TEIL II. 19643 – 1968: Entspannungspolitik als Schlüsselbegriff für eine neue Ostpolitik
Die Ost- und Deutschlandpolitik war seit Gründung der Bundesrepublik ein zentrales Thema in den innenpolitischen Auseinandersetzungen, die lange Jahre in der Bundesrepublik lange um die Frage des richtigen Weges zur deutschen Wiedervereinigung kreisten, ohne einen politisch gangbaren Weg zum Ziel zu finden.
Die Bundesregierung unter Konrad Adenauer setzte auf die Stärke des Westens, um die Sowjetunion zum Einlenken in der deutschen Frage zu bewegen. Die Juristen konzentrierten sich auf die Frage, ob eine faktische Anerkennung der DDR als eigenständiger Staat nicht folgerichtig zur Aufgabe des im Grundgesetz verankerten Staatsziels der Wiedervereinigung führen müsse. Die Antwort auf diese Grundsatzfrage war natürlich juristisch nicht zu klären, sondern bedurfte einer politischen Antwort, die noch im Dunkel der zukünftigen Entwicklung lag. Die ersten Schritte auf dem Weg zur neuen Ostpolitik der Bundesrepublik galten der Analyse der Interessenlagen der involvierten Mächte, die in ihrer machtpolitischen Konfrontation einer deutschen Wiedervereinigung keine Chance ließen.
Mit Blick auf die nicht absehbare Wiedervereinigung begann der SPD-Vorsitzende Willy Brandt, von „Zwischenlösungen“ in Deutschland zu sprechen. In diesem Sinne war das Berliner Passierscheinabkommen von 1963 ein erstes Beispiel für eine solche Politik, die auf pragmatische „kleine Schritte“ setzte, um die politischen Spannungen in Mitteleuropa zwischen im Westen und der Sowjetunion einzugrenzen. Dafür hatte Brandt, seit er 1963 in der Akademie Tutzing für das Prinzip des Wandels durch Annäherung (vgl.
Die Ostpolitik der Großen Koalition 1967-1969
CDU/CSU und SPD hatten eine Große Koalition unter Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger (CDU) gebildet, Außenminister und Vize-Kanzler wurde Willy Brandt. Mit Brandt als Regierungspartner räumte Kiesinger in seiner Regierungserklärung der Ostpolitik mehr Raum ein als der West und Europapolitik, obwohl diese die feste Verankerung der Bundesrepublik im westlichen Bündnis garantierte; sie blieb auch der Fixpunkt, der die neue Ostpolitik außenpolitisch ermöglichte.
Die Veränderungen begannen mit der Sprache. Polen wurde der Hinweis auf die Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 erspart, der DDR die Bezeichnung „Sowjetzone“. Die Kernbotschaften der neuen Ostpolitik wurden positiv formuliert: Gewaltverzicht, Aussöhnung und friedliche Nachbarschaft.
Die außenpolitischen Ziele der Regierung Kiesinger waren ambitioniert: „Wir sind entschlossen mit allen Völkern Beziehungen zu unterhalten, die auf Verständigung, auf gegenseitiges Vertrauen und auf den Willen der Zusammenarbeit gegründet sind. Das gilt auch für unser Verhältnis zur Sowjetunion, obwohl unsere Beziehungen immer noch durch das ungelöste Problem der Wiedervereinigung unseres Volkes belastet sind.“
Entspannung bedeutete auch, dass die Bundesrepublik keinen Alleinvertretungsanspruch für Deutschland mehr erhob. Die Bundesrepublik hatte lange Jahre Staaten, die die DDR anerkennen wollten, mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen gedroht. Diese Praxis wurde aufgegeben. Entspannung der Konflikte und wirtschaftliche Zusammenarbeit lauteten die Schlüsselworte für die neue Ostpolitik.
Außenminister Brandt erläuterte im Januar 1967 vor dem Europarat, was die Bundesregierung unter Entspannung verstand. Es sei kein „Zauberwort“ und lasse die Konflikte zwischen Ost und West nicht verschwinden. „Es geht um den „Ausgleich gegensätzlicher Ziele und Interessen“ mit dem Ziel, die Grundlagen für eine dauerhafte europäische Friedensordnung zu schaffen. Die Konflikte in Europa ließen sich nicht auf einmal lösen, aber „man muss anfangen, wo es möglich ist. Mit kleinen Schritten, wo große noch nicht möglich sind.“ Die Bundesregierung wolle ihren Beitrag zum Prozess der Entspannung in Europa leisten. „Die Probleme Europas wie die Probleme Deutschlands lassen sich nicht in einem Klima des kalten Krieges regeln. Wir streben deshalb eine umfassende Verbesserung unserer Beziehung zu allen osteuropäischen Staaten an. Wir streben einen umfassenden wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Austausch an.“
Der Außenminister sah die Politik der Entspannung als langfristige Aufgabe, ohne sich Illusionen hinzugeben; er rechnete mit Rückschlägen und blockierenden Konflikten.
