Die Biographie des weitgehend vergessenen Hermann Flade ist ein Lehrstück dafür, zu welchem schonungslosen Umgang mit einem jungen Oppositionellen die SED kurz nach der DDR-Gründung bereit war. Der aus dem Erzgebirge stammende Oberschüler Flade stellte mit einer individuellen Protestaktion gegen die am 15. Oktober 1950 stattfindende DDR-Volkskammerwahl das von der Einheitspartei vertretene Demokratieverständnis bloß. Bei seiner Verhaftung verletzte er zudem einen Volkspolizisten leicht mit einem Taschenmesser. Wie brutal der Staatsapparat schon auf die Verteilung kritischer Flugblätter reagierte, wurde deutlich, als man den Achtzehnjährigen zunächst zum Tode verurteilte. Sein Handeln wurde rasch zum Vorbild für zahlreiche geheime Protestaktionen von Jugendgruppen in der DDR. Flade kam erst 1960 aus der Haft frei, und es gelang ihm, in die Bundesrepublik zu gehen. Dort studierte er Politische Philosophie und hielt viele Vorträge, in denen er mit dem SED-Regime abrechnete. 1963 erschien sein Buch „Deutsche gegen Deutsche – Erlebnisbericht aus dem sowjetzonalen Zuchthaus“. Flade setzte sich bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1980 für einen an Hannah Arendt orientierten Freiheitsbegriff als eine entscheidende Voraussetzung der parlamentarischen Demokratie ein.
Die beiden folgenden Kapitel stammen aus dem Buch von Karin König „Die Freiheit ist mir lieber als mein Leben. Hermann Flade – eine Biographie“, das 2020 im Externer Link: Lukas Verlag erschienen ist.
Nächtlicher Zwischenfall
Hermann Flade grübelt, was er auf die Flugblätter überhaupt schreiben soll, und gesteht sich ein: „Es war ein Tasten und Suchen, ein Misstrauen und Protest, ein bohrender Gedanke, dass etwas geschehen musste, aber es fehlte eine klare Vorstellung und der klare Ausdruck. Ich überlegte nicht, dass der Krieg in Korea bereits die Verwirklichung des ‚Friedenskampfes‘ darstellte. Ich interessierte mich im Grunde überhaupt nicht für die Tagespolitik. Von der Volksstimme las ich praktisch nur die Nachrichten aus dem Kreis; die politischen Mitteilungen hielt ich entsprechend der allgemein herrschenden Auffassung für unglaubwürdig. Die Stimme Amerikas hatte ich früher sehr aufmerksam gehört, weil mich dieses ferne und fremde Land faszinierte, durch die Arbeit bei der Wismut kam ich jedoch davon ab. Einige Zeitungen aus West-Berlin, vom Vater bei seinen gelegentlichen Reisen durchgeschmuggelt, las ich an sich nur, weil solche Lektüre verboten war. Dagegen besaß ich für die geistigen Probleme der Zeit schon Interesse.“
Doch findet er darin keine Anregung für seine Flugblätter. Außerdem fällt er die Entscheidung, die Flugblattaktion allein durchzuführen. Seine Lehrer behaupten später, dass er verschlossen gewesen sei und man sich über seine Einstellung keine völlige Klarheit hätte verschaffen können.
„Überdurchschnittlich begabt, machte ihm die Bewältigung des Wissensstoffes in der Schule keinerlei Schwierigkeiten. […] Er neigte immer zum Grübeln und Spintisieren und beschäftigte sich […] recht eingehend mit philosophischen Problemen […] Flade verstand es, sich sorgfältig zu tarnen. […] Wenn er auf zweideutige Äußerungen hin gestellt wurde, bog er ab und spielte sich auf den objektiven Beobachter hinaus“.
Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Lehrer absichtlich übertrieben haben könnten, um selbst nicht dem Vorwurf ausgesetzt zu sein, einen solchen „Feind des Volkes“ nicht rechtzeitig erkannt zu haben. Das Gericht schenkt dem Gutachten der Lehrer jedoch keinen Glauben, denn nach seiner Auffassung hätte eine Verschwörung größeren Ausmaßes dahinterstecken müssen, mindestens aber ein aus dem Westen gesteuerter Agent. Flade berät sich jedoch weder mit seiner Familie noch mit seiner ängstlichen Freundin, und auch nicht mit dem ihm einzig vertrauensvoll erscheinenden Menschen, dem väterlichen Freund Pfarrer Artur Langer, um diesen nicht zu belasten.
Flade ist bei seinem Tun ganz allein. Weder hat er Kontakt zu illegalen Gruppen, bei denen er sich praktische Ratschläge holen könnte, noch kennt er Helfergruppen aus dem Westen. Später wird ihm jedoch vorgeworfen, mit der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) und dem Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen (UFJ)
Auch der Spiegel unterstellt der KgU und vor allem seinem „Kampfgruppenchef“ Ernst Tillich, Flade zu seinen Aktionen ermuntert zu haben: „Der heute noch prominenteste jener Jugendlichen, die sich nach Widerstands-Aufrufen aus West-Berlin mit rührendem Dilettantismus als Kämpfer gegen den Kommunismus opferten, ist der Oberschüler Hermann Flade. Er sitzt heute in einem Zuchthaus, während seiner im Westen regelmäßig gedacht wird.“
„Zu den Legenden der fünfziger Jahre gehört die Version, Opposition und Widerstand in der DDR wären auf äußere Einwirkung zurückzuführen, zumal auf die Ostbüros der demokratischen Parteien in West-Berlin und Bonn, auf das Gesamtdeutsche Ministerium, auf die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit und den Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen, deren ‚Agenten‘ sozusagen überall die Finger im Spiel gehabt hätten. Zwar sind solche Einwirkungen versucht worden, aber es wäre absurd, sie als wesentliche Ursache für Opposition und Widerstand zu deuten. Die politische Kausalität war eher umgekehrt: Weil und nachdem innere Gegensätze in der SBZ/DDR Opposition und Widerstand hervorbrachten, entstanden in West-Berlin und Bonn auch logistische Zentren, um Unterstützung zu gewähren.“
Die Wirklichkeit ist sehr viel harmloser. Da sitzt der junge Mann am nächtlichen Küchentisch mit einem Stempelkasten aus der Kinderzeit und bastelt sich ein Flugblatt zusammen. Wobei ihm die in der DDR existierende Papierknappheit zu schaffen macht, wie im Übrigen anderen in der DDR aktiven jugendlichen Widerstandsgruppen auch. Im Sommer 1968 werden die Stempelkästen eine dramatische Renaissance erleben. Hunderte, in manchen Quellen ist von Tausenden die Rede, von selbstgebastelten Flugblättern sind in der DDR im Umlauf. Das inhaltliche Spektrum reicht von Sympathiebekundungen zum Prager Frühling, der Verurteilung seiner Niederschlagung bis zum Protest gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei. Die Hauptakteure sind Schüler, Lehrlinge und junge Arbeiter, aber auch Kinder prominenter Intellektueller und Politiker. Es gibt zahlreiche Verhaftungen und Strafverfahren.
Flade hat in seinen Erinnerungen genau beschrieben, wie er bei seiner Protestaktion vorgegangen ist: „Ich druckte ein paar zusammenhanglose Sätze und fertigte etwa ein Dutzend kleine Zettel an. Am Sonntag, nach dem Abendspaziergang mit dem Mädchen, heftete ich sie an die Anschlagtafeln in der Stadt, wo sie zwar nicht so sehr ins Auge stachen, dafür aber auch von der Polizei nicht so schnell entdeckt werden konnten.“
Am Nachmittag des 14. Oktober stellt er noch einmal zweihundert Zettel mit der Überschrift „Bevölkerung, Volkspolizei und SED-Funktionäre“ her. Er warnt vor der Unterstützung des Regimes, erinnert an die Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen und stellt fest, „dass auch dieses Regime früher oder später sein Ende nehmen“ werde. Um alle Blätter bedrucken zu können, muss er den Stempel solange drücken, bis ihm der rechte Handballen anschwillt. Handschuhe benutzt er dabei nicht, obwohl ihm die Gefahr, die er damit einzugehen bereit ist, durchaus bewusst ist. Sollte er festgenommen und seine Fingerabdrücke überprüft werden, dann ist er seinen Verfolgern ausgeliefert. Er ist höchst unvorsichtig. Warum eigentlich? Später wird man Hermann Flade vor allem im Westen mit den Geschwistern Hans und Sophie Scholl vergleichen, auf die sich ja viele oppositionelle Jugendliche in der DDR beriefen. Doch im Gegensatz zu Flade haben diese aus einer Gruppe heraus gehandelt. Ob ihm Hans Scholls letzte, kurz vor seiner Hinrichtung am 22. Februar 1943 gefallenen Worte „Es lebe die Freiheit“ bekannt gewesen sind?
