I. 1961 - 1963: Vom Mauerbau bis zum Konzept „Wandel durch Annäherung“
Vor 50 Jahren: Die neue Ostpolitik der Bundesrepublik und der Moskauer Vertrag 1970 (1. Teil)
Manfred Wilke
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Die ersten Schritte zur Entspannungspolitik, konzipiert von Willy Brandt und Egon Bahr und inspiriert von John F. Kennedy.
1961: Die deutsche Teilung wird Realität
Der 13. August 1961 war einer der Schicksalstage unserer Geschichte. Die DDR teilte durch eine Mauer Ost- und West-Berlin, sie war zugleich eine Grenze des sowjetischen Imperiums in Deutschland. Der Bau der Berliner Mauer 1961 war ein Schock für die Berliner*innen und die Deutschen in der Bundesrepublik. Daraus sollte sich ein Wendepunkt ihrer Deutschland- und Ostpolitik entwickeln.
Die Sowjetunion hatte klargestellt, dass die Grenzen, „die im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges entstanden waren“, gerade in Deutschland galten. Die Hoffnung vieler Deutscher auf einen Friedensvertrag und die Wiedervereinigung war nun konfrontiert mit den geopolitischen Gegebenheiten im gespaltenen Europa nach 1945.
25 Jahre später, kurz vor dem Abschluss der sowjetischen Verhandlungen über den Moskauer Vertrag mit der Bundesrepublik, stellte der sowjetische Parteichef Leonid I. Breschnew gegenüber Erich Honecker, dem künftigen Generalsekretär der SED, sein Deutschlandbild dar. Breschnew hielt einen belehrenden Zusatz für erforderlich: „Erich, ich sage dir offen, vergesse das nie: die DDR kann ohne uns, ohne die SU, ihre Macht und Stärke – nicht existieren. Ohne uns gibt es keine DDR. Die Existenz der DDR entspricht unseren Interessen, den Interessen aller sozialistischen Staaten. Sie ist das Ergebnis unseres Sieges gegen Hitlerdeutschland. Deutschland gibt es nicht mehr, das ist gut so. Es gibt die sozialistische DDR und die imperialistische Bundesrepublik.“
Nachdem 1961 die empörten, zornigen und angesichts der Machtverhältnisse ohnmächtigen Rufe „Die Mauer muss weg!“ der West-Berliner*innen ergebnislos verhallt waren, galt es politisch vorrangig, in Berlin die zwischenmenschlichen Beziehungen nach „drüben“, wie der Ostsektor umgangssprachlich im Westteil der Stadt hieß, zu sichern. Das war die menschliche Seite der entstandenen Lage; politisch ging es um die Notwendigkeit der weiteren Solidarität der Bundesrepublik mit den Deutschen in der DDR und vor allem um die Standfestigkeit der Westmächte hinsichtlich ihrer Rechte in Berlin.
Die SED unterband die Möglichkeit zwischenmenschlicher Begegnungen in der geteilten Stadt. Geregelte staatliche Beziehungen mit der DDR wurden ein dringliches Problem für den Berliner Senat. Diese bestanden nur auf Verwaltungsebene in der geteilten Stadt, sie besaß zum Beispiel nur eine Kanalisation. Berlin war zum deutschlandpolitischen Brennpunkt geworden und sollte zum Versuchsfeld einer neuen Ostpolitik der Bundesrepublik werden.
Deren Suchprozess verlief parallel zu einer neuen amerikanischen Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion nach der Kuba-Krise 1962, in der die beiden Atommächte vor einem mit AtomKernwaffen geführten Krieg gestanden hatten. Die Kontrolle über die Atomwaffen in Krisensituationen eröffnete die antagonistische Kooperation zwischen den Atommächten USA und Sowjetunion. Sie begann mit dem „Roten Telefon“ zwischen Moskau und Washington, um Verständigung in Krisensituationen technisch schnell zu ermöglichen, und gipfelte im Atomwaffensperrvertrag. Antagonistische Kooperation bedeutete: Die ordnungspolitischen Gegensätze zwischen amerikanischen Demokraten und sowjetischen Kommunisten blieben bestehen, aber die fortbestehenden Konflikte durften nicht zum Atomkrieg eskalieren, der das Leben der Menschheit insgesamt bedrohen würde.
