III. 1969 - 1970: Der Weg zum Moskauer Vertrag
Vor 50 Jahren: Die neue Ostpolitik der Bundesrepublik und der Moskauer Vertrag 1970 (3. Teil)
Manfred Wilke
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Letzte Hürden und wirtschaftspolitische Gegengeschäfte vor der Vertragsunterzeichnung am 12. August 1970 in Moskau (Fortsetzung von Teil II).
1969: Regierungswechsel in Bonn und eine vielversprechende Erklärung des Bundeskanzlers
Der Wahlerfolg der SPD bei der Bundestagswahl 1969 ermöglichte der Partei in der Koalition mit der FDP, erstmals eine Bundesregierung zu führen. Der SPD-Vorsitzende Willy Brandt wurde Bundeskanzler, Walter Scheel aus der FDP Minister für Auswärtiges. Das gemeinsame außenpolitische Fundament der sozialliberalen Koalition war es, für eine neuerliche Entkrampfung im Ost-West-Dialog zu sorgen. Ziel war eine intensivierte, neue Ostpolitik und die Aufnahme geregelter, staatlicher Beziehungen zur DDR. Brandt erinnerte in seiner Regierungserklärung daran, dass die Teilung Deutschlands sich aus „dem Ergebnis des Zweiten Weltkrieges“ und „dem nationalen Verrat durch das Hitlerregime ergeben hat.“ Endgültig könne die deutsche Frage nur im Rahmen einer europäischen Friedensordnung gelöst werden. Er fügte hinzu: „Niemand kann uns jedoch einreden, dass die Deutschen kein Recht auf Selbstbestimmung haben, wie alle anderen Völker auch.“
Nach dieser prinzipiellen Erklärung zur offenen deutschen Frage wandte er sich der praktischen Deutschlandpolitik zu, die vor seiner Regierung lag. Es gelte, „…die Einheit der Nation dadurch zu wahren, dass das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird. Die Deutschen sind nicht nur durch ihre Sprache und ihre Geschichte – mit ihrem Glanz und Elend – verbunden, wir sind alle in Deutschland zu Haus.“ Zwanzig Jahre nach Gründung der beiden Teilstaaten sei es unsere Aufgabe, das weitere „Auseinanderleben“ zu verhindern, „also zu versuchen, über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen.“
Brandt wiederholte das Angebot der Großen Koalition von 1966, die Beziehungen zwischen Bundesrepublik und DDR in „vertraglich vereinbarte Zusammenarbeit“ zu überführen. Im deutlichen Gegensatz zu der Forderung von Ulbricht nach völkerrechtlicher Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik stellte Brandt klar: Es existieren zwar zwei deutsche Staaten, aber trotzdem „sind sie doch füreinander nicht Ausland, ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein.“ Er betonte, dass der Gewaltverzicht der Bundesrepublik auch gegenüber der DDR gelte. Er begrüßte es, dass der innerdeutsche Handel wieder stieg. Das bisherige „Ministerium für gesamtdeutsche Fragen“ wurde „entsprechend seinen Aufgaben in Ministerium für innerdeutsche Beziehungen umbenannt.“
Brandt integrierte in seine Ausführungen ausdrücklich die Regierungserklärung seines Amtsvorgängers Kiesinger vom Dezember 1966, die er nicht wiederholen müsse, um die Kontinuität der Ostpolitik der Bundesrepublik zu unterstreichen.
