1. Eisheiligen
Eigentlich wollte ich über die vier Pentagone der Gesellschaft referieren. Eigentlich wollte ich die Gegenwart beschreiben, die deutsche und europäische Gegenwart. Eigentlich wollte ich Anregungen für die Zukunft, für die Zukunft unserer Nachkommen geben. Und plötzlich war wieder die Erinnerung da, das Vergangene, das einzig Unveränderliche, das Konservative, das mir auf die Stirn eingebrannt ist und nicht vergeht. Die Eisheiligen. Mal Sonne, mal Regen, mal Wind – alle bringen Veränderungen, Veränderungen nach vorn.
Als ich überlegte, was ich sagen möchte, holte mich ein Tag im März 2020 dieses Jahres wieder ein und eine Nachricht, die ich vernahm. Zwei prominente Mitglieder der Linken, Dagmar Enkelmann und Hans Modrow baten im christlichen Sinne um Vergebung. Vergebung wofür? Vergeben kann nur der, der geschädigt wurde, der verleumdet wurde, der misshandelt wurde, dem die Gegenwart und Zukunft im humanistischen Sinne verweigert wurde, der physische oder psychische Leiden erdulden musste. Vergeben kann ich nur dem Schuldigen. Sie sind mir gegenüber nicht schuldig geworden. Aber viele andere.
Im Zuge dieser Vorbereitung habe ich die Schriften des Vereins ehemaliger Angehöriger der Bewaffneten Organe der DDR und anderer DDR-Funktionäre „Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung (GRH) e.V.“ noch einmal studiert. Je mehr ich davon las, desto schwieriger wurde der geistige Prozess das, was sie sagten, nachvollziehen zu können. Nicht Wut, aber Enttäuschung machte sich breit. Warum fehlt es an Unrechtsempfinden? Deshalb möchte ich an einem Beispiel noch einmal in die Vergangenheit eintauchen.
2. Frühe Prägungen
Ich möchte Ihnen die Geschichte eines Menschen erzählen, der schon als Kind ausgegrenzt wurde. Ich beginne in dem Jahr, als Frau Enkelmann geboren wurde und das Kind zur Schule kam, 1956. Später erfuhr das Kind, das in dem Jahr politisch viel passierte. Z. B. in Jena. Am 30. November 1956 fand der alljährliche Physikerball an der Uni Jena statt. Diesmal mit einem von Studierenden vorbereiteten kabarettistischen Inhalt. 24 Bilder. 24 Befreiungen. Darunter ein Bild zur Wahl:
Wahllokal. Wahlvorstand sitzt am Tisch. Eine graue Mülltonne wurde schwarz angestrichen und auf dem verzinkten Blech stand schwarz: Urne. Der Wahlvorgang. Es kommt ein Mann, wird begrüßt vom Wahlleiter, bekommt den Zettel, knickt ihn, wirft ihn in die Urne und geht. Kommt eine Frau, wird vom Wahlleiter begrüßt, bekommt den Zettel, faltet ihn, wirft ihn in die Urne und geht. Kommt ein Roboter, tschechisch: Zwangsarbeiter (Josef Capek, eine literarische Kunstfigur, 1920), geht zum Wahlleiter, wird begrüßt, der Wahlleiter zählt die Wahlscheine, gibt ihm einen Stapel, der Roboter geht zur Urne, auf halbem Wege dreht er sich zum Publikum. Es steht auf seinem Bauch, er vertrete den „WB 17“, was die hohe Anzahl der Wahlscheine begründet. Er wirft alle Zettel in die Urne und geht. Nach ihm kommt der deutscheste aller Deutschen: ein Schäferhund. Er läuft zum Tisch des Wahlleiters, Pfötchen auf den Tisch, Pfötchen schütteln, bekommt den Wahlschein ins Maul, läuft zur Urne und wirft den Zettel hinein und läuft raus.