Für Moskau kam ein weiteres Problem hinzu. Die Welt war daran gewöhnt, dass die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) die kommunistische Weltbewegung führte. 1963 hatte sich dieser Sachverhalt geändert, es war zum Bruch zwischen den beiden kommunistischen Staatsparteien Chinas und der Sowjetunion gekommen. Der internationale Kommunismus „ist von einem Schisma bedroht“, schrieb der Historiker Hermann Weber einleitend zu seiner Dokumentation über den Beginn dieses Bruchs. Das Schisma wurde zur Realität, und die einheitliche von Moskau geführte Weltbewegung nahm eine polyzentrische Struktur an.
Die Bundesrepublik Deutschland musste politisch darauf reagieren, dass die deutsche Teilung zur unabsehbaren Realität geworden war; diese Reaktion sollte zum Wendepunkt in ihrer Deutschland- und Ostpolitik werden.
Eine neue weltpolitische Konstellation für die Bundesrepublik
Das 1949 im Grundgesetz verankerte Staatsziel der Überwindung der deutschen Teilung und die Rückgewinnung der nationalen Einheit in Freiheit waren nunmehr – aus einem erhofften Nahziel – zum Fernziel der Deutschlandpolitik gegenüber den vier Mächten geworden, die in Berlin auch weiterhin gemeinsam über den Status der geteilten Stadt wachten. Die einheitliche deutsche Staatsbürgerschaft, im Grundgesetz festgehalten, nutzten nach Gründung von DDR und Bundesrepublik knapp vier Millionen Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR; sie war die juristische Grundlage, um diese Zuwanderer in der Bundesrepublik ohne Einbürgerungsprozeduren aufzunehmen. Die Flüchtlinge aus der DDR relativierten Breschnews Bild der deutschen Realität im gespaltenen Land.
Nach dem Bau der Berliner Mauer schien das Schicksal der Deutschen besiegelt zu sein. Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) und der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt (SPD), berieten die Konsequenzen für die Deutschlandpolitik nach dem Mauerbau. Sie stimmten darin überein, dass die strategische Voraussetzung für jedwede Bewegung in der deutschen Frage die Beziehungen der Bundesrepublik zur Sowjetunion und den Staaten ihres Imperiums waren. 1955 hatte die Bundesrepublik international einen Alleinvertretungsanspruch für Deutschland erhoben. Sie drohte jedem Land – außer den Ostblockstaaten –, das diplomatische Beziehungen mit der DDR aufnahm, mit dem sofortigen Abbruch der diplomatischen Beziehungen.
Die Kuba-Krise und die amerikanische Konsequenz: Entspannungspolitik
Die 1958 von der Sowjetunion ausgelöste Berlin-Krise hatte mit der Schließung der Grenze zwischen Ost- und West-Berlin einen vorläufigen Abschluss gefunden; die Existenz der DDR war gesichert. Der nächste Krisenherd war 1962 die Kuba-Krise, hier fand die Berlin-Krise in gewisser Weise ihre Fortsetzung. Nicht mehr am Checkpoint Charlie, sondern in der Karibik kam es zur direkten Konfrontation zwischen der Sowjetunion und den USA.
Moskau hatte zum Schutz der kubanischen Revolution begonnen, Mittelstreckenraketen mit den dazugehörigen atomaren Sprengköpfen auf der Insel zu stationieren. Die Reichweite der Raketen bedrohte viele Städte der USA. Der drohende Abgrund eines Atomkrieges wurde für Präsident John F. Kennedy und den Ersten Sekretär der KPdSU, Nikita S. Chruschtschow, zu einer Art „Schocktherapie“. Sie verwandelte „ein latentes Unbehagen am Kalten Krieg, das auf beiden Seiten länger schon empfunden worden war“ und bestärkte Kennedy und Chruschtschow in ihrem Willen, die atomare Bedrohung abzuwenden und den Kompromiss auf Basis des territorialen Status quo zu vereinbaren.