Absichtserklärung an Moskau
Der sowjetische Botschafter in der Bundesrepublik teilte Bundeskanzler Brandt am Tag seiner Regierungserklärung mit, „dass die sowjetische Regierung zu einem Austausch von ‚Erwägungen‘ bereit sei, wie überhaupt zu weiteren vertraulichen Kontakten.“ Der Bundeskanzler verstand dies als Aufforderung zur direkten Kontaktaufnahme, antwortete unverzüglich dem sowjetischen Ministerpräsidenten Kossygin und bestätigte ihm gegenüber auch die Notwendigkeit der Vertraulichkeit. „Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Austausch von Erwägungen vertraulich von statten gehen muss. Nur dann kann er seinen Sinn erfüllen, nach Möglichkeit Missverständnisse zu beseitigen oder zu verhindern. Dies scheint mir eine lohnende Aufgabe für die Regierungen unserer Länder. Die Politik meiner Regierung wird den ernsten Versuch unternehmen, die Berge des Misstrauens abzubauen, um den Frieden sicherer zu machen. […] Wir sind sicher einer Meinung, dass es illusionär und gefährlich wäre, wenn man heute von etwas anderem ausgehen wollte als den bestehenden Allianzen und Systemen der Sicherheit. Dies gilt, so meine ich, auch für die Problematik einer europäischen Sicherheitskonferenz.“
Brandt versicherte Kossygin, dass er den Erfolg der Konferenz wünsche. „Dabei wird es von deutscher Seite vor allem auch um das bilaterale Problem gehen, das Verhältnis zwischen unseren Staaten verbindlich auf eine ähnlich normale Basis zu stellen, wie wir dies gegenüber den drei Westmächten erreicht haben.“ Er versicherte, dass ein Abkommen über Gewaltverzicht mit der DDR und Polen auf der „Basis der Gleichberechtigung“ verhandelt werde. Ziel sei es, eine „bedeutsame Änderung der Atmosphäre in Europa zum Positiven herbeizuführen [ ...] ohne dass man im Zustand der Teilung des deutschen Volkes das Wort Normalisierung überstrapazieren darf.“
Eine solche Reaktion des Bundeskanzlers hatte man sich in Moskau erhofft und war darauf vorbereitet. Als der Bundeskanzler den Brief schrieb, wusste er vielleicht nicht, „dass Kossygin seine außenpolitische Funktionen nur rein formal und repräsentativ ausübte. Tatsächlich waren für alle Fragen der Außenpolitik Gromyko und in nicht geringerem Maße Andropow, der Vorsitzende des KGB zuständig. Aus den Namenskürzeln auf dem Brief war ersichtlich, dass Kossygin ihn an Breschnew geschickt hatte, der ihn seinerseits an Andropow weitergab. Denn die Einrichtung eines vertraulichen Kanals war dessen Idee, und er sollte sich auch darum kümmern.“
Moskauer Antwort und ein aktivierter „Kanal“
Der Bundeskanzler bekam die Antwort auf seinen Brief gewissermaßen als Bescherung zu Weihnachten 1969 durch seinen Staatssekretär im Kanzleramt Egon Bahr. An diesem Tag bereiteten viele Deutsche das Weihnachtsfest vor. Der sowjetische Journalist Valeri Lednew ersuchte dringend um ein Gespräch im Bundeskanzleramt; hierbei war ihm Conrad Ahlers behilflich, der ehemalige „Spiegel“-Redakteur und nun Chef des Bundespresseamtes. Lednews Beglaubigung, die er Bahr übergab, war die Kopie des Briefes des Bundeskanzlers an Kossygin. Der Kontakt zwischen den beiden Regierungen in Bonn und Moskau war damit hergestellt – das glaubte damals Bahr. Die Moskauer Vorgeschichte des Kanals war Bahr noch unbekannt, vor allem die Rolle Andropows in diesem Spiel.
Andropow war kein gelernter Kader des sowjetischen Geheimdienstes; er hatte als Parteifunktionär in der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU gedient und war 1956 vor und während der ungarischen Revolution Botschafter in Budapest. Seine Ernennung zum Vorsitzenden des KGB verdankte Juri Andropow Breschnew, der den Machtkampf an der Spitze der KPdSU gewann und damit seinen Rivalen Schelepin aus der Führung der Partei verdrängte. Er ersetzte konsequent dessen Gefolgsmann W. J. Semitschastny an der Spitze des KGB durch Andropow. Dessen Kandidatur für diese Position wurde außer von Breschnew auch von dem einflussreichen Ideologiewächter im Politbüro, Suslow, unterstützt. Andropow dachte 1968 bereits über einen direkten Informationskanal zwischen dem Kreml und dem Bundeskanzleramt in Bonn nach; für ihn zählten Zeit und direkte Kommunikation zwischen den Entscheidungsträgern, besonders in der Außenpolitik.
Die sowjetischen Kader für den geheimen Kanal waren der KGB-Offizier Wjatscheslaw Keworkow und der Journalist Waleri Lednew. Während Keworkow nur die Erlaubnis bekam, nach Berlin zu reisen, um Bahr zu treffen, konnte der Journalist Lednew auch in die Bundesrepublik fliegen, um Kurierdienste zu leisten. Ziel war, die Verhandlungen über einen Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion zu beschleunigen, der eine Normalisierung der Beziehungen und die friedliche Koexistenz festschreiben sollte und Differenzen auf dem Weg dahin geräuschlos auszuräumen; zumal auf beiden Seiten die amtliche Diplomatie in den Hintergrund trat. Lednew blieb aber auch Journalist, und die Ostpolitik war in den Medien der Bundesrepublik ein großes Thema. Einer seiner journalistischen Gesprächspartner war Fritjof Meyer, Leitender Redakteur für Ost- und Außenpolitik in der Hamburger Spiegel-Redaktion. Die Beeinflussung der Berichterstattung des Spiegels, der die Ostpolitik des Bundeskanzlers unterstützte, war im Ergebnis eine politische Aktion.
