Die Ökonomie-Professorin Christa Luft war 1989/90 Wirtschaftsministerin der DDR in der Regierung unter Ministerpräsident Hans Modrow und vertrat die PDS in der letzten Volkskammer der DDR, wo sie den Haushaltsausschuss leitete. In ihrer „ungehaltenen Rede“ für das Deutschland Archiv plädiert sie für eine „unvoreingenommene Aufarbeitung“ des aus ihrer Sicht „dunklen Kapitels“ der Nachwendezeit und wirbt für eine stärker „gemeinwohlorientierte Ökonomie“.
Erinnern wir uns kurz: Im Herbst 1989 geschah auf deutschem Boden etwas, womit selbst die kühnsten Optimisten nicht gerechnet hatten: Der Eiserne Vorhang ging hoch, ein weltgeschichtliches Ereignis nahm einen friedlichen Verlauf. Binnen Jahresfrist verschwand die implodierende DDR als selbständiger Staat von der Landkarte, ihre Bewohner fanden sich ab 3. Oktober 1990 in einem dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beigetretenen Gebiet wieder. Über Nacht änderte sich für sie alles. Ein Gefühl von Entmündigung und Belehrung griff um sich. Im Westteil hingegen blieb nahezu alles beim Alten, so als sei es für die Ewigkeit gemacht. Wer von dort in den 1990er Jahren gen Osten aufbrach, lebte weiter mit den ihm vertrauten Gesetzen, Behörden, Schulsystemen, Netzwerken usw. und musste sich auch nie für seine Vergangenheit rechtfertigen.
Ausgelöst war die Rasanz des Geschehens nach dem Mauerfall durch die Ankündigung von Bundeskanzler Kohl Anfang Februar 1990, der DDR zeitnah die D-Mark als offizielles Zahlungsmittel zu übertragen. So wollte er die anhaltende Übersiedlung ostdeutscher Frauen und Männer in die Bundesrepublik stoppen. Kohl kämpfte damals um sein politisches Überleben. Den Ostdeutschen versprach er „blühende Landschaften“. Viele waren von dem irrigen Glauben betäubt, nach bereits errungener Rede- und Reisefreiheit würde das am DDR-Alltag Geschätzte erhalten bleiben, nur die begehrte harte Währung käme dazu. Doch aus der Geschichte ist bekannt: „Wer das Geld gibt, hat das Sagen“.
Angesichts dieser Entwicklung war einer eigenständigen Reformierung der DDR-Wirtschaft und Gesellschaft, wie sie die seit dem 17. November 1989 amtierende Modrow-Regierung in Angriff genommen hatte und wie sie auch die oppositionellen Parteien und Organisationen am Zentralen Runden Tisch anstrebten, schlagartig der Boden entzogen. Rückenwind gab die genüsslich kolportierte Warnung in einer Geheimanalyse für das Politbüro der SED von Ende Oktober 1989, die DDR stehe stehe kurz vor der Zahlungsunfähigkeit. Die alsbaldige Versachlichung dieser Panikmeldung verhallte. Eine demokratisch reformierte und wirtschaftlich, vor allem industriell modernisierte DDR hätte zweifelsfrei ein stärkeres Gewicht in den Prozess eines künftigen Zusammenwachsens beider deutscher Staaten einbringen können, kam aber nicht mehr zustande. Bei einer Beteiligung von gut 93 Prozent entschied sich die Hälfte der Wahlberechtigten am 18. März 1990 bei einer freien Volkskammerwahl für die von der Ost-CDU geführte Allianz für Deutschland. Die strebte die schnelle staatliche Einheit an, und die ins Amt gekommene de-Maizière-Regierung begann sofort mit kräftiger Hilfe Bonner Beamter entsprechende Weichen zu stellen.
Stufenprogramm ohne Chance
Die Chance, mit einem Stufenprogramm, also im Tempo angemessenem Kurs auf die deutsch-deutsche Vereinigung etwas entstehen zu lassen, das mit Fehlern und Mängeln im Osten Schluss macht, aber gleichzeitig auch Unzulänglichkeiten sowie Veraltetes im Westen überwindet und Fortschrittspotenziale beider Seiten ausbaut, blieb ungenutzt. Bewahrenswertes, Zukunftsfähiges gab es nicht nur westlich, sondern auch östlich der Elbe.