Die atomare Bedrohung menschlichen Lebens auf dem gesamten Planeten zwang ungeachtet der fortbestehenden gesellschaftspolitischen Konfrontation die beiden Weltmächte zur Kooperation in der Kontrolle über die Atomwaffen. Für sie galt es nun, die Zahl der Atommächte in der Welt zu begrenzen und einen Atomwaffensperrvertrag international durchzusetzen. An diesem Wendepunkt im Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion in Europa griffen beide Staaten auf ein bewährtes Mittel imperialer Politik zurück: die Abgrenzung von Einflusssphären. Die Konsequenz, die der Präsident in Washington und der Parteichef der KPdSU in Moskau aus ihrem Kompromiss in dieser Krise zogen, war die kooperative Koexistenz:
„Wenn zwei Länder an der Schwelle eines von keinem gewollten Krieges standen und erschrocken zurückzuckten, beeilten sich auch Kennedy und Chruschtschow, sobald die Krise vorüber war, eine Entspannung in ihren Beziehungen zueinander herbeizuführen. Was vielleicht noch wichtiger war: Sie erkannten, dass sie in Zukunft ihre Politik besser miteinander abstimmen mussten, wenn sie verhindern wollten, dass Interessengegensätze wieder einmal zu einer scharfen Konfrontation führen würden, deren Umschlagen in ein nukleares Inferno nur durch ein glückliches Krisenmanagement verhindert werden konnte. Sie erkannten, dass ihre Länder, wenn sie einen tragbaren Modus Vivendi erreichen und wenigstens einige ihrer Interessengegensätze entschärfen wollten, mehr tun müssten, als nur aktuell bestehende Spannungen abzubauen.“
Die Konsequenz dieser kooperativen Koexistenz – die die von Lenin entwickelte Konzeption der „friedlichen Koexistenz“ in Richtung Kriegsvermeidung fortentwickelte – war eine flexiblere Ostpolitik der Westmächte, die auf eine gesicherte außenpolitische Erfahrung zurückgriff: Die Interessen der Gegenseite mussten berücksichtigt werden, wenn man sich auf Lösungen von Interessenkonflikten einigen wollte, die zwischen West und Ost bestanden.
Gegenstand eines solchen Interessenkonflikts in Mitteleuropa war das geteilte Berlin. Politisch war die Teilung der Stadt 1948 vollzogen worden. Der sowjetische Sektor wurde von der SED verwaltet, während West-Berlin von einem demokratisch gewählten Senat regiert wurde. 1948 hatte die Sowjetunion versucht, durch eine Blockade der Transitwege von Westdeutschland nach Berlin ihre Kriegsalliierten zum Abzug zu zwingen. Der Versuch war durch eine Luftbrücke der Westmächte vereitelt worden, die die drei Westsektoren versorgte. Die Stadt selbst wurde politisch geteilt. Es galten unterschiedliche Währungen in den beiden Teilen der Stadt. Aber die Bewegungsfreiheit der Berliner*innen zwischen den einzelnen Sektoren wurde nicht unterbunden. Die Transitwege durch die DDR nach West-Berlin verliefen auf Straße und Schiene durch die DDR.
Berlin blieb ein kritisches Thema der internationalen Politik, zumal die Sektorengrenze in der Stadt noch offen war und von Hunderttausenden von DDR-Staatsbürgern zur Flucht in den Westen genutzt wurde. Das Berlin-Problem sorgte für zusätzliche Spannungen zwischen den Westmächten und der Sowjetunion in Europa. Die Vier-Mächte-Konferenz in Genf 1959 über die Lösung der deutschen Frage war ergebnislos beendet worden. Die Interessen der vier Mächte in der deutschen Frage hatten keinen Kompromiss zugelassen. Das galt auch für die beiden deutschen Staaten, sie hatten an dieser Konferenz als Beobachter teilgenommen. Die Existenz der beiden Teilstaaten, einer in der NATO und der andere im Warschauer Pakt, waren Teil der Realität der internationalen Politik geworden.