Das Neue Deutschland vom 15. November 1958 titelte: „Wahlen bei uns und Wahlen bei euch … Der wesentliche Unterschied zwischen unseren Gegnern und uns besteht darin, dass wir recht haben, und sie haben unrecht…“
Erich Mielke, seit 1957 Stasichef, bekam eisheilige Gefühle und nahm die Protagonisten für 114 Jahre in seine „väterliche Obhut“. Aus den Gerichtsakten:
„… Die Angeklagten zeichnen sich durch eine staatsfeindliche Einstellung aus. In ihren Mußestunden bereitete es ihnen offensichtlich Spaß, Hetze gegen unseren Arbeiter-und-Bauern-Staat, gegen die Partei der Arbeiterklasse und das gesamte sozialistische Lager zu verfassen. Sie lieferten den Stoff zum Physikerball. In der Ungarnszene brachten sie den Hass gegen die Sowjetunion und ihre Sympathie zu den ungarischen Faschisten zum Ausdruck. Das höchste Organ unseres Staates, die Volkskammer, bezeichneten sie als 'Wedelkammer'. Ihre staatsfeindliche Bejahung zeigten sie nicht nur auf schriftstellerischem Gebiet, auch als Darsteller war dies festzustellen…“.
Politische Ausgrenzung als Kind
Als das Kind etwa neun Jahre alt war und die Kinder in den Patenbetrieben ihrer Schulen zu Weihnachten ein Programm vorführten, war es dabei. Das Kind freute sich auf seinen ersten Auftritt. Das Programm lief wunderbar. Die Leute haben sich gefreut. Wie das so ist, wenn Kinder auftreten. Freude strahlte aus ihren Gesichtern. Großartig, der Applaus! Nach dem Auftritt trat der Lehrer auf das Kind zu, bedankte sich und schickte es nach Hause. Die anderen Kinder durften bleiben. Haben Kakao und Kuchen bekommen. Das Kind wusste nicht, warum es weggeschickt wurde. Wie muss es sich gefühlt haben?
In seinem Schmerz versteckte es sich im Wald und wartete, bis die anderen kamen. Dann bummelte es hinterher und kam äußerlich fröhlich von der Weihnachtsfeier und suchte nach einer Art Trauerbewältigung. Es getraute sich nichts zu sagen, weil es sich schuldig fühlte. Der Schmerz verletzte so sehr seine Seele. Es wünschte sich, sein letztes Schwefelholz anzuzünden, um seine Seele ein letztes Mal wärmen zu können. Im nächsten Jahr war wieder Auftritt zur Betriebsweihnachtsfeier geplant. Das Kind fragte sich, ob es mitgehen sollte oder lieber nicht. Vieles sprach dafür nicht zu gehen, aber damit käme die quälende Frage nach dem letzten Jahr wieder auf. Es stritt mit sich. Es ging. Es sprach zu sich: Das war im letzten Jahr eine Ausnahme. Das passiert heute nicht. Es ging mit den schlimmsten Erwartungen. Wieder toller Applaus. Wieder kam der Lehrer bedankte sich. Und wieder schickte er das Kind vor dem Kakao nach Hause. Alles spielte sich wie im Vorjahr ab. Nur noch viel schlimmer, obwohl das für das Kind kaum vorstellbar war.
Am Montag, 14. August 1961, war ein weiteres einschneidendes Ereignis. Zum vorerst letzten Mal konnte das Kind den Brocken besuchen. Fünfmal wurden sie bei der Besteigung mit vorgehaltenen MPi’s kontrolliert und fünfmal auf dem Nachhauseweg. Um 24.00 Uhr wurde der Brocken für 10.337 Tage 12 Stunden und 45 Minuten geschlossen. Auch das prägte.
Mensch sein, Mensch bleiben
Am Dienstag, 1. September 1964 um 7.30 Uhr, war Fahnenappell wie üblich. Jedoch ließ sich der Direktor über einen ehemaligen Schüler aus, der mit sofortiger Wirkung von der Schule, 10. Klasse, suspendiert worden war. Er habe die Staatsgrenze der DDR in Richtung Westen unerlaubt überschritten. Das Fatale an dieser Begebenheit ist, dass der Schüler zwei sogenannte „Kundschafter des Friedens“ durch das Brockenmoor in den Westen schleuste, was er aber nicht wusste. Auf dem Rückweg wurde er geschnappt. Die Folge für jenen Schüler: sechs Monate Einzelhaft im Schoße des Oheims Mielke. Er kam frei, weil er eine Verpflichtungserklärung als Stasi-Informant unterschrieb. Der nun Jugendliche hat sich beim Fahnenappell in die letzte Reihe verdrückt, weil er sich fremdschämte. Was der Jugendliche zu dem Zeitpunkt nicht wusste und nicht wissen konnte, dass er einmal als Leiter der Vorgesetzte jenes verhafteten Schülers werden sollte und in seiner Not vor und nach der geistigen Revolution von 1989 ihm zur Seite stehen konnte.