Aber vielleicht ähnelt Flade in seiner Haltung ebenso wie in seiner Motivation eher dem Hitler-Attentäter Georg Elser.
Politik wird für sie nur dann interessant, wenn sie konkret wird und nicht mehr abstrakt bleibt. Beide handeln aus eigenem Antrieb, auf eigenes Risiko, ohne irgendwelche Mitwisser, Helfer oder Hintermänner. Bei ihrer Verhaftung wird ihnen unterstellt, im Auftrag anderer gehandelt zu haben. Sie sind Einzelkämpfer ohne ein Netzwerk und ohne irgendeine Form von Ideologie. Ihre Geständnisse nach ihrer Verhaftung ähneln sich. Wenn mit Elser etwa der Ältere der beiden sagt „Ich bin ein freier Mensch gewesen“ oder „Wenn der Mensch nicht frei ist, stirbt alles ab“,
„Kurz nach sieben Uhr begann ich mit dem Verteilen. Ich glaubte, in dem abendlichen Verkehr am sichersten zu sein. Aber ich hatte Angst. Ich musste gewaltsam das Zittern unterdrücken, das mich immer wieder befiel. ‚So ein Feigling ist doch eine elende Kreatur‘, dachte ich. Ich wusste bisher noch gar nicht, dass ich feige war. […] Ich hasste mich der Feigheit wegen – aber das Zittern war stärker als mein Zorn. […] In jüngst durchgeführten Schauprozessen hatte man wegen Spionage und Kriegshetze 15 Jahre Zuchthaus und lebenslänglich verhängt. Womöglich war das ebenfalls Kriegshetze, was ich betrieb, und zu dem reaktionären Gesindel gehörte ich unbedingt. Ich wusste auch, dass neben der Volkspolizei Parteimitglieder Streifendienste versahen, um ‚feindliche Aktionen‘ zu verhindern und ‚Agenten‘ zu entlarven.
Die Folgen einer Entdeckung konnte ich mir gar nicht ausdenken. Gefängnis oder Zuchthaus, ein halbes Jahr oder 15 Jahre, das galt für mich als ein und dasselbe: als etwas Unvorstellbares. An den Mauern des Zuchthauses in Waldheim war ich einmal vorbeigelaufen. Mir schien es ein Ort der Verdammnis. […] Sollte man sich nicht besser der Gewalt unterwerfen? Sie begnügten sich nicht damit, die Menschen zum Schweigen zu verurteilen, sie zwangen die Menschen, auch noch ein Ja zu sprechen, sich als die ihren auszugeben, Mitschuldige zu werden. […] Man konnte sich nicht unterwerfen. Du würdest schließlich vor dir selbst ausspeien. Dann schon lieber Gewalt gegen Gewalt. An den anderen Ausweg, der Flucht nach dem Westen, dachte ich überhaupt nicht. […] Ich steckte ein Taschenmesser zu mir. Es war mit einer Rehpfote verziert, und die Klinge, acht bis neun Zentimeter lang, ließ sich feststellen. Notfalls das. Ich rechnete zwar, dass die Streifen Schusswaffen trügen, doch darüber machte ich mir keine Gedanken; bei einem Handgemenge kam es eben auf Schnelligkeit an. Aber am Ende lief man ja nicht träumend durch die Straßen. Den Streifen konnte man ausweichen, und die Gewissheit, eine Waffe zu besitzen, wenn auch eine kleine Waffe, stärkte mein Selbstvertrauen und verschaffte mir Beruhigung.“
Der junge Mann bemüht sich, die Flugblätter, die nichts anderes als Zettel sind, so zu verteilen, dass sie von möglichst vielen Menschen wahrgenommen werden. Schließlich ist die Kapazität begrenzt. Seiner Mutter entgehen die Heimlichkeiten ihres Sohnes nicht. Zuerst denkt sie zwar, dass er Flugblätter für die FDJ schreiben würde, doch ihr Sohn klärt sie auf. „Staunend und amüsiert las sie die Zettel, aber auch der Vater und die Großmutter fanden Vergnügen daran. ‚Lass Dich aber nicht erwischen‘, warnte der Vater.“