Aufgrund des bestehenden atomaren Patts veränderte sich die amerikanische Europapolitik. Die neuen Zielsetzungen gegenüber der Sowjetunion wurden von Präsident John F. Kennedy festgelegt. „Im gewissen Sinne bedeutete seine Politik gegenüber der Sowjetunion in Europa eine Rückkehr zur weltpolitischen Konzeption Roosevelts aus den Jahren 1943-1945. Die Sowjetunion wurde nun nicht mehr – wie zwischen 1945 und 1955 – als Hauptgegner betrachtet, der gezwungen werden sollte, wesentliche Teile seines 1945 gewonnenen Machtbereichs aufzugeben. Vielmehr wurde nun angestrebt, durch intensive Bemühungen in der Entspannungspolitik zu einem Arrangement, langfristig sogar zu einer Kooperation zwischen den beiden Weltmächten zu gelangen. Der seit 1947 die Weltpolitik beherrschende ‚Kalte Krieg‘ wurde von den USA für beendet erklärt.“
Nicht allein die Erfahrung der Kuba-Krise, sondern auch der offene Bruch zwischen der Sowjetunion und China 1961/62‚ trug zu diesem Perspektivenwechsel in Washington bei. Die Volksrepublik China stieg in den Club der Weltmächte auf. Der Konflikt zwischen Peking und Moskau stellte klar, dass die bisherige amerikanische Wahrnehmung des „von einem einzigen Führungszentrum aus gelenkten Weltkommunismus“ eine unzutreffende Vereinfachung war. China war kein folgsamer Satellit Moskaus. Die Konsequenz aus dieser Einsicht zog die US-Administration aber erst Jahre später, als sie mitten im Vietnam-Krieg diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik China aufnahm.
West-Berlin nach dem Mauerbau
Die Berliner Mauer wurde gebaut, um den Exodus vieler Deutscher aus der DDR zu stoppen. In der ersten Berlin-Krise 1948/49 hatte die Sowjetunion die Westmächte zum Abzug aus Berlin zu zwingen versucht, der Versuch war misslungen.
Ausgelöst worden war die zweite Krise 1958 durch den sowjetischen Parteichef Chruschtschow, der von den Westmächten gefordert hatte, der Umwandlung von „Westberlin“ in eine „freie Stadt“ zuzustimmen und ihre Truppen aus West-Berlin abzuziehen. Die Westmächte und die Bundesrepublik lehnten diese Forderung ab. Es blieb Moskau und Ost-Berlin, die Mauer zur Sicherung der DDR entlang der Sektorengrenze zwischen West- und Ost-Berlin zu bauen. Die Westmächte nahmen diese Lösung der Krise hin. Vor dem Bau der Mauer hatte der amerikanische Präsident John F. Kennedy die amerikanischen Sicherheitsgarantien für Berlin auf die Westsektoren begrenzt. Den Deutschen wurde eindringlich vor Augen geführt, dass die Teilung Deutschlands international galt.
Einen Krieg um Berlin wollte keine der Mächte. Die DDR-Regierung verfügte nach Schließung der Grenze von Ost-Berlin zum Westteil der Stadt ein Besuchsverbot für West-Berliner*innen; sie durften den Ostsektor der Stadt nicht mehr betreten. Sie waren ausgesperrt, während Westdeutsche Ost-Berlin mit einem Passierschein weiterhin besuchen konnten. Senat und Bundesregierung versuchten vergeblich, diese Diskriminierung der West-Berliner*innen zu überwinden.
Politisch war die Aussperrung ein Druckmittel der SED-Führung, um die Anerkennung der DDR als eigenständigen Staat durch die Bundesrepublik und den Senat von Berlin zu erzwingen. Die Besuchsregelung für West-Berliner*innen, so die DDR-Regierung, müsse mit ihr verhandelt werden. Der Berliner Senat fand sich in einer Zwickmühle, ihm ging es nach der Schließung der innerstädtischen Grenzen vordringlich um eine Regelung für den Besuch der West-Berliner*innen im Ostteil der geteilten Stadt.