Die Entspannungspolitik konnte nur dauerhaft funktionieren, wenn alle beteiligten Staaten auf militärische Gewalt und ihre Androhung in ihren Beziehungen verzichteten. Wenige Tage nach seiner Rede vor dem Europarat übergab die Bundesregierung dem sowjetischen Botschafter Zarapkin den Entwurf einer Gewaltverzichtserklärung der Bundesrepublik gegenüber der Sowjetunion. Die Bundesregierung erklärte: „dass sie sich bei der Behandlung von Streitfragen mit der Sowjetunion oder einem ihrer Verbündeten auch in Zukunft nur friedlicher Mittel bedienen wird und dass sie auf Anwendung von Gewalt oder Drohung mit Gewalt zur Regelung solcher Streitfragen verzichtet. Die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sich insbesondere, bei der Verfolgung ihrer Ziele in der Deutschlandfrage auf Anwendung von Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu verzichten.“
Damit war die Hallstein-Doktrin über den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik für Deutschland Geschichte.
Die Konturen der neuen Ostpolitik nahmen Gestalt an: Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den sowjetischen Verbündeten in Europa, Gewaltverzicht und Betonung der europäischen Zusammenarbeit mit dem Ziel einer dauerhaften Friedensordnung für den alten Kontinent. Besonders die sozialistischen Balkanstaaten drängten aus wirtschaftlichen Gründen auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik. Dem kam die Regierung Kiesinger entgegen. Rumänien nahm als erster dieser Staaten diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik auf. Die Regierung in Bukarest tat dies „ohne Konsultationen der anderen Teilnehmer des Warschauer Vertrages.“
„Unter dem bestimmenden Einfluss der Russen, Polen und Ostdeutschen beschloss der Warschauer Pakt, was in den westlichen Sprachgebrauch damals als Ulbricht-Doktrin [...]
Dieses Ergebnis lag vielleicht auch an einer verstellten Wahrnehmung der westdeutschen Ostpolitik, die von der Wirkung der Hallstein-Doktrin ausging. Diese Politik hatte aber die Regierung Kiesinger/Brandt bereits aufgegeben, wie das Beispiel Rumänien zeigte. Trotzdem hing der Erfolg der neuen Ostpolitik der Bundesrepublik entscheidend ab von der Reaktion der Sowjetunion.
Deutschlandpolitik der Sowjetunion: Die Karlsbader Konferenz der kommunistischen Parteien Europas zu Fragen der europäischen Sicherheit April 1967
Das politische Entscheidungszentrum der sowjetischen Politik war das Politbüro der Kommunistischen Partei der Sowjetunion mit ihrem Ersten Sekretär Leonid I. Breschnew an der Spitze.
Die bilaterale Ostpolitik der Bundesregierung, die ihr als bewusste Spaltung der sozialistischen Staaten ausgelegt wurde, sollte es aus Moskauer Sicht künftig nicht mehr geben. So ging es auf dieser Konferenz auch um die Autorität der KPdSU als Führungsmacht der kommunistischen Bewegung – zumindest in Europa – nach dem Bruch mit Peking. Dazu auch um eine gemeinsame Linie gegenüber der neuen Ostpolitik der Bundesrepublik und um die Zustimmung der kommunistischen Parteien zu dem großen sowjetischen Projekt einer europäischen Sicherheitskonferenz.
Walter Ulbricht, der „Erste Sekretär der SED“, referierte: „Wir unterstützen völlig den Vorschlag der Einberufung der Konferenz aller europäischen Staaten, die den Problemen der Sicherheit und der friedlichen Zusammenarbeit gewidmet ist.“ Die Zustimmung verband er mit einer „Enthüllung“ über den strategischen Ansatz der neuen Ostpolitik der Bundesrepublik. Gegenüber der DDR verfolge Bonn weiterhin eine Politik der „Annexion“ betonte er, gleichzeitig wollte die Bundesregierung durch bilaterale Verträge mit einzelnen sozialistischen Staaten diese auseinander dividieren.