Die Leitung des Kanals hatte Andropow, der direkt mit Breschnew verbunden war, so konnten im Konfliktfall Lösungen zwischen beiden abgestimmt werden. Außenminister Gromyko, ebenso Mitglied des Politbüros der KPdSU, wurde in Kenntnis gesetzt von den Ergebnissen, somit war er eingebunden, aber sein Haus führte nicht die Verhandlungen. Auf westdeutscher Seite handelte Bahr als Staatssekretär im Bundeskanzleramt im direkten Auftrag von Bundeskanzler Brandt. Diese Konstruktion der Verhandlungsebenen verweist auf den Zeitdruck, unter dem der „Moskauer Vertrag“ entstand und darauf, welche Bedeutung beide Seiten ihm beimaßen.
Es gab aber auch eine wirtschaftliche Annäherung, die ein politisches Zusammenkommen erleichterten. Denn ökonomisch bildete auch ein umfangreiches Röhrengeschäft zwischen der westdeutschen Stahlindustrie und dem sowjetischen Außenhandel, um das in Sibirien geförderte Gas in die Zentren Russlands transportieren zu können, einen Grundstein für den Wandel in den Beziehungen zwischen Moskau und der Bundesrepublik. Während die politischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion erst 1970 vertraglich geregelt wurden, kam es 1969 bereits zu einer strategischen Kooperation zwischen der westdeutschen Stahlindustrie und dem sowjetischen Energietrust. Die Voraussetzungen ergaben sich bereits während der Großen Koalition.
Wirtschaftliches Fundament: Energie-Kooperation zwischen Thyssen Krupp mit Gazprom 1969
Auf der Hannover Messe 1966 bot die sowjetische Delegation dem Vorstandsvorsitzenden Ernst Wolf Mommsen der Thyssen-Röhrenwerke AG die Zusammenarbeit bei der Röhrenlieferung für die sowjetischen Pipelines an, um das sibirische Erdgas nach Europa zu transportieren. Es kam zu einem Dreiecksgeschäft zwischen dem österreichischen Stahlkonzern VÖEST, Thyssen und dem sowjetischen Außenhandel, ein Tauschgeschäft in großem Stil. Die Stahlröhren von Thyssen waren die Voraussetzung für die Gaslieferungen, mit denen der Bau dieser Pipeline nach Österreich und in die Bundesrepublik finanziert werden sollten. Die Bezahlung sollte später durch Gaslieferung erfolgen. Die Vermarktung des gelieferten Gases sollte die Ruhrgas AG übernehmen. Das Modell funktionierte auch für die zwei weiteren großen Röhrengeschäfte der westdeutschen Stahlindustrie 1970 und 1980, bei denen die Ruhrgas AG eine treibende Rolle spielte.
Parallel zur Aufnahme der Verhandlungen über den Moskauer Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion kam es am 1. Februar 1970 zum Abschluss eines Vertrages zwischen Mannesmann und dem sowjetischen Außenhandel über 1,2 Millionen Stahlröhren im Wert von über einer Milliarde D-Mark. Im Gegenzug vereinbarte die Ruhrgas AG mit ihrem sowjetischen Partner die Lieferung von Erdgas im Wert von 2,5 Milliarden D-Mark über die nächsten 20 Jahre. Die Pipeline lief nicht durch die DDR, sondern durch die CSSR, und wurde in Bayern mit dem Pipelinesystem der Ruhrgas AG verbunden.
Dieses Geflecht wurde in den Folgejahren gefestigt.1980 bildeten die Ruhrgas AG als Vermarkter des Erdgases, Mannesmann als Röhren- Produzent und die Deutsche Bank ein Konsortium, das bereit war „ab 1984 jährlich 40 Milliarden m³ sowjetisches Gas abzunehmen.“ Der Vertrag wurde trotz der Raketenkrise zwischen NATO und der Sowjetunion abgeschlossen. In der Sicherheitspolitik war die Bundesrepublik ein loyaler Bündnispartner, während sie im Osthandel gleichzeitig diese strategische Energiekooperation mit der Sowjetunion ausbaute. Die Erweiterung des sowjetischen Pipelinenetzes, einschließlich der benötigten Pump- und Verdichtungsstationen sollten westdeutsche Firmen in der Sowjetunion installieren. Deutsche und ausländische Banken stellten den gigantischen Finanzierungsrahmen für diese sowjetische Zukunftsinvestition sicher. Trotz des von Ronald Reagan verhängten Embargos für solche Röhrengeschäfte mit der Sowjetunion wurde die Pipeline im Juni 1983 fertig gestellt.