Bewährt hatten sich in der DDR das öffentliche, nicht gewinnorientierte Gesundheitswesen und Genossenschaften in Landwirtschaft und Handwerk, Grund und Boden waren kein Spekulationsobjekt, gebrochen war das Bildungsprivileg, um nur einiges zu nennen. Der Westen bot viel Modernes, aber auch Überkommenes. Ein Beispiel für Letzteres war das Bildungswesen, es blieb jedoch resistent gegenüber Vorzügen, die andere Länder - abseits ideologischer Überfrachtung - an der Bildung im kleineren deutschen Staat studierten und zum Teil übernahmen.
In einer Tagungspause der Volkskammer kam einmal im Foyer ein älterer Herr auf mich zu, stellte sich als Abteilungsleiter im Bonner Bildungsministerium vor. Er sei zur Beratung der SPD-Fraktion delegiert und habe kürzlich an einer Studie zur Analyse des DDR-Bildungssystems mitgewirkt, erzählte er. Und wörtlich: Was glauben Sie wohl, wo diese Studie geblieben ist? Seine Antwort auf mein Schulterzucken: „Im Panzerschrank. Da war der Obrigkeit zu viel Positives, Brauchbares benannt. Heute kann ich Ihnen das offen sagen, ich stehe kurz vor der Pensionierung.“
Das war kein Einzelerlebnis, es war symptomatisch für die damalige Zeit. Gerätemedizinisch zum Beispiel war die Bundesrepublik der DDR weit voraus, auch in der Bereitstellung mancher Hilfsmittel und Medikamente. Aber das Wort „Gesundheit“ mit seinen vielen Facetten taucht im Grundgesetz gar nicht auf. In den Osten entsandte westdeutsche Gesundheitsexperten erkannten - abgesehen von Defiziten - sehr wohl auch die positiven Seiten. Ihnen wurde aber gesagt, sie seien nicht dorthin geschickt worden, um den Erhalt der einen oder anderen DDR-Struktur zu empfehlen, sondern die reibungslose Ausweitung der westdeutschen Krankenversicherung zu organisieren.
Auf bundesdeutscher Seite fehlte jede Bereitschaft, Änderungen überhaupt in Erwägung zu ziehen. Wolfgang Schäuble, von der Bundesregierung beauftragt, die Vereinigungsverhandlungen mit der DDR-Seite zu führen, ließ seine Ost-Berliner Gesprächspartner darüber nicht im Unklaren. Seine Position war: „Liebe Leute, es handelt sich um einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, nicht um die umgekehrte Veranstaltung. ... Hier findet nicht die Vereinigung zweier gleicher Staaten statt. Wir fangen nicht ganz von vorn bei gleichberechtigten Ausgangspositionen an. Es gibt das Grundgesetz, und es gibt die Bundesrepublik Deutschland. Lasst uns von der Voraussetzung ausgehen, dass ihr vierzig Jahre davon ausgeschlossen wart.“
Und die Verhandlungsführer aus der Noch-DDR, allen voran Günther Krause von der Ost-CDU, Parlamentarischer Staatssekretär in der Regierung Lothar de Maizières, übten sich in vorauseilendem Gehorsam und beriefen sich ständig auf das Wahlergebnis vom März, das doch für sich gesprochen habe. Für den umtriebigen vormaligen Bad Doberaner Ost-CDU-Vorsitzenden zahlte sich das dann mit einem Ministeramt in der Bundesregierung aus.
Die Mehrheitsfraktionen in der Volkskammer vollstreckten den politischen Willen der Mächtigen in der Bundesrepublik. Neoliberaler Ideologie folgend sollte es der Markt richten, als sei der unfehlbar. Von der Opposition angemahnte staatliche Interventionen galten als Diktaturrelikte, gesellschaftliche Alternativen überhaupt als unzumutbar. Das betraf zuoberst die Wirtschaftsordnung im Osten. Sie wurde im Eiltempo nach bundesdeutschem Vorbild umgestaltet.