Am Montag, 25. Januar 1971, musste der Jugendliche zum Volkspolizeikreisamt (VPKA). Er wollte, dass seine Verlobte ihn im Sperrgebiet besuchen könnte. Abgelehnt: „Wer weiß, was ihre sogenannte Verlobte politisch auf dem Kerbholz hat.“ In Bruchteilen von Sekunden entschloss er sich zur Erwiderung. Es tröstete ihn, dass die Dame bei der Verteilung der Intelligenz gesagt haben müsse: „Intelligenz, wozu? Parteibuch ja!“. Er hat dabei 16 sogenannten Kommunisten gegenübergesessen. Alle schrien durcheinander. Lebenslänglich vom Studium ausgeschlossen. Dazu bedurfte es nicht einer Bedenkzeit von einer Woche. Nicht abhängig werden, nicht erpressbar werden. Mensch sein, Mensch bleiben.
In der Zeit lehrte er ehrenamtlich jungen Menschen das Reden. Das Argumentieren. Mit Erfolg, denn die Stadtbezirksleitung der SED schimpfte über ihn, also ein Lob aus berufenem Munde, weil die jungen Menschen in die Markusgemeinde liefen und nicht zu den Festivals der Partei und ihrer Jugendorganisation. Das brachte die Stasi ins Spiel. Das störte ihn erst einmal nicht.
In Stasi-Obhut
Am Mittwoch, den 28. November 1973, bekam der Jugendliche unerwartet Besuch aus Frankreich. Der Gründer der ökumenischen Communauté de Taizé, Frère Roger Schutz, ließ ihn anfragen, was er von einer Eröffnung des Konzils der Jugend Ostern 1974 hielte. In Magdeburg hatte sich eine christliche Gruppe gegründet ohne Zutun von Dritten, ohne Wissen von anderen. Er hat das bejaht und sich für das unerwartete Vertrauen bedankt.
Die Organe der DDR brachten sich immer wieder ins Spiel unter den kuriosesten Namen, unter den kuriosesten Anlässen. Dem inzwischen jungen Mann wurde ein zusätzlicher Mitarbeiter im Betrieb zugewiesen, ein sehr schreibfreudiger. Das Interesse an dessen Notizen war groß, nicht nur von Partei und Stasi, auch der junge Mann hat sich um das Dokument bemüht und es an sich gebracht. Als sie am nächsten Tag allein im Zimmer waren, hat er ihm das Notizbuch persönlich zurückgegeben mit den Worten: Das, was ich hier über mich gelesen habe, stimmt. Das habe ich gesagt. Das habe ich getan. Warum? Der junge Mann wusste, dass der IM dieses nicht berichten durfte. Er hat den Judas seine Arbeit machen lassen. Besser, die Leute kennen, die einem feindlich gesinnt sind, als ihn auffliegen zu lassen und durch einen anderen ersetzt zu bekommen.
Wieder einmal war die Stasi im Betrieb. Das bekam der junge Mann mit. Die Stasi war beim Verbindungsmann, dem Kaderleiter. Seltsam: Der Stasimann war laut PKW-Kennzeichen aus dem Bezirk Leipzig. Kaum war der aus der Tür heraus, stellte er den Kaderleiter zur Rede. Erst leugnete dieser. Als ihm das Kennzeichen genannt wurde, sagte er ihm: Sie müssen im Bezirk Leipzig jemanden kennen, der sie für die SED-Mitgliedschaft vorgeschlagen habe. Eine dümmere Aussage konnte er sich nicht vorstellen. Aus den Akten musste er später entnehmen, dass das wirklich so war. Darauf der junge Mann: „Sie kennen mich. Sie wissen ganz genau, was ich von der Partei halte. Sagen sie ihren Genossen von der Stasi einen schönen Gruß, wenn sie etwas von mir wollen, dann sollen sie mich direkt fragen und ich werde antworten.“ Und sie kamen. Und sie kamen in den Betrieb. Was dann passierte, glaubt niemand. Das gesamte Bürogebäude musste geräumt werden, damit die Stasi mit ihm allein und ungestört reden konnte.