Die Schaltstelle für den Osthandel der Bundesrepublik war nicht in erster Linie die Bundesregierung, sondern ursprünglich der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft. Er knüpfte an den „Russland-Ausschuss“ der deutschen Wirtschaft an, der 1928 gegründet worden war und bis 1941 die Wirtschaftsbeziehungen des Deutschen Reiches zur Sowjetunion koordiniert hatte. Es waren Unternehmer und Manager, die den durch den Krieg zerstörten Osthandel Deutschlands wieder aufbauten und die sich der Kontinuität der deutschen Russland-Geschäfts bewusst waren. Otto Wolff von Amerongen personifizierte diese Kontinuität. Dominiert wurde der Ost-Ausschuss durch die deutsche Stahlindustrie und den Maschinenbau.
Geht man noch weiter zurück, war es schon 1952 zu informellen Kontakten zu sowjetischen Außenhandelsfunktionären gekommen. Die sowjetische Seite sicherte schon damals ihren westdeutschen Gesprächspartnern zu, die DDR aus dem Ostgeschäft der Bundesrepublik herauszuhalten. Bis 1966 war der Ost-Ausschuss der Vorreiter der sowjetisch-westdeutschen Wirtschaftsbeziehungen.
Für Wolff von Amerongen hatte das spektakuläre Geschäft mit den Stahlröhren einen „demonstrativen Charakter“. Eine in strategischer Hinsicht der westdeutsch-sowjetischen Beziehungen angemessene Bewertung.
Die beiden „Geschäfte“ bildeten den Auftakt zur neuen Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland auch gegenüber den anderen sozialistischen Staaten einschließlich der DDR. Sie ermöglichten eine kooperativen Koexistenz im gespaltenen Europa.
Weiterer Grundstein: Der Kniefall von Warschau
Ebenso wichtig als Grundlage für den beabsichtigten Vertrag war eine politische Vertrauensbildung, die die Friedfertigkeit und Aussöhnungsbereitschaft der Bundesrepublik unterstrich. Den moralischen, politischen und symbolischen Bußakt für die nationalsozialistischen Verbrechen im Osten Europas vollzog der Bundeskanzler 1970 symbolisch in Warschau.
Der Kniefall von Willy Brandt in Warschau am Gedenkort für die ermordete jüdische Bevölkerung Polens und damit auch für den Völkermord der Nationalsozialisten an den europäischen Juden wurde weltweit in der Öffentlichkeit als wortlose Bitte um Vergebung für die nachgeborenen Deutschen verstanden. Diese demütige Bitte symbolisiert bis heute den Geist der neuen Ostpolitik dieses Bundeskanzlers.
In Worten hatte Brandt bereits 1969 in seiner Regierungserklärung diese Haltung unterstrichen und über die Beziehungen der Bundesrepublik zu den beiden Bündnissystemen in Europa erklärt: „Unsere nationalen Interessen erlauben es nicht, zwischen dem Westen und dem Osten zu stehen. Unser Land braucht die Zusammenarbeit und Abstimmung mit dem Westen und Verständigung mit den Völkern des europäischen Ostens. Vor diesem Hintergrund sage ich, mit starker Betonung: das deutsche Volk braucht den Frieden im vollen Sinne dieses Wortes auch mit den Völkern der Sowjetunion und allen Völkern des Europäischen Ostens“.
12. August 1970: Vertrags-Unterzeichnung im Kreml
In diesem Sinne wurde schlussendlich am 12. August 1970 im Katharinensaal des Kreml in Moskau der Vertrag zwischen der Bundesrepublik in Deutschland und der Sowjetunion feierlich unterzeichnet. Beide Staaten verpflichten sich vertraglich, zukünftig „ihre Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen und übernehmen die Verpflichtung, sich in Fragen, die die Sicherheit in Europa und die internationale Sicherheit berühren, sowie in ihren gegenseitigen Beziehungen gemäß Artikel 2 der Charta der Vereinten Nationen der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt zu enthalten.“
Mühsamer, aber erfolgreicher Vertrauensaufbau. Der sowjetische KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew im Gespräch mit Bundeskanzler Willy Brandt, hinter ihm sein Staatssekretär und deutschlandpolitischer Berater Egon Bahr.