Das Treuhand-Trauma
Die vorgefundene Treuhand des Modrow-Kabinetts, die das Volkseigentum in den Schlüsselbereichen und der öffentlichen Daseinsvorsorge im Interesse der Allgemeinheit bewahren und reformieren sollte, wurde sofort in eine Agentur zu dessen rascher und kompletter Privatisierung umfunktioniert. Prominente Ökonomen hatten davor gewarnt und für eine moderate Gangart plädiert. So auch der frühere Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller. Der hatte die Modrow-Regierung Ende Januar 1990 gemeinsam mit Henning Voscherau, dem Ersten Bürgermeister der Hansestadt Hamburg, besucht und uns anschließend geschrieben: „Die beiden deutschen Staaten können sich vereinigen, ohne dass von der einen Seite erwartet wird, erst alles zu privatisieren…Man kann das über Zeiten strecken. Natürlich müssen sich die ostdeutschen Unternehmen im Wettbewerb bewähren können.“
Die Übertragung der D-Mark auf Ostdeutschland, also die Währungsunion, und die schnelle Privatisierung des Volkseigentums galten aber für die Bundesregierung als unverhandelbares Junktim. Das hatte Bundesfinanzminister Theo Waigel bei einer Zusammenkunft der Ausschüsse „Deutsche Einheit“ der Volkskammer und des Bundestages im Mai 1990 in Bonn noch einmal unmissverständlich erklärt. Selbst der Freiraum, den die Väter und Mütter des Grundgesetzes in Bezug auf die Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik gelassen hatten, wurde nicht genutzt. Diese kennt und schützt Gemeineigentum und hätte problemlos auch als Dach für das Volkseigentum dienen können, um ohne Hektik dessen notwendige Reformierung vorzubereiten und eine Hals über Kopf-Privatisierung zu verhindern.
Aber im Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Mai 1990 war die Offenheit für pluralistische Eigentumsstrukturen quasi durch die Hintertür als Relikt der Vergangenheit entsorgt worden. Dekretiert wurde, auch im Beitrittsgebiet eine von „Privateigentum, Leistungswettbewerb, freier Preisbildung und grundsätzlich voller Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen“ bestimmte Ordnung einzuführen. Diesem Duktus entsprach das am 17. Juni 1990 von der Volkskammer nach kontroverser Debatte in den zuständigen Ausschüssen und im Plenum beschlossene Treuhandgesetz. Nach Bonner Vorgaben bestimmte es die unverzügliche rasche und komplette Privatisierung des Volksvermögens zum Kern marktwirtschaftlicher Transformation.
CDU-Ministerpräsident de Maizière räumte bei einer Befragung im federführenden Wirtschaftsausschuss offen ein, dass von der Opposition geforderte Ergänzungen des Gesetzentwurfs, zum Beispiel Belegschaften durch Übertragung von Betriebsteilen an der Entstaatlichung des Volkseigentums zu beteiligen, den volkseigenen Grund und Boden von der Privatisierung auszunehmen, Kommunen volkseigene Vermögenswerte zu übereignen usw. in Bonn keine Chance hätten. Die Privatisierungsagentur nahm am 1. Juli 1990 parallel mit dem Start der Währungsunion ihre Arbeit auf. Der einsetzende Crashkurs stieß selbst bei namhaften westdeutschen Ökonomen und Vertretern der Wirtschaft auf Skepsis und Kritik. Es war damals aber einzig die Zeit der Politiker.
Fällt das Stichwort „Interner Link: Treuhand“, kommen viele Ostdeutsche bis heute sofort in Wallung. Mit dieser Institution verbinden sie eine massenhafte Abwicklung und Verschleuderung von DDR-Industrie-, Transport- und Bauunternehmen zumeist an westdeutsche „Investoren“, millionenfachen Arbeitsplatzverlust mit gravierenden biographischen Einschnitten für die Betroffenen, das Entstehen einer kleinteiligen Wirtschaft, eine Marktumverteilung und Vermögensverschiebung zugunsten des Westens usw..
Für mich steht sie zusammengefasst für die größte Vernichtung von Produktivvermögen in Friedenszeiten, und das unter den Augen der Bundesregierung und mit deren Duldung. Was nach dem Zweiten Weltkrieg in Jahrzehnten unter schwierigen inneren und äußeren Bedingungen in der DDR aufgebaut wurde, innerhalb von vier Jahren platt zu machen, ist eine „Leistung“, die ihresgleichen sucht, spricht aus meiner Sicht von Arroganz der Macht und Siegermentalität.