Dann kam die Stasi mit einem Vorwurf, der ihn zum Schwitzen brachte, ein Vorfall wurde ihm zur Last gelegt, der zu einem Zeitpunkt stattfand, an dem er vier Wochen überhaupt nicht anwesend war. Aber er wusste davon. Nun musste er erst feststellen, ob die Stasi das als Falle nutzte. Seine Antworten führten den Stasioffizier dazu, dass er die Fragen in den Antworten nicht bemerkte. So konnte er die Sache auf sich nehmen. Ohne Folgen. Oder doch? Ein vielleicht einmaliger Vorgang, dem Kaderleiter wurde verboten, sich mit ihm politisch zu unterhalten. Doch alle Drohgebärden hatten Folgen, er wollte die DDR verlassen.
Am Freitag, 26. Juni 1981 führte er seine Familie zur westdeutschen Botschaft in Prag. Es war 12.45 Uhr. Seine Frau war sehr erstaunt, die bundesdeutsche Fahne zu sehen. Auf ihren Einwand: Das kannst du den anderen nicht antun, die brauchen dich! verließen sie das Gelände ohne zu klingeln und blieben im Land.
Ein vertrauter Mitarbeiter der Kirchenleitung, ein Stasi-Offizier im besonderen Einsatz (OibE), hat ihn überredet als Heimleiter nach Ilsenburg zu gehen, was er auch tat.
1986 ging es bei einem Elternabend um den Wehrkundeunterricht. Der Offizier begründete das Gute an dieser vormilitärischen Ausbildung mit den Worten, dass die Kinder flinker, zäher und hart werden sollten. Durch sein Monieren im Stil des Klassenfeindes (so die Worte eines Offiziers, dessen Kind ebenfalls diese Schule besuchte) wurde die Diskussion beendet und er durfte zum Einzelgespräch zum Veranstalter. Unter vier Augen sagte er dem Offizier: „Goebbels hat es verstanden ein ganzes Volk zu verdummen“. Und er hat sich umgedreht und ist gegangen.
Ziel ein humanes Pflegeheim
1988 legte er als Heimleiter ein Konzept für den Neubau eines Seniorendorfs, ein Alten- und Pflegeheim, vor, ein Neubau, der alle vorstellbaren Möglichkeiten überschritt. Zur Finanzierung, hat er gemeint, käme nur eine direkte Beteiligung des Westens in Frage:
„… Dazu sind vertrauensbildende Maßnahmen notwendig, die sich zuerst in der Humanpolitik beweisen müssen. Das führte und führt zur Öffnung… Neu wird sein, dass nicht über Kredite der westlichen Banken die Wirtschaft angekurbelt wird, sondern durch direkte Beteiligung westlicher Firmen an Betrieben und Gewinnen wird gesellschaftlicher Nutzen erzielt. Das hat auch Auswirkungen auf die Währung. Sie wird dann konvertierbar werden müssen und …“
Die fehlenden Worte, die durch die drei Punkte symbolisiert wurden, damit war die Öffnung der Grenzen gemeint sowie deren Folgen. Eigentlich unvorstellbar als finanzielle Konzeption für ein Seniorendorf in der DDR. Das hat der Rat des Bezirkes Magdeburg nicht sanktioniert. Den Sozialarbeiter, wie es ihn als Berufsbezeichnung und Arbeitsfeld in der Bundesrepublik gab, gab es im Osten nicht. Er wurde abschätzig als "dekadent" oder "negativ-dekadent" angesehen, ein Schimpfwort von Partei und Stasi, Aber das wurde sogleich in ein Kunstwort verkleidet: der „Anaferoniker“. Damit waren alle zufrieden.
Weil die Materialbeschaffung ein Problem darstellen sollte, hat der Heimleiter drei Waggons Steine, die für das Landesverteidigungsobjekt (LVO) Grenzsicherung gedacht waren, zum Heim umgeleitet, zum Schutze der eigenen Bevölkerung. Abladen ließ er durch Soldaten. Das fiel am wenigsten auf. Der Kommandant schuldete ihm noch einen Gefallen. Er hatte dessen Sohn durch die Prüfung gebracht.