Am Samstagabend, dem Tag vor der Wahl, geht er mit seiner Freundin in Olbernhau spazieren. Ihm ist ziemlich beklommen zumute, während seine Freundin nichts von seinen verbotenen Aktivitäten ahnt. Er unterhält sich mit ihr über die bevorstehende Wahl und verspricht, am nächsten Tag nach dem Besuch des Gottesdienstes gemeinsam mit ihr ins Wahllokal zu gehen. „Wer weiß, was sie mit denen machen, die nicht hingehen“,
„Ich warf sie in Briefkästen, offenstehende Fenster, Telefonzellen, steckte sie in Fensterläden und zwischen die Haustüren […] Selbstverständlich befestigte ich auch bei der Polizeiwache ein Blatt. Ich lief wie einer, der es eilig hat heimzukommen, aber ohne zu hasten. Ich dachte an nichts. Mir blieb keine Zeit zum Denken. […] Ich fröstelte leicht und vergrub die Hände in den beiden schrägen Seitentaschen meiner Jacke. Rechts trug ich das aufgeklappte Taschenmesser. Ich spielte mit der Klinge, der Stahl beruhigte mich, […] noch 100 Meter und ich war zu Hause. Die Uhr zeigte zwanzig nach zwölf. So spät schon, wunderte ich mich. Mir war plötzlich alles gleichgültig, und ich wollte zu Bett gehen, schlafen, aber ich fühlte noch etwa 20 bis 30 Zettel in der Tasche. ;Die werden restlos verteilt!‘, befahl ich mir.“
Dieser Rest wird ihm zum Verhängnis werden. Ein Pärchen kommt ihm entgegen, die beiden umarmen sich und sind auf einmal verschwunden. Plötzlich kommen zwei Gestalten auf ihn zu gestürmt und ein Mann ruft: „Halt! Polizei! Ihren Ausweis bitte!“ Flade bleibt wie erstarrt stehen. Das scheinbar harmlose Liebespaar entpuppt sich als eine besonders gut getarnte Polizeistreife. In seinen nach der Haft geschriebenen Erinnerungen beschreibt Flade sehr emotional diese Situation.
„Ich zog meine Brieftasche heraus. ‚Gib den Ausweis hin‘, dachte ich. ‚Vielleicht ist das nur eine gewöhnliche Ausweiskontrolle‘, redete ich mir ein. Aber nein, unmöglich, sie hatten mich ja verfolgt, sie mussten etwas gesehen haben. Das Messer stak aufgeschlagen in der Tasche. Ich wollte es nicht gebrauchen. ‚Gib den Ausweis hin!‘, dachte ich. Das Mädchen stand zur Seite lauernd. Wie ein Hund, den man auf einen Menschen gehetzt hat, dachte ich zornig […] Es gab keine andere Wahl: entweder Verhaftung oder das Messer. Und jetzt bereute ich es bitter, dass ich diese Sache begonnen hatte. Das einzige Mal. Mir graute vor dem Messer. Gewiss, ich hatte es in der Absicht eingesteckt, mich zu verteidigen; aber das hatte ich leichtsinnig getan. Ich wusste nicht, was es bedeutet, auf einen Menschen einzustechen. […] Sie starrten mich an. […] Es fiel kein Wort […] ‚Du hast jetzt die letzte Chance‘, dachte ich. Sie werden Dich zusammenschlagen wie ein Bündel Dreck. Wenn sie die Menschen ihrer politischen Meinung wegen verfolgen, wie es die Nazis getan haben, dann werden sie die Gefangenen auch genauso misshandeln.