Zwei Jahre blieben die Bemühungen von Senat und Bundesregierung vergeblich. Erst 1963 kam Bewegung in die Sache. Der neue Botschafter der Sowjetunion in Ost-Berlin, Pjotr Abrassimow , absolvierte am 18. Februar 1963 seinen Antrittsbesuch bei Otto Winzer , Staatssekretär im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) der DDR. Abrassimow kündigte Winzer Initiativen der Sowjetunion gegenüber West-Berlin an. Diese sollten dem Ziel dienen, die fortschreitende Selbstständigkeit West-Berlins zu betonen, um nach und nach „Westberlins Loslösung von Westdeutschland zu erreichen.“ Von Winzer wollte der Botschafter wissen, worauf das schlechte Abschneiden der SEW bei den Abgeordnetenhauswahlen (1,5 Prozent) im Westteil der Stadt zurückzuführen wäre.
Es war die Frage nach dem Zusammenhang von Wahlergebnis und Diskriminierung der West-Berliner*innen an der Grenze zu Ost-Berlin. Winzer erläuterte seinem Gast die Gründe für dieses Verfahren und betonte generell die Notwendigkeit des „Abschlusses einer Vereinbarung mit dem Senat". Abrassimow entgegnete, nach seiner Ansicht müsse unbedingt Bewegung in diese Frage kommen, „weil sich das Problem einer Regelung in dieser Frage negativ für uns auswirkt. Insbesondere die einfachen Menschen in Westberlin würden es nicht verstehen, warum ihnen der Besuch ihrer Angehörigen nicht gestattet wird, während andererseits jeder Westdeutsche in die Hauptstadt der DDR einreisen könne“.
Die Intervention des sowjetischen Botschafters gegenüber Winzer war mehr als ein Denkanstoß. Sie fand hinter verschlossenen Türen statt, zeigte aber Wirkung. Hinter den Kulissen kamen Verhandlungen in Gang. Im Dezember 1963 einigten sich der Senat von Berlin und die DDR-Regierung auf ein erstes Passierscheinabkommen, es trat über die Weihnachtsfeiertage vom 19. Dezember 1963 bis zum 4. Januar 1964 in Kraft, drei weitere solcher Abkommen sollten bis 1966 folgen.
Zugleich hatte Abrassimow in seinem Gespräch mit DDR-Außenminister Winzer eine weitere „Reihe von Maßnahmen der Sowjetunion gegenüber West-Berlin“ angekündigt. Strategisch sollten sie dem Zweck dienen, die fortschreitende Selbstständigkeit West-Berlins zu betonen und damit nach und nach dessen Loslösung von Westdeutschland zu erreichen. Insbesondere durch den Ausbau eines selbstständigen Generalkonsulats und einer Handelsvertretung sowie eines gemischten deutsch-sowjetischen Handelsunternehmens und durch eine bedeutende Erweiterung der kulturellen Beziehungen einschließlich der Eröffnung eines Kultur- und Informationszentrums sollte dies bewirkt werden.“
Der Berlin-Besuch Kennedys 1963
Zeitgleich zu dieser Entwicklung setzten auch die USA sichtbare Akzente. Der Besuch des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy in West-Westberlin 1963 wurde zu einer öffentlichen Demonstration. Der Mann, auf den die Berliner nach dem 13. August 1961 vergeblich gewartet hatten, kam am 26. Juni 1963 und wurde jubelnd empfangen. Der Besuch war eine symbolische Geste, die demonstrieren sollte: Die USA bleiben in Berlin. Kennedy sprach vom „Wind der Veränderung“, der über den Eisernen Vorhang und die übrige Welt hinwegwehe und empfahl Kontakte zwischen Ost und West als Beitrag zur schrittweisen Überwindung der Spannung.