Eines der Ziele der Karlsbader Konferenz war es, diese neue/alte Ostpolitik der Bundesrepublik durch eine gemeinsame Linie der sozialistischen Staaten im Interesse der SED zu blockieren. Ulbricht erklärte Westdeutschland zum Juniorpartner der USA, beide Staaten versuchten mit ökonomischen Mitteln die Einheit der sozialistischen Staatengemeinschaft zu unterminieren und zu spalten. Breschnew sprach über die Lage im „sozialistischen Weltsystem“ und die Störung der Zusammenarbeit der Kommunisten durch die chinesische Partei, die „mit anderen Bruderparteien und sozialistischen Ländern“ nicht mehr kooperiere. Diese Probleme stünden zwar nicht auf unserer Tagesordnung, „sie sind aber vorhanden und wirken sich negativ auf die kommunistischen Bewegung“
Der sowjetische Parteiführer sah die größte Herausforderung für die Politik der kommunistischen Parteien in der Grenzfrage in Europa: „Die Hauptfrage der Sicherheit ist die Unantastbarkeit der Grenzen der europäischen Länder, so wie sie im Ergebnis des zweiten Weltkrieges entstanden sind.“ Gemeint war vor allem die innerdeutsche Grenze zwischen der Bundesrepublik und DDR und die fehlende Anerkennung der DDR als zweiter deutscher Staat durch die Bundesrepublik. Breschnew sprach die SPD direkt an, die lange Jahre der Außenpolitik der CDU „der Partei der westdeutschen Monopole“ gefolgt sei. „Jetzt gehören die Vertreter der sozialdemokratischen Partei zur Regierung, und sie verfügen nunmehr über Möglichkeiten, den außenpolitischen Kurs Westdeutschlands zu Gunsten des Friedens und der Sicherheit der Völker zu beeinflussen. Leider haben sie bisher noch nicht erkennen lassen, dass sie irgendetwas Ernsthaftes in dieser Hinsicht unternehmen.“ „Unserer Ansicht nach ist …in der westdeutschen Bundesrepublik vor allem die Aufhebung des Verbots der Kommunistischen Partei Deutschlands eine dringende Aufgabe der Europäischen Arbeiterbewegung.“
Mit anderen Worten: Moskau erwartete von der SPD den Einsatz für die von den deutschen Kommunisten betriebene Relegalisierung der KPD.
Die Karlsbader Erklärung, obwohl eine solche von Parteien, nicht von Regierungen, aber inhaltlich weit über parteipolitische Gegenstände hinausgehend, wurde unter diesem Gesichtspunkt von der Bundesregierung unter Kanzler Kiesinger
Dabei war Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit die Forderung nach Zusammenarbeit von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung vor allem unter dem Gesichtspunkt der europäischen Sicherheit. Aber genau da wuchsen bald, zumal nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die CSSR im Sommer 1968, beträchtliche Zweifel, ob die Sowjetunion solche Zusammenarbeit später noch billigen wolle.
Breschnews Bedingung für weitere Abkommen: Die Wiederzulassung einer legalen kommunistischen Partei in der Bundesrepublik
In der Amtszeit von Bundeskanzler Adenauer wurde 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands als verfassungsfeindlich 1956 verboten. Der Apparat der Partei fand danach sein Domizil in der DDR. In der Bundesrepublik agierten die Kommunisten in der Illegalität.
In Karlsbad erhob Breschnew das Verbot bzw. seine Beendigung zu einer Frage der europäischen Sicherheit. Von „dieser Tribüne“, erklärte er, „ist der Kampf gegen die Verfolgung demokratischer und friedlicher Kräfte in der westdeutschen Bundesrepublik und vor allem für die Aufhebung des Verbots der Kommunistischen Partei Deutschlands“ eine Aufgabe der Europäischen Arbeiterbewegung.
Ob mit Karlsbad oder unabhängig davon, die Bundesregierung hatte verstanden, dass die Wiederzulassung der kommunistischen Partei in der Bundesrepublik von Moskau erwartet wurde. Sie war für den Erfolg der künftigen Ostpolitik wichtig. Innenpolitisch bildete sich, unabhängig von den anhängigen außenpolitischen Fragen, in der Bundesrepublik eine außerparlamentarische Opposition. Vor allem durch sie kam es zu einer Renaissance sozialistischer Politik. In der heißen Phase der Studentenbewegung sahen die linken Aktivisten aber mehr auf die Kulturrevolution in China als auf die Sowjetunion, um von der DDR überhaupt nicht zu reden.