Ich überlegte, ob ich es ohne Messer versuchen sollte. Das ging nicht, sie waren ja auch bewaffnet. […] Es gab nur eine Wahl: entweder Verhaftung oder das Messer. Ich sah dem Mann in die Augen. Steine waren das, diese Augen. Kalte und harte Steine. Sie wollten mich zwingen, den Staatsverbrecher. Und jetzt war ich entschlossen. Ein Wort, nur ein einziges Wort der Menschlichkeit – ach was! – nur ein Zeichen der Menschlichkeit, und ich hätte das Messer nicht gezogen, gleichgültig, welche Folgen sich einstellen mochten. Aber diese Gefühllosigkeit, diese Kaltschnäuzigkeit versetzten mich in Wut. Die ungeheure Depression erstickte sofort die Wut, doch der Wille blieb. Gegen diese Kaltschnäuzigkeit zog ich das Messer, und in diese Kaltschnäuzigkeit hätte ich auch hineingeschossen.
‚Hier ist er nicht‘, sagte ich und meinte, der Ausweis wäre nicht in der Brieftasche, die ich bis jetzt unschlüssig in der Hand gehalten hatte […] und stecke sie ein. Es ging sehr schnell. Ich riss das Taschenmesser heraus, der Mann fing mit dem Arm den Stich ab, den ich gegen ihn richtete, und warf sich auf mich. Das Mädchen schlug mit irgendeinem Gegenstand auf mich ein. ‚Nur nicht ohnmächtig werden!‘, dachte ich krampfhaft. Wir befanden uns im Dunkeln; wahrscheinlich hatte sie die Lampe fallen lassen. Sie behauptete später, ich hätte sie ihr aus der Hand geschlagen, doch dafür wäre mir keine Zeit geblieben. Meine Knie waren durch die Erregung zu schwach, um dem Anprall des Mannes zu widerstehen, ich stürzte rücklings zu Boden. Obwohl ich aber mit voller Wucht mit dem Hinterkopf auf den Weg prallte, das Gewicht des anderen lag dazu noch auf mir, fühlte ich keinen Schmerz oder Betäubung. Ich stach zu und traf ihn in den Rücken, aber ich besaß keine Kraft und spürte nicht, ob ich ihn überhaupt verletzte. Der Ekel und das Entsetzen, auf einen Mann einzustechen, lähmten mir die Hand und das war sein Glück, und das war auch mein Glück. Ich hätte sonst den Mann in meiner Verzweiflung durchbohrt. Plötzlich stöhnte er leise. ‚Jetzt hast du ihn getroffen‘, dachte ich und riss mich unter ihm hervor. Ich fühlte mich so schlaff, dass ich gar nicht hochzukommen glaubte, aber es gelang. Ich raste im Zickzack davon, der Schein der Taschenlampe folgte mir, ich erwartete jeden Moment die Schüsse; sie führten jedoch keine Schusswaffen bei sich. Es lief mir niemand nach. Ich blieb auf einem Seitenweg stehen und betrachtete unter einer Laterne die Klinge. Ich konnte keine Blutspuren entdecken.“
Flade läuft nach Hause, es sind nur wenige Meter, nicht ohne unterwegs noch die restlichen Zettel in einen Garten zu werfen. Dort angekommen, bemerkt er eine Blutspur an seinem Messer. „Der Ekel und das Entsetzen“, beschreibt er die Szene später in seiner Autobiographie, habe sich wieder eingestellt:
„Ich blickte in den Garderobenspiegel. Über die Stirn lief mir ein schmaler Blutfaden, die Haare hingen herunter, das Gesicht schneeweiß, aber die dunklen Augen glühten. […] Es ist doch gar nicht wahr, dachte ich, ein Hirngespinst! […] Ich saß und grübelte. Sie ließen mir doch gar keine andere Möglichkeit übrig, diese Beiden. Die Gedanken bewegten sich langsam und schwerfällig. Ob sie mich kriegen? Manchmal dachte ich gar nichts. Ich saß und wartete.“
Ihm dämmert, dass er nun in der Falle sitzt und ohnmächtig abwarten muss, was weiter geschieht.