Das war für Berlins Regierenden Bürgermeister Willy Brandt „das Signal zum Handeln“ notierte der damals in der Senatskanzlei zuständige Fachbeamte für die Kontakte auf Verwaltungsebene zwischen West- und Ost-Berlin, Gerhard Kunze.
Tutzing 1963. Der Aufbruch zum „Wandel durch Annäherung“
Am 15. Juli 1963 nutzten Willy Brandt und sein damaliger Senatssprecher Egon Bahr eine Tagung der Evangelischen Akademie in Tutzing für eine politische Initiative zu Überlegungen über eine neue Ostpolitik. Dort skizzierten beide die Richtung einer künftigen Deutschlandpolitik in ausdrücklicher Anknüpfung an Kennedy.
Brandt begann seine programmatische Rede mit der Einordnung der Deutschlandpolitik der Bundesrepublik in die Kontinuität der deutschen Geschichte, ihre Widersprüchlichkeit und die politischen Gegensätze, die sie bestimmt hatten. Er deutete sie als Schicksal der deutschen Nation, dem „man nicht entfliehen kann.“ Diese Geschichte der Deutschen „entlässt uns nicht, man kann ihr nicht entkommen, auch nicht durch Wohlstand. Bismarck und Bebel gehören dazu, Hindenburg und Ebert, Goerdeler und Leber, Adenauer und Schumacher. Aber auch Hitler und Ulbricht. Es war ein großer Irrtum, dass das Jahr 1945 so etwas wie eine ‚Stunde Null‘ in unserer Geschichte sein könnte. Den Frieden mit sich selbst zu machen, ist unserem Volk bisher nicht gelungen.“
Knapp 20 Jahre nach Kriegsende überdeckte der Wohlstand in der westdeutschen Republik viele Wunden, die die Nazi-Herrschaft, Krieg, Kriegsgefangenschaft, Flucht, Vertreibung und die Teilung Deutschlands geschlagen hatten, das hatte Brandt zuletzt im Wahlkampf 1961 schmerzlich erfahren müssen.
Offene Gräben gab es auch im Blick auf die europäischen Nachbarn, die Opfer imperialistischer Eroberungspolitik von „Nazi-Deutschland“ in Osteuropa geworden waren; auch die Erinnerung daran blieb eine unabgegoltene Herausforderung deutscher Politik. Gräben waren noch nicht zugeschüttet, und man ging munter daran, neue auszuheben. „Auch wenn dies in der Tagespolitik nicht dauernd offenbar wird, tragen wir hier eine Bürde mit uns, die uns noch schwer werden wird. Wir sind im Begriff, sie auf die Schultern einer Generation zu laden, die sie nicht tragen will.“
Der Bürde dieser Vergangenheit setzte Brandt den Mut zum Neuanfang nach 1945 entgegen, den politisch Bundeskanzler Adenauer verkörperte. Er hatte es verstanden, in der westlichen Welt wieder Vertrauen zu dieser deutschen Demokratie zu gewinnen. Auf dieser Basis, fand Brandt, müssten wir uns künftig aber „stärker um unsere Interessen gegenüber dem Osten“ kümmern, und er formulierte den Grundgedanken einer künftigen Ostpolitik mit dem Ziel, durch den Ausgleich mit der Sowjetunion den Weg zur Wiedergewinnung der deutschen Einheit zu finden.
Brandt formulierte sehr eindeutig: „Es gibt eine Lösung der deutschen Frage nur mit der Sowjetunion, nicht gegen sie. Wir können nicht unser Recht aufgeben, aber wir müssen uns damit vertraut machen, dass zu seiner Verwirklichung ein neues Verhältnis zwischen Ost und West erforderlich ist und damit auch ein neues Verhältnis zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Dazu braucht man Zeit, aber wir können sagen, dass uns diese Zeit weniger lang und bedrückend erscheinen würde, wenn wir wüssten, dass das Leben unserer Menschen drüben und die Verbindungen zu ihnen erleichtert würden.“
„Die gemeinsame Politik muss davon ausgehen, die Sowjetunion zu der Einsicht zu bringen, dass ein Wandel in ihrem eigenen Interesse liegt“, betonte Brandt und räumte ein: „Für menschliche Erleichterungen im Interesse unserer Landsleute müssen wir - so hat es auch die Bundesregierung gesagt - bereit sein, über vieles mit uns reden zu lassen.“ Senatssprecher Egon Bahr prägte auf derselben Tagung in Tutzing für diesen neuen Politikansatz die Formel vom „Wandel durch Annäherung“.