Die Ilsenburger Kupferhütte
Donnerstag, 25. Mai 1989. Zum ersten Mal erlebt er ein sozialistisches Wunder. Ein Hektar Buchen- und Eichenwald in Ilsenburg durch argumentative Fragen gerettet . Der Vorsitzende der Kreisplankommission forderte seinen Genossen auf, ein neues Konzept vorzulegen, weil er auf die Argumente von drei Leuten keine Entgegnung mehr wusste. An diesem späten Nachmittag haben die drei sich geschworen, bis zum 31. Dezember 1990 die Schließung der Ilsenburger Kupferhütte herbeizuführen. Am Montag, 31. Juli 1989 haben sie ein Dokument aus einem Panzerschrank der Behörden für eine Nacht „ausgeliehen“, das sie schockierte.
Das Bezirkshygieneinstitut Magdeburg hatte am 8. März 1988 eine detailgetreue Auflistung der Gefahren für die Bevölkerung skizziert, in der es unter anderem hieß, dass im Umkreis von ca. fünf Kilometern um die Kupferhütte bei Werktätigen und Anwohnern „mit erhöhten Schwermetallgehalten im Blut, im Urin, in den Nieren und in den Knochen zu rechnen“ sei, „die zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen insbesondere chronischen Erkrankungen führen können“.
Das nahmen eine Ärztin in Ilsenburg, Frau Dr. Ingeborg Röthing, und der junge Mann zum Anlass, Eingaben zu schreiben. Sie wurden so formuliert, dass aus den Texten die Kenntnis der Unterlage nicht hervorging. Am 1. und 2. August wurden die Eingaben weggeschickt. Am 2. August informierte der junge Mann den Rat des Kreises über eine geplante Veranstaltung am 1. September 1989. Mit Holländern gemeinsam sollte an den Beginn des Zweiten Weltkriegs gedacht werden. Ein Jahr hat der junge DDR-Bürger an den Formulierungen gearbeitet. Theologisch exakte Kritik am System. Ein Gebet über 81 Konflikte in der Welt. Und in der DDR.
Dienstag, 12. September 1989, der Wittenberger Theologe Friedrich Schorlemmer fordert im Westfernsehen ein Wirtschaftsprogramm für die DDR.
Der junge Mann analysiert auf 42 Seiten den Wirtschaftsplan der DDR und errechnet einen Fehlbetrag von 90 Milliarden Mark der DDR, bereinigt etwa 42 Milliarden. Schwindelerregende Summen. Am Donnerstag, 21. September, übergibt er Herrn Schorlemmer die Berechnung und ein darauf aufbauendes Wirtschaftsprogramm. Eine Mitarbeit im wenig später neugegründeten „Demokratischen Aufbruch“ (DA) lehnt er vorsichtshalber ab, da er die Gründung nicht gefährden wollte, denn am 26. September war die Einladung zum Gespräch über die Kupferhütte.
Und wieder unfassbar! Die Regierung der DDR schickte eine Delegation aus Regierungsbeamten, Beamten des Rates des Bezirkes Magdeburg, Kreisbeamten sowie dem Bürgermeister und der Kombinatsleitung Mansfeld. 50 Millionen Deutsche Mark Reingewinn erwirtschafte die Kupferhütte im Jahr, so drückte sich meiner Erinnerung nach damals Generaldirektor Reichmann aus. Darauf könne die Regierung nicht verzichten. Einzig und allein zu Lasten der Gesundheit der Bevölkerung. Dem gegenüber stehen Strafzahlungen des Kombinats in Höhe von 100.00 Mark der DDR pro Jahr. Als die beiden gefragt wurden, was sie erwarteten, holte er die Abschrift aus der Tasche und sagte: „Nicht mehr und nicht weniger, als in diesem Papier steht.“
Da stellte sich heraus, dass die Regierung das Papier nicht kannte. Es gab nur drei Kopien davon. Wie die beiden zu dem Schreiben gekommen seien, wussten sie nicht mehr. Als Heimleiter hätte er sagen können: Demenz. Nun aber wurden ab 13 Uhr zehn Exemplare in allen umgebenden Kirchgemeinden ausgehängt – eine Sicherheitsmaßnahme für die beiden.