Sonntag, 15. Oktober – der Tag der Wahl
Der Vatikan veröffentlicht am selben Tag Angaben über die Verfolgung der katholischen Kirche in Osteuropa. Danach sind seit der Machtübernahme der Kommunisten rund 11.000 Priester und Mönche hingerichtet, gefangengesetzt oder deportiert und drei Bischöfe hingerichtet worden. Hunderte von Geistlichen hat man zudem ausgewiesen. Ebenfalls am 15. Oktober hebt die jugoslawische Regierung alle Privilegien bei der Verteilung von Lebensmitteln und Konsumgütern auf. Ministerpräsident Josip Broz Tito erklärt, dass er auf Grund der schlechten Ernte die US-Regierung um Nahrungsmittelhilfe bitten werde.
Der amerikanische Hochkommissar McCloy ordnet die sofortige Entlassung von Ernst von Weizsäcker aus dem Kriegsverbrechergefängnis Landsberg an. Weizsäcker, ehemaliges NSDAP-Mitglied, Staatssekretär und Botschafter des Dritten Reiches im Vatikan, war in Nürnberg zu einer Gefängnisstrafe von sieben Jahren verurteilt worden, weil er bei der Deportation französischer Juden nach Auschwitz mitgewirkt hatte. Auf einer Kundgebung des Evangelischen Männerwerks in Frankfurt am Main kritisieren Kirchenpräsident Martin Niemöller, Synodalpräsident Gustav Heinemann und Bischof Otto Dibelius vor mehr als 15.000 Zuhörern in einer bis dahin nie gehörten Schärfe die Remilitarisierungsbestrebungen der Bundesrepublik.
„Der Wahltag selbst wurde vielerorts zum Festtag. Nun, da es mit den Stimmzetteln nicht mehr gegeneinander ging, konnte man zum Beispiel auch gemeinsam als Hausgemeinschaft zur Wahl schreiten. Laientheater zeigten Stegreifspiele auf offener Straße. Volkstanzgruppen und Schulchöre waren den ganzen Tag über aktiv. […] Grund zum Feiern gab es fürwahr, denn an diesem 15. Oktober 1950 entschieden sich 12.097105 für die Volkskammerkandidaten der Nationalen Front. [ …] Ein großer Sieg war errungen. Mit dem Ergebnis dieser ersten Volkskammerwahl nach Gründung der DDR war die Bildung der Arbeiter- und Bauern-Macht als eine Form der Diktatur des Proletariats im Wesentlichen abgeschlossen. […] Wie Otto Grotewohl sagt: ,Die Republik ist im Kampf entstanden, sie steht heute im Kampf und wird ihr Leben im Kampf entfalten müssen.‘“
Ein wenig amüsiert schreibt die junge Brigitte Reimann ihrer Freundin Annelore, der Wahltag sei im Landkreis Burg nahe Magdeburg musikalisch eingeleitet worden: „Wir fuhren um 10 mit einem kleinen Lieferwagen in den Kreis, um dort noch einmal durch Musik zur Wahl zu agitieren. Wir – das sind die Volksmusikgruppe mit einem Mädchen und neun Jungs, die mich solange gequält hatten, bis ich einwilligte mitzukommen.“
Und wie sieht es am Sonntagmorgen, dem Wahltag, bei der Familie Flade aus? Hermann erzählt seiner Mutter alles, was in den letzten Stunden passiert ist. Sie schaut ihn ungläubig an. Später holt er dann, wie am Vorabend versprochen, seine Freundin Christa ab; sie besuchen gemeinsam den Gottesdienst. Ihr fällt nur die Schramme an der Stirn auf. Diese „Kaltschnäuzigkeit“ wird ihm später vor Gericht vorgeworfen werden. „Bezeichnend für den Charakter des Flade ist,“ wie es in der öffentlich durchgeführten Verhandlung heißt, „dass er am nächsten Morgen in den katholischen Gottesdienst ging und keine der Personen, die mit ihm in Berührung kamen, nur auch die geringste Erregung bei ihm wahrgenommen haben.“
In der Nacht zum Montag werden Fahndungsblätter gedruckt: „5000 DM Belohnung! Mordversuch an einem Volkspolizisten!“. Am nächsten Tag werden die roten Zettel von Angehörigen der Volkspolizei in ganz Olbernhau verteilt.