Solches Tempo konnte nicht einmal die britische Privatisierungsaktivistin Margaret Thatcher vorweisen. Der Wirtschaftskörper Ostdeutschlands wurde nicht seinen Stärken entsprechend sinnvoll in einen gesamtdeutschen ökonomischen Organismus integriert, sondern zum Auffüllen von Nischen und zum Aufstocken von Kapazitäten etablierter Unternehmen zurechtgestutzt. „Verdiente und verantwortungsbewusste Mitarbeiter in volkseigenen Betrieben wurden auf einmal zu Umschülern, zu Erstklässlern“, so die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) in ihrem 2018 erschienenen Buch „Integriert doch erst mal uns“. Die Folgen sind auch nach dreißig Jahren noch spürbar und zum Teil irreparabel. Die Deindustrialisierung des Ostens verlieh der Westwirtschaft per Konsumnachfrage der Neubundesbürger einen massiven Schub. Der umfangreiche Vermögenstransfer von Ost nach West ist bis heute offiziell nicht beziffert, brachte dort aber in kürzester Zeit zig Tausend neue Millionäre hervor. Der in der Tat respektable Finanztransfer von West nach Ost hingegen wird ständig benannt.
Ausgeschlagene Wege, Volkseigentum zu entstaatlichen
Nach dem Vorbild der aus dem Kombinat Carl-Zeiss-Jena hervorgegangenen und noch viele Jahre zu 100 Prozent im Eigentum des Freistaates Thüringen gehaltenen Jenoptik GmbH hätten einige andere traditionelle, zumeist eine ganze Region prägende und begehrte Erzeugnisse anbietende Großunternehmen ebenfalls befristet im Bundes- oder Landeseigentum fortgeführt werden können (zum Beispiel Umformtechnik Erfurt, Chemieanlagenbau Grimma, TAKRAF Leipzig). Seit 1998 ist die Jenoptik als Aktiengesellschaft an der Frankfurter Börse gelistet, anno 2002 entfielen immer noch 18,92 Prozent der Anteilscheine auf den Freistaat. Das hat die Landesregierung stärker zur Rück- und Neugewinnung von Märkten im In- und Ausland in die Pflicht genommen und Arbeitsplätze erhalten. Die Jenoptik hat die marktwirtschaftliche Umstrukturierung und Neuorientierung nicht ohne Aderlass, insgesamt aber besser überstanden als andere Großunternehmen. Sie ist heute ein global agierender Technologiekonzern.
Möglich und sinnvoll wären Minderheitsbeteiligungen privater Investoren an den Geschäftsanteilen der Treuhandanstalt gewesen, auch die Verpachtung von Gemeineigentum an Existenzgründer, Mitarbeiterkapitalbeteiligung zu Vorzugskonditionen und die Vergenossenschaftlichung von Betrieben oder von Betriebsteilen. Vorschläge dieser Art wurden aus der Opposition im Parlament, auch aus ostdeutschen Wirtschaftskreisen mit Nachdruck vorgetragen, aber von den Bonn-hörigen Mehrheitsfraktionen zurückgewiesen.
Eine Option war die zeitweilige Fortsetzung von Kopplungsgeschäften mit Russland, also die Lieferung von in Sachsen und Sachsen-Anhalt produzierten Ausrüstungen für die Öl- und Gasförderung gegen in Deutschland bzw. Europa zu vermarktendes Erdöl. Solche devisenlosen „Tauschgeschäfte“ waren und sind selbst in westdeutschen Konzernen übliche Praxis. Wer wie auch ich so etwas vorschlug, galt in den von Bonn gesteuerten Fraktionen als unfähig, das Wesen der Marktwirtschaft zu begreifen.
Verantwortung der Bundesregierung
Die Treuhand hat ihren Hauptauftrag, „die Wettbewerbsfähigkeit möglichst vieler Unternehmen herzustellen und Arbeitsplätze zu sichern“, nicht erfüllt. Auch duldete sie Subventionsbetrug und andere kriminelle Machenschaften. Nicht vergessen werden darf aber, dass sie im Auftrage der Bundesregierung und unter deren Augen agierte. Diese verantwortete den Währungskurs zwischen Mark der DDR und der D-Mark, der vorhersehbar zu einem bedrohlichen, vielfach tödlichen Aufwertungsschock für Ost-Unternehmen führte, ebenso war sie zuständig für die Unterstellung der Treuhand unter das Finanzministerium anstatt unter das für Strukturpolitik zuständige Wirtschaftsressort.