Am Donnerstag, 2. November, kam es zum öffentlichen Gespräch. An dem Tag traf auch das Ergebnis einer heimlich in den Westen geschickten Bodenprobe von Prof. Wassermann aus Kiel ein. Dioxin, PCP und Furane. Das Ergebnis durfte nicht bekannt werden, aber damit konnten sie arbeiten. Auf die Anfrage, was passiere, wenn Dioxine durch ein Labor der DDR festgestellt würden, antwortete der Vorsitzende des Rates des Kreises, dass er dann die sofortige Schließung der Kupferhütte anordne . Doch bis dahin sollte es noch dauern. Erst am 7. Februar 1990 schloss das erste Werk der DDR aus Umweltgründen durch Proteste der Bevölkerung, der Zeitpunkt, an dem Wissen zur traurigen Gewissheit wurde.
Frau Dr. Ingeborg Röthing, Ärztin und Ehrenbürgerin der Stadt Ilsenburg, Herr Dr. Karl-Otto May, Arzt in Ilsenburg, und der Heimleiter waren zunächst deprimiert, weil es die Menschen betraf, ihre Gesundheit, ihr Leben. Sie hätten sich ein anderes, schnelleres Handeln gewünscht. Auf Antrag des 40-Jährigen hat die DDR-Regierung Kinder in ein Erholungsheim geschickt. Am 07. Februar 1990 erfolgte die Schließung der Kupferhütte noch ohne Arbeitslosigkeit, denn darum haben die drei sich gekümmert und gemeinsam mit den staatlich Verantwortlichen Ersatzarbeitsplätze angeboten.
"Tag der Befreiung" für den Brocken"
Am 8. November 1989 wurde der Antrag an die Regierung der DDR gestellt, den Brocken frei zu geben. „Visum nach Hawaii, aber der Brocken nicht frei.“ Als letzter Termin für die Öffnung war der 1. Advent, der Beginn eines neuen Kirchenjahres, im Kopf vorgemerkt. Und es klappte. Am Sonntag, den 3. Dezember folgte der „Tag der Befreiung“ für den Brocken. 5.000 Menschen aus Ost und West unter seiner Leitung. Nach einem Ultimatum: „Wenn um 12.45 Uhr der Brocken nicht geöffnet ist, ist er um 12.45 Uhr offen!“ Wieder 12.45 Uhr. Kein Zufall. Erinnerung.
Im Februar 1990 kam der Vorsitzende der Nationalen Front des Kreises, er war CDU-Mitglied, und bat den jungen Mann um Verzeihung und bedankte sich für die faire Behandlung. In anderen Orten seien sie niedergemacht worden. Wenn er, der junge Mann, ihn ebenfalls niedergemacht hätte, hätte er es verstanden, denn er habe jeden Grund dazu.
3. Neue Erfahrungen
Am 14. Mai 1994 konnte der junge Mann ein außergewöhnliches Altenpflegeheim an den Vorstand übergeben, bezahlt, wie in der Konzeption geschrieben, von Deutschland. Über 1.000 Menschen waren zur Eröffnung gekommen.
Aber die Banken der Bundesrepublik hatten den ostdeutschen Architekten Kredite verweigert. Erst eine Architektengemeinschaften aus Magdeburg und Braunschweig ermöglichte den Bau nach der Konzeption von 1988. 30 Gemälde und Zeichnungen aus der Burg Giebichenstein, der Kunsthochschule Halle, schmückten das Haus, von einigen abgelehnt, von anderen bewundert, aber sehen wollte es jeder. Alle Bilder wurden gespendet. Ein Professor aus dem Altenpflegebereich West war der Meinung, dass es in ganz Deutschland höchsten zwei oder drei Heime gleicher Güte gäbe.
Dann wechselte der Heimleiter nach Thüringen. Dort stellte er in der Nacht vom 30. zum 31. Oktober 2005 vor den Kirchen selbstformulierte Plakate mit „9,5 Thesen zur Gerechtigkeit“ auf. Das Thema: Hartz IV, Gerechtigkeit und Solidarität ist wie Intelligenz, Überzeugtheit und Ehrlichkeit eines Genossen nicht in Einklang zu bringen. Wörtlich hieß es unter anderen: „Gerechtigkeit werdet ihr erfahren, wenn ihr nicht zulasst, dass Bürokratien sich zuerst selbst versorgen…“.
Nach einer Veranstaltung in Saalfeld mit mehr als 1.000 Teilnehmern und Teilnehmerinnen gemeinsam mit dem Linken-Politiker Bodo Ramelow und einer Rede mit christlichen Aspekten und politisch-philosophischen Aussagen von Hannah Arendt wurde ihm als leitenden Angestellten gekündigt. Denn Bodo Ramelow war nicht CDU.