Im Sommer 1967 nahm sich die Ständige Konferenz der Innenminister der Länder des Themas „kommunistische Partei in der Bundesrepublik“ an. Den Innenministern ging es um „Klarheit“ in der Diskussion; das Verbotsurteil des Bundesverfassungsgerichtes galt. Damit war die Aufhebung des Verbots rechtlich ausgeschlossen. Möglich war eine nach dem Grundgesetz erlaubnisfreie Gründung einer verfassungskonformen KP.
Bundesinnenminister Lücke schlug seinen Innenministerkollegen aus den Ländern im Herbst 1967 eine Faustformel vor: „Alte KPD mit verfassungsfeindlichen Zielsetzungen – Nein, neue KPD mit verfassungskonformer Zielsetzung – Ja.“
Bundesjustizminister Gustav Heinemann (SPD) war ein entschiedener Gegner des politischen Strafrechts der Bundesrepublik von 1951, das nach dem Parteiverbot die Grundlage bot, die Aktivitäten der Kommunisten in der Bundesrepublik zu unterbinden – einschließlich politischer Kontakte zur DDR. Er trat, unterstützt von immer mehr Gleichgesinnten, für eine Änderung dieses Strafrechts ein.
Am 17. August 1956 war die Kommunistische Partei Deutschlands verboten worden, auf dem Bild Polizei vor der Parteizentrale in Düsseldorf. Als Voraussetzung für eine künftige Entspannungspolitik drängte Moskau auf Wiederzulassung einer kommunistischen Partei in Deutschland, dies wurde 1968 die DKP.. (© picture-alliance/AP)
Am 17. August 1956 war die Kommunistische Partei Deutschlands verboten worden, auf dem Bild Polizei vor der Parteizentrale in Düsseldorf. Als Voraussetzung für eine künftige Entspannungspolitik drängte Moskau auf Wiederzulassung einer kommunistischen Partei in Deutschland, dies wurde 1968 die DKP.. (© picture-alliance/AP)
„Der Bundestag verabschiedete am 29. Mai 1968 das 8. Strafrechtsänderungsgesetz. Max Güde (CDU), der ehemalige Generalbundesanwalt, begründete die Motivation für das Gesetz innenpolitisch: „Das freiheitlich-rechtsstaatlichen Postulat des Grundgesetzes, die ‚Anpassung an die gesamtdeutsche Auseinandersetzung‘ und die Förderung der ‚Entspannung im Verhältnis zwischen West und Ost‘ verlangten eine ‚Einschränkung des politischen Strafrechts‘. Der Gesetzgeber legalisiere nur und bringe‚ zu einem geordneten Abschluss‘, was als Einengung der politischen Justiz seit 1961 in der Rechtsprechung ohnehin zunehmend Realität geworden sei.“
Nach der Verabschiedung des 8. Strafrechtsänderungsgesetzes hatte sich die Rechtslage für die Diskussion um die Neugründung einer kommunistischen Partei in der Bundesrepublik verändert. Nun mussten die Kommunisten kaum noch befürchten, dass ihre Gründung als Ersatzorganisation der verbotenen KPD ebenfalls aufgelöst werden würde. Das Tauziehen hinter den Kulissen ging weiter.
Am 4. Juli 1968 empfing Bundesjustizminister Heinemann die Emissäre der KPD, Grete Thiele und Max Schäfer
Der Zeitpunkt für diesen Schritt überkreuzte sich mit der Renaissance von Marxismus und Sozialismus in der „außerparlamentarischen Opposition“ (APO), die sich zeitgleich an den Universitäten der Bundesrepublik und West-Berlin entwickelte.