Auf das Konto der Bundesregierung ging auch die Altschuldenregelung, die die zu privatisierenden Ost-Betriebe mit Schulden belastete, die eigentlich welche des Staates waren, an den sie nach geltenden Regeln ihre geplanten Gewinne abzuführen hatten. Auch erhöhte die Regierung den Druck aufs Privatisierungstempo mit Bonuszahlungen an die Manager für schleunigen „Verkauf“, und – ein Skandal erster Güte – sie stellte die Treuhandmanager haftungsfrei vom Straftatbestand der „groben Fahrlässigkeit“. Die in Teilen schwächere ostdeutsche Wirtschaft wurde schutzlos der westdeutschen Konkurrenz ausgeliefert, dem Kapital freie Hand gelassen, nach wachstumsunabhängigen Quellen zu suchen, um seinen Profithunger zu stillen. Dafür stehen auch die Privatisierung der einst volkseigenen schuldenfreien Acker- und Waldflächen und die zunehmende Kommerzialisierung von Bereichen der Daseinsvorsorge, darunter des Gesundheitswesens.
Wie marode war die Ostökonomie wirklich?
Bis heute halten sich hartnäckig Legenden über die Ostökonomie. So heißt es: Die Wirtschaft der DDR war marode, kaum etwas erhaltenswert. Gilt als einziger Maßstab die Wettbewerbsfähigkeit des damals höchst entwickelten europäischen Landes, der Bundesrepublik, dann stimmt das für etliche Bereiche. Bezieht man andere westeuropäische Marktwirtschaften oder osteuropäische Planwirtschaften ein, sieht es anders aus. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Einwohner verzeichnete die DDR 1988 ein Produktivitätsniveau von etwas mehr als der Hälfte dessen der Bundesrepublik, aber zum Beispiel 80 Prozent des britischen. Demgegenüber lag es weit über dem Spaniens, Portugals oder Griechenlands. Unter den osteuropäischen Ländern bildete die DDR die Spitze. Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn haben die etwa gleichzeitige Transformation in die Marktwirtschaft auch nicht ohne Blessuren, aber mit geringerem Absturz der Produktion überstanden als Ostdeutschland. Dort wurde die Umwandlung stufenweise vollzogen und nicht schockartig. Die industrielle Produktion brach um etwa 30 Prozent ein, in Ostdeutschland aber um 53 Prozent gegenüber dem Zeitraum vor 1990.
Oder es wird behauptet: Die Auslandsmärkte der DDR seien nach 1990 zusammengebrochen. Statistisch nachweisbar ist aber, dass die beträchtlichen Marktanteile der DDR-Kombinate vor allem in der Sowjetunion und in osteuropäischen Ländern flugs von westdeutschen Konzernen übernommen wurden. Diese konnten anders als die unter dem D-Mark-Aufwertungsschock und dem Treuhandknebel leidenden Ostbetriebe Kredite an die Abnehmer vergeben für deren nun in konvertierbarer Währung zu begleichenden Importe. Den Ostunternehmen war das versagt.
Und noch eine These: Die Löhne müssen im Osten geringer sein als die im Westen, weil Löhne der Produktivität folgen, und die ist östlich der Elbe eben niedriger. Die aber ist niedriger, weil die Treuhand eine kleinteilige Wirtschaft hinterlassen hat, in der das Lohngefüge üblicherweise nicht mit dem in Großbetrieben mithalten kann. Solche und andere Legenden gehören endlich ausgeräumt.
Zukunftsaufgaben
Ein Schlussstrich darf auch nach über 30 Jahren unter ein dunkles Kapitel in der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte nicht gezogen werden. Eine unvoreingenommene Aufarbeitung der Nachwendezeit steht noch aus. Dass Private, insbesondere Konzerne, wenn sich die Chance ergibt zugreifen, das eigene Potenzial zu erweitern, ja nahezu geschenkt zu bekommen, ist sonnenklar. Eine Regierung aber hat das Gemeinwohl im Auge zu haben, hat sozial- und gesellschaftspolitische Verwerfungen zu verhindern, mindestens zu begrenzen. Die Bundesregierung aber hat die Treuhand gewähren lassen bei ihrer Privatisierungs-, Kahlschlags- und Stilllegungsagenda und damit westdeutschen Kapitalinteressen das Primat eingeräumt. So sehe ich das.
