast zwanzig Jahren in Bezug auf den Nationalsozialismus darauf hingewiesen, dass erinnern nur der kann, der zur Erlebnisgeneration gehört. Der Imperativ des Erinnerns läuft mit wachsendem zeitlichen Abstand leer und muss der Historisierung und Kontextualisierung weichen. Andere Formen der Auseinandersetzung werden notwendig, welche ein „Verständnis dafür“ befördern, „wie Vergangenheit, Gegen-wart und Zukunft miteinander verknüpft sein könnten“, wofür historisches „Wissen in Verbindung mit einem Wertehorizont“ vermittelt werden müsse.
Daraus folgerte Knigge, dass Gedenkstätten „transparente, diskursive Orte“ werden und das „moralisieren“ zugunsten des „informieren“ aufgeben müssten. Dieser Abschied von „stereotypen Vorstellungen und Klischees“ ist auch für die Geschichte der DDR notwendig.
Damit kann die Aufarbeitung der DDR sich wieder dem nähern, was einmal Kern von Aufarbeitung war, nämlich „die Ausbildung eines historisch aufgeklärten politischen Bewusstseins und entsprechender gesellschaftlicher Sensibilität“. Denn zur „Demokratisierung und Humanisierung von Gesellschaften leistet historisches Erinnern nur in dem Maße einen Beitrag, wie es handlungsorientierte, menschenrechtliche Selbstreflexion ist.“
Unabhängig davon, ob die hier ausgebreiteten Überlegungen eine positive Resonanz finden, scheint mir dreißig Jahre nach der deutschen Einheit eine breite Debatte über die sachgerechte öffentliche Darstellung der SED-Diktatur und ein angemessenes Gedenken an die Todesopfer des DDR-Grenzregimes notwendig.
Sie sollte geführt werden, um zu vermeiden, dass die Praxis der Erinnerung in formelhafter Wiederholung des Gedenkens erstarrt. Das Problem stellt sich umso dringender, wenn man zugestehen mag, dass die Gesellschaft in Deutschland keinen ernstzunehmenden kommunistischen Angriffen mehr ausgesetzt ist (dafür aber ein Aufleben völkischer und nationalistischer Strömungen verzeichnet) und der Unrechtscharakter der DDR weitestgehend gesellschaftlicher Konsens ist. Es steht zu befürchten, dass der bisherige Erinnerungsdiskurs und die eingeübte Gedenkpraxis den gesellschaftlichen Anschluss und damit ein interessiertes Publikum verlieren. Auf diese Gefahr wird zu reagieren sein.
Zitierweise: Gerhard Sälter, "Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes, ihre Aufarbeitung und die Erinnerungskultur", in: Deutschland Archiv, 12.8.2020, Link: www.bpb.de/313950
Der Historiker Dr. Gerhard Sälter ist Leiter der Abteilung Forschung und Dokumentation in der Stiftung Berliner Mauer. Von 2012 bis 2015 war er Mitarbeiter der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendiensts (BND). Von ihm liegen zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. zur Geschichte der DDR und zur Berliner Mauer und zur Geschichte der Geheimdienste und des BND vor.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).