Doch er glaubt sich schon in Sicherheit, immerhin sind mehr als 24 Stunden seit seiner Flucht vergangen, als es nachmittags an der Haustür klingelt. Die Mutter öffnet. Zwei Männer betreten die Küche und kommen gleich zur Sache: „Wohnt hier ein Hermann Flade?“ Leugnen nutzt nichts. Er wird von einem Volkspolizisten aufgefordert, mit zur Wache zu gehen, der andere beginnt mit der Hausdurchsuchung. Flade bestreitet, am Tatabend nach 23 Uhr außerhalb der Wohnung gewesen zu sein. Da betritt eine Volkspolizistin den Raum. Obwohl Flade sie nur einige Sekunden im Schein der Taschenlampe gesehen hat, erkennt er sie sofort und ist sich sicher, dass auch sie ihn erkannt hat. Behaupten wird er jedoch das Gegenteil. Ihm werden Handschellen angelegt und die Taschen seiner Jacke durchsucht. Anschließend wird er von einem der beiden Polizisten zur Wache mitgenommen, wo sofort das Verhör beginnt.
„Sie können uns nichts vorspielen. Als wir zu Ihnen kamen, wussten wir noch nichts Genaues, als ich aber sah, dass Sie blass wurden, war es für mich klar. Die Sache ist ja noch gut abgegangen, die Verletzungen sind nicht so schlimm, sonst würde es den Kopf kosten, und ein Mensch ohne Kopf bleibt zeitlebens ein Krüppel. Im Übrigen haben Sie alles ganz gut gemacht, bloß in einer Hinsicht haben Sie Pech gehabt. An dem Totschläger sind nämlich ein paar Haare hängen geblieben, und damit können wir Sie viel besser überführen als mit Fingerabdrücken.“
Noch bleibt Flade standhaft, zugeben kann er ja immer noch, so sein Plan. Nach kurzer Zeit wird ihm eröffnet, dass er durch sein „hartnäckiges Leugnen“ erreicht habe, dass auch seine Eltern und die Großmutter verhaftet werden müssten. Sofort legt Flade ein ausführliches Geständnis ab, wobei er seine Eltern entlastet. Die Mutter schildert später dem Stern die Umstände ihrer Verhaftung:
„Sie holten uns dann alle drei: meinen Mann, die Großmutter und mich. Die Großmutter schrie. Sie schrie: ‚Da gehe ich nicht mit. Ich habe mein Leben lang nichts mit der Polizei zu tun gehabt, ich gehe da nicht hin.‘ Dann ging sie aber doch, aber sie hörte nicht auf zu schreien und als sie auf der Wache die Tür hinter uns zuschlossen, fing sie an zu schnaufen und wurde blau im Gesicht.“
Die alte Dame erleidet einen Nervenzusammenbruch, daraufhin darf sie wieder gehen. Als Hermann abgeführt wird, sieht er in einem Nachbarzimmer seine Mutter sitzen: „Sie saß still in ihrem dünnen, blauen Mantel auf einem Stuhl, die Hände untätig auf ihrem Schoß gefaltet. Noch nie hatte ich sie untätig sitzen sehen, bleich und verstört blickte sie zu Boden – die Mutter eines Staatsfeindes.“
Zitierweise: Karin König, "Die Freiheit ist mir lieber als mein Leben - Aus der Biographie von Hermann Flade", in: Deutschland Archiv, 28.7.2020, Link: www.bpb.de/313372