Das ihm Wichtigste drückte er in drei Plakaten aus: Armut trägt Namen. Armut trägt Schuhe. Armut trägt ein Gesicht. Er engagierte sich dann ehrenamtlich für die Rechte von Arbeitslosen und Geflüchteten. Zur Corona-Krise stellte er am Montag, den 13. April 2020, 18 Fragen an alle Bundesministerien. Es gibt zur DDR einen großen Unterschied. Die DDR antwortete, die Bundesministerien bis heute nicht. Noch nicht einmal eine Eingangsbestätigung.
Über vier Jahre musste er auf eine Antwort auf eine Petition zur Gleichbehandlung von Ost- und Westdeutschen warten. CDU und SPD lehnen diese ab. Das interessiere im Westen niemanden, wurde ihm von einer sozialdemokratischen Spitzenpolitikerin bedeutet.
Wenn ich in die Zukunft schaue, sehe ich grundlegende Veränderungen, die für den inneren Frieden notwendig sind.
Deutschland braucht ein neues und zeitgemäßes Wahlgesetz, damit die Kosten nicht ausufern. Dazu hätte ich einen Vorschlag. Das Parlament sollte nur noch über höchstens 510 Abgeordnete verfügen. Es wäre ein gutes solidarisches Zeichen des Parlaments an sein Volk.
Ebenso sollten aus der Kleinstaaterei in Deutschland fünf in etwa gleichgroße Länder entstehen nach Artikel 29 GG, die zwischen 15 Millionen und 18 Millionen (bisher: 672.000 – 18 Millionen) Einwohner zählen. Das würden in etwa gleichstarke Länder mit vergleichbarem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 38.235 €/EW – 43.913 €/EW (bisher 27.904 €/EW – 65.604 €/EW). Dann würden die Kosten von elf Parlamenten eingespart.
Um dieses Ziel durchsetzen zu können, sollte der Bund die Kommunalschulden der Länder übernehmen, die sich zur Strukturänderung bekennen, damit die Kommunen wieder arbeitsfähig werden. So käme die Bundesrepublik den gleichwertigen Lebensverhältnissen, die das Grundgesetz vorsieht, zumindest ein Stück näher.
4. Ethische Zukunftsfragen klären
Gesellschaftliche Änderungen sind mehr als nötig. Im Streit der Lobbyisten gingen und gehen die Leidtragenden der Entwicklung unter. An den Schicksalen vieler Familien von Arbeitnehmern war und ist die Politik nur scheinbar interessiert, denn ansonsten könnte das Armutsrisiko nicht von der Anzahl der Kinder in einer Familie bestimmt werden und somit der demografische Faktor. Die Politik und die ihr innewohnenden Scheingefechte der parlamentarischen Parteiendemokratie scheinen nicht geeignet für eine umfassende Strukturreform der gesellschaftlichen Prozesse.
Aus meiner Sicht ist Arbeitslosigkeit das Ergebnis aller durch die Parlamente getroffenen Fehlentscheidungen in der Innenpolitik. Arbeitslosigkeit ist ein Makel der Gesellschaft und nicht des Betroffenen. Der Einzelne (Betroffene) ist nur das Symptom des Missmanagements der Gesellschaft, die durch ihr Parlament repräsentiert wird. Die Arbeitslosigkeit ist eine tiefe Verletzung der Würde des Menschen durch Personen der Politik und der Wirtschaft und führt zur Stigmatisierung und Diskriminierung des Einzelnen und seiner Familie. Solange Ursachen von Arbeitslosigkeit subventioniert werden, solange wird es eine hohe Arbeitslosigkeit geben.
Bildung und Wissenschaft sind das Brot der Vernunftbegabten. Kultur und Sport sind der Wein und Kunst und soziale Kompetenz sind das Kleid der Vernunftbegabten. Damit der Mensch nicht mehr Opfer des Menschen werde! Diese Maxime müsste zur Staatsmaxime werden.