Zusätzlich übergab die Bundesrepublik als einseitige Option bei Abschluss des Vertrages mit der Sowjetunion den „Brief zur deutschen Einheit“. Durch ihn stellte die Bundesregierung klar, dass das politische Ziel einer Wiedervereinigung Deutschlands nicht im Widerspruch zu dem gerade abgeschlossenen Vertrag mit der Sowjetunion stehe. Der Status Berlins war wiederum nicht Thema der bilateralen Verhandlungen zwischen Bonn und Moskau, aber es gab die Zusage für eine Berlin-Regelung, die von den vier Siegermächten verantwortet wurde. Das entsprechende Abkommen einschließlich eines Transitabkommens über den Personen- und Warenverkehr zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin wurde zwischen den Vier Mächten vereinbart.
Nach der Unterzeichnung des Moskauer Vertrags mit der Bundesrepublik 1970 machte Leonid Breschnew allerdings auch deutlich, dass unter ihm an eine Deutsche Wiedervereinigung nicht zu denken war. Zu dieser Klarstellung empfing er am 28. Juli 1970 den künftigen SED-Generalsekretär Erich Honecker zu einem vertraulichen Gespräch und machte ihm die weitere Anhängigkeit von Moskau deutlich. Er erklärte ihm, der damals aufgebrochene Führungsstreit in der SED, „sei schon jetzt nicht mehr eure eigene Angelegenheit. Die DDR ist für uns, für die sozialistischen Bruderländer eine wichtige Position. Sie ist das Ergebnis des 2. Weltkrieges, unsere Errungenschaft, die mit dem Blut des Sowjetvolkes erzielt wurde. Ich habe bereits einmal gesagt, dass die DDR nicht nur eure, sondern unsere gemeinsame Sache ist.“ Honecker wurde an die Krise in der CSSR erinnert und deren Ende. Breschnew formulierte ohne Umschweif: „Die DDR kann ohne uns, ohne die SU, ihre Macht und Stärke - nicht existieren. Ohne uns gibt es keine DDR. Die Existenz der DDR entspricht unseren Interessen, den Interessen aller sozialistischen Staaten. Sie ist das Ergebnis unseres Sieges gegen Hitlerdeutschland.“
Nach dem Moskauer Vertrag mit der Bundesrepublik wollte die sowjetische Führung einen SED-Generalsekretär der einen strikten Kurs der Abgrenzung zur Bundesrepublik steuerte. Wieder ging es um die Sicherung der Grenzen des Imperiums. Die Deutschen sollten lernen, die Teilung zu akzeptieren als Unterpfand des europäischen Friedens.
Der Verlauf der europäischen Geschichte der nächsten zwei Jahrzehnte sollte die Einschätzung der deutschen Frage und die Hoffnungen Breschnews auf die Dauerhaftigkeit der deutschen Teilung allerdings korrigieren.
Bewährungsprobe 1989
Die Bewährungsprobe für die Vereinbarung, „Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln zu lösen“, kam 19 Jahre später unter einem anderen Generalsekretär der KPdSU und einem anderen Bundeskanzler. In seinen Memoiren beschreibt Helmut Kohl, dass er am Tag nach dem Mauerfall von Michail Gorbatschow am 10. November 1989 eine Nachricht erhielt: „Vor allem aber wollte Gorbatschow von mir wissen, ob Berichte zuträfen, wonach die Dinge in Berlin völlig aus dem Ruder liefen und eine empörte Menschenmenge dabei sei, Einrichtungen der Sowjetunion zu stürmen.“
Kohl konnte zu dem Zeitpunkt nicht persönlich mit ihm sprechen, ließ jedoch ausrichten, dass diese Information falsch sei. Gorbatschow berichtete ihm später, „…dass er daraufhin der DDR-Führung signalisiert habe, anders als am 17. Juni 1953 werde die Sowjetunion nicht mit Panzern eingreifen.“
Mein persönlicher Dank gilt an dieser Stelle Dr. Wilhelm Mensing für Ermutigung, Rat und Kritik. M.W.
Zitierweise: Manfred Wilke, "Vor 50 Jahren: Die neue Ostpolitik der Bundesrepublik und der Moskauer Vertrag 1970" (III), in: Deutschland Archiv, 14.07.2020, Link: www.bpb.de/312615.
Prof. Dr., Soziologe, Zeithistoriker und Publizist, Projektleiter am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) München, Berlin. 1992 war er Mitbegründer des Forschungsverbundes SED-Staat an der FU Berlin, dessen Leiter er bis 2006, zusammen mit Klaus Schroeder war.
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