„[…]Die damit ins Leben getretene neue Politik prägte unter dem Namen ‘Ostpolitik‘ und ‚Politik der kleinen Schritte‘ die Ostpolitik der nächsten 25 Jahre. Sie förderte die nationalen Bindekräfte in der deutschen Teilung. Ein erster Erfolg dieser Politik war im Dezember 1963 der Abschluss des ersten „Passierscheinabkommens“ in Berlin.“
In der innerstädtischen Zwangslage des bis dahin geltenden Besuchsverbots von West-Berlinern im anderen Teil der Stadt wurde der Berliner Senat auch durch die Umstände gezwungen, zum Vorreiter einer solchen neuen Ostpolitik der Bundesrepublik zu werden. Der Senat musste von den Gegebenheiten der deutschen Teilung und damit der Existenz der DDR ausgehen, ohne die Bindung an die Bundesrepublik infrage zu stellen. Als die Verhandlungen des Senats mit der DDR-Regierung begannen, hatten international zur gleichen Zeit zwischen der Sowjetunion und den USA „Gespräche über Deutschland und Berlin begonnen, die schleppend und mit Unterbrechung ihren Fortgang nahmen. „Beide Mächte waren von der Notwendig überzeugt, die Lage in Europa ruhig zu halten und Risiken zu vermeiden.“
Aus der Forderung nach der Wiedervereinigung an die Adresse der Vier Mächte wurde die eigene „Politik der kleinen Schritte“ mit dem Ziel eines „geregelten Nebeneinanders“ der beiden deutschen Teilstaaten. Diese Politik stieß bei den Regierenden in Ost- und West-Deutschland zunächst auf Unverständnis und Misstrauen. In Westdeutschland misstraute man den Kommunisten abgrundtief und folgerte daraus, dass die wünschenswerten innerdeutschen Abkommen nicht funktionieren werden.
Nach Auffassung der SED-Führung war das Ziel von Brandt nicht in erster Linie menschliche Erleichterung, sondern die Aufweichung ihrer Herrschaft. Für die betroffenen Berlinerinnen und Berliner rückte die Erleichterung jedoch in den Vordergrund. Der Senat hatte erreicht, dass die Grenze für West-Berliner passierbar wurde, wenn auch zunächst nur für wenige Tage: „Ein bescheidener Fortschritt, aber ein Fortschritt, den niemand vergaß, der die endlosen Schlangen in der Dezemberkälte vor den Grenzübergangsstellen sah.“
Das Urteil Gerhard Kunzes über den Zusammenhang der 1963 konzipierten neuen Ostpolitik und der 27 Jahre später erfolgten Wiedervereinigung ist, auch wenn es zu monokausal erscheint, im Ganzen zutreffend. Zwar blendet es die sich wandelnden internationalen Konstellationen aus, aber richtig bleibt, dass diese Politik erheblich dazu beigetragen hat, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen West und Ost in Deutschland nicht nur zu erhalten, sondern auch zu stärken.
Zitierweise: Manfred Wilke, "Vor 50 Jahren: Die neue Ostpolitik der Bundesrepublik und der Moskauer Vertrag 1970" (I), in: Deutschland Archiv, 14.07.2020, Link: www.bpb.de/312613.
Prof. Dr., Soziologe, Zeithistoriker und Publizist, Projektleiter am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) München, Berlin. 1992 war er Mitbegründer des Forschungsverbundes SED-Staat an der FU Berlin, dessen Leiter er bis 2006, zusammen mit Klaus Schroeder war.
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