Das Demokratieverständnis ist in meinen Augen verlorengegangen. Demokratie lebt vom Reden und nicht von Sprachlosigkeit. Der US-Theologe und Autor Theodor Parker sagte einmal: „Demokratie heißt nicht: Ich bin so gut wie du. Demokratie heißt: Du bist so gut wie ich.“
Demokratie lebt vom Wort, vom gesprochenen Wort. Demokratie lebt vom Wechsel, lebt vom Wortwechsel, von der Einheit zwischen gesprochenem Wort und Handeln, vom Streit der Worte und Wettstreit der Worte und vom Kompromiss im Handeln. Demokratie braucht das „Du“. Demokratie braucht das „Ich“. Demokratie braucht das „Wir“, die Gemeinschaft, die Ideen, das Tun, die Zeit, von uns, mit uns, für uns. Und dieser Grundsatz ist in Gefahr. Seit der Deutschen Einheit wird Politik nicht mehr r i c h t i g erklärt. Ob das die Klientelpolitik unter dem früheren Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) betraf, die „Bastapolitik“ unter seinem Nachfolger Gerhard Schröder (SPD) oder die Direktivenpolitik unter Angela Merkel (CDU), so haben die Politikstile eines gemein: unzureichend erklärt, entmündigen sie den Verstand und wirken so, als gehe es primär um Machterhalt.
5. Zurück bleiben gemischte Gefühle
Wenn ich an den 3. Oktober 1990, den Tag der Deutschen Einheit, denke, habe ich gemischte Gefühle. Einerseits werde ich an den Stasi-Befehl 10/61 erinnert, der „… die Faschisten und feindlich gesinnten Elemente im Sperrgebiet...“ am 3. Oktober 1961 auszuweisen zum Inhalt hatte. Andererseits das unvergessliche Erlebnis der Einheit Deutschlands in seiner Freiheit, in seiner Rechtsstaatlichkeit, so dass der inzwischen erwachsen Gewordene wieder so weinen konnte, wie er es als kleines Kind dreißig Jahre zuvor verloren hatte: vor Freude!
Eigentlich wollte ich über die vier Pentagone der Gesellschaft referieren, die da wären: Das Pentagon des Friedens mit den weiteren Elementen Freiheit, Demokratie, Gleichberechtigung und Solidarität (der (männliche) Frieden wird von vier (weiblichen) Säulen gehalten), das Pentagon der Mitmenschlichkeit: Ethik, Liebe, miteinander teilen, Wortfindung, miteinander streiten, das Pentagon der Gewaltenteilung: Legislative, Exekutive, Judikative, freie und unabhängige Presse, freie und unabhängige Lehre, Wissenschaft und Forschung und das Pentagon der Verfassungsorgane. Eigentlich wollte ich die Gegenwart beschreiben, die deutsche und europäische Gegenwart. Eigentlich wollte ich Anregungen für die Zukunft, für die Zukunft unserer Nachkommen geben. Oder habe ich doch darüber gesprochen?
Die Eisheiligen. 2020.
Zitierweise: Ortwin Ringleb, „Mensch sein, Mensch bleiben“, in: Deutschland Archiv, 26.06.2020, Link: www.bpb.de/312000. Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden in den nächsten Monaten folgen. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
In dieser Reihe bereits erschienen:
- Sabine Bergmann-Pohl,
- Rüdiger Fikentscher,
- Hinrich Kuessner
- Klaus Steinitz,
- Richard Schröder -
- Maria Michalk,
- Markus Meckel,
- Hans-Peter Häfner,
- Konrad Felber,
- Walter Fiedler,
- Hans Modrow,
- Joachim Steinmann, "
- Christa Luft,
- Dietmar Keller, "
- Rainer Jork,
- Jörg Brochnow,
- Gunter Weißgerber, "
- Hans-Joachim Hacker,
- Marianne Birthler -
- Stephan Hilsberg -
- Ortwin Ringleb -
- Martin Gutzeit,
- Reiner Schneider -
- Jürgen Leskien -
- Volker Schemmel -
- Stefan Körber - "
- Jens Reich - Revolution ohne souveränes historisches Subjekt (folgt)
- Steffen Reiche - "Rückblick und Ausblick" (folgt)
- Carmen Niebergall - "Eine persönliche Bilanz" (folgt)
- Susanne Kschenka - "Und weiter?" (folgt)
- Wolfgang Thierse - "30 Jahre später - Trotz alldem im Zeitplan" (folgt)
- u.a.m.
- Die
- Die
- Film-Dokumentation