Auf Drängen Leonid Breschnews in der Bundesrepublik zugelassen. Die Gründung einer neuen kommunistischen Partei, der DKP, maßgeblich unterstützt aus der DDR. Hier der spätere DKP-Vorsitzende Herbert Mies (l.) beim zweiten Parteitag 1971 in Düsseldorf u.a. mit dem SED-Propagandisten Albert Norden (2.v.r) (© picture-alliance, Klaus Rose)
Auf Drängen Leonid Breschnews in der Bundesrepublik zugelassen. Die Gründung einer neuen kommunistischen Partei, der DKP, maßgeblich unterstützt aus der DDR. Hier der spätere DKP-Vorsitzende Herbert Mies (l.) beim zweiten Parteitag 1971 in Düsseldorf u.a. mit dem SED-Propagandisten Albert Norden (2.v.r) (© picture-alliance, Klaus Rose)
Die Neugründung der DKP 1969 löste in der Bundesrepublik kein besonderes Aufsehen aus. Für Breschnew hatte sie aber Bedeutung. Angesichts des Schismas zwischen Peking und Moskau hatte er seine Forderung von 1967 auf der Karlsbader Konferenz durchgesetzt. In der Bundesrepublik gab es mit der Neugründung der DKP wieder eine legale kommunistische Partei, die an den Universitäten über einen eigenen Studentenverband (MSB Spartakus) und über eine eigene Jugendorganisation (SDAJ) verfügte.
Irritation: Der 21. August 1968
Stringent verlief die gegenseitige Vertrauensbildung aber noch nicht. Das lag auch an der UdSSR. Zu Beginn des Jahres 1968 kam es in der CSSR zu einer Führungskrise in der kommunistischen Partei. Im April löste Alexander Dubcek Antonin Novotny an der Spitze der KPC ab. Der geplante Reformprozess kam über zwei wichtige Gesetzesvorhaben nicht hinaus, und die Abschaffung der Zensur und die Rehabilitierung der Opfer des stalinistischen Justizterrors. Im April beschloss ein Parteitag ein neues Parteiprogramm und wählte den Slowaken Alexander Dubcek zum ersten Sekretär der kommunistischen Partei, der sich zunehmend als Reformer erwies. Schon im März begannen die Parteiführungen im Warschauer Pakt mit Argwohn die Entwicklung in der Tschechoslowakei zu verfolgen. Besonders die Abschaffung der Zensur war für die anderen kommunistischen Diktaturen eine nicht hinnehmbare Zumutung. Das wurde auf einem Treffen der anderen regierenden Parteien der sozialistischen Staaten mit der neuen Parteiführung unter Dubcek in Dresden Ende März sehr deutlich.
Bei dem Treffen waren bereits sowjetische Militärs im Raum, ihre Präsenz verdeutlichte, es geht nicht nur um ideologische Differenzen, sondern um die militärstrategische Position sowjetischer Streitkräfte im Konflikt mit der NATO. Dubcek fühlte sich wie Jan Hus vor dem Konzil in Konstanz, das den Reformator als Ketzer zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilte. „Dieses Treffen war in mehrfacher Hinsicht für den Charakter und die Form des Konfliktes zwischen der UdSSR samt ihren Satellitenstaaten und der CSSR während des ganzen Jahres 1968 typisch. Die tschechoslowakische Delegation in eher zufälliger Zusammensetzung und ahnungslos, ohne eine durchdachte Konzeption, dafür aber mit der Absicht, die aufrichtige Treue zum Bündnis zu bekunden…“.
SED-Chef Walter Ulbricht beklagte, dass die westdeutsche Propaganda die Ereignisse in der CSSR offensiv gegen die DDR ins Feld führe. Den Beteuerungen der tschechoslowakischen Delegation über ihre Bündnistreue wurde kein Glauben geschenkt. So war ein gewichtiger Baustein für die Positionsbestimmung der SED der Bericht des DDR-Botschafters in Prag, Peter Florin, der meldete: „Die Aktivität der oppositionellen Kräfte hat sich in den letzten Tagen verstärkt und erhält zunehmend offen konterrevolutionäre Züge.“ Er fuhr fort: „die Presse, der Rundfunk und das Fernsehen seien weitgehend in ‚gegnerischer Hand‘, und die Medien würden somit zu Organisationen der ‚Konterrevolution‘“.
Das Schlüsselwort für die marxistisch-leninistische Perzeption des gefährlichen Charakters der Reformpolitik in der Tschechoslowakei war gefallen und damit der Schutz des Sozialismus in diesem Land durch den Einmarsch sowjetischer Truppen am 21. August 1968 aus Moskauer Sicht und seiner Satelliten legitimiert. Logistisch und propagandistisch durch die DDR unterstützt. Der Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in die CSSR 1968 hatte auch international klargestellt, dass dieser Staat Teil des sowjetischen Imperiums war. Mit den Panzern in Prag glaubte Breschnew einen potentiellen politischen Systemwechsel in Richtung parlamentarische Demokratie, wie ihn die Reformkommunisten anstrebten, zu verhindern.