Einzufordern ist nach wie vor Unabgegoltenes aus dem Treuhandgesetz, darunter: die Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft und die -– wenn auch vage – Inaussichtstellung, nach Strukturanpassung der ostdeutschen Wirtschaft die Möglichkeit des Ausgleichs von finanziellen Verlusten der Ostdeutschen beim Umtausch der DDR-Mark-Sparbestände in D-Mark zu prüfen. Angesiedelt werden müssen endlich in Ostdeutschland Unternehmenszentralen. Die Bundesregierung könnte zum Beispiel aus ihrem Bestand an Unternehmensbeteiligungen (anno 2020 immerhin 109 Organisationen, darunter Konzerne) die börsennotierten Unternehmen Deutsche Telekom und Deutsche Post nach Ostdeutschland holen.
Mit finanzieller Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat die Berliner Firma „Rohnstock-Biografien“ eine Ausstellung mit dem Titel „Schicksal Treuhand – Treuhand-Schicksale“ kuratiert, die seit einem Jahr in ostdeutschen und beginnend auch in westdeutschen Städten (u.a. Heidelberg, Braunschweig, Fürstenfeldbruck und Erlangen) gezeigt wurde und wird. Der rege Besuch zeugt davon, dass das die meisten Ostdeutschen anhaltend bewegende Treuhandagieren nun auch in Westdeutschland wachsendes Interesse weckt und dort zum Teil auf Kopfschütteln bis Entsetzen stößt.
In der Tat weist das Geschehen in Ostdeutschland Züge auf, die aus meiner Sicht denen einer Kolonialisierung gleichen. „Wenn nur 1,7 Prozent von Ostlern in Führungspositionen sind, wenn ich frage, wem gehören die Immobilien, die Betriebe, das Land, wo befinden sich die Zentralen, in die der Gewinn fließt, dann muss man auch einen Begriff dafür finden“, argumentiert der Schriftsteller Ingo Schulze. Als Zeugin damaliger Ereignisse habe ich diesen Terminus immer vermieden, denn anders als einst die Bewohner afrikanischer oder asiatischer Kolonien haben die Ostdeutschen mehrheitlich per Stimmzettel die später beklagte Entwicklung herbeigeführt. Daniela Dahn nennt das zutreffender „eine feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen“. Und anders als in den originären Kolonien haben sich in Ostdeutschland trotz offensichtlicher Probleme auch manche Hoffnungen und Erwartungen erfüllt.
Corona-Krise im Spiegel des Vereinigungsgeschehens
Es mag eigenartig klingen, aber aus dem Verlauf der Vereinigung beider deutscher Staaten können und sollten Folgerungen für den Umgang mit dem Corona-Geschehen gezogen werden. Vergleichbar sind der tiefe Produktionseinbruch, die millionenfache Arbeitslosigkeit, die Verunsicherung vieler noch Beschäftigter, die physische und psychische Belastung von Familien usw. Die größten Vereinigungsschmerzen wurden nach 1990 im Osten mit Finanztransfers gelindert, die Corona-Folgen in ganz Deutschland heute mit milliardenschweren Konjunkturpaketen.
Die staatliche Vereinigung endete aber damit, dass das Gewesene des Westens im Osten als das Neue implantiert wurde. Die jetzt von Ost und West gemeinsam zu durchlebende Pandemie darf nicht enden nach dem Motto: Wiederherstellung von Normalität, also des Gewesenen, selbst mit größtem finanziellen Aufwand. Es müssen auch Lehren gezogen werden, die über das Gewesene hinausreichen:
1. Die Pandemie hat deutlich gemacht, dass die gefährlichsten Bedrohungen für die Menschheit nicht allein militärischer, sondern auch sozialer und ökologischer Natur sind.
Statt expansiver Aufstockung von Rüstungsausgaben in EU und NATO ist der Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge prioritär. Frühzeitige politische Warnungen aus Oppositionskreisen in der Volkskammer zum Beispiel vor Kommerzialisierung des Gesundheitswesens oder der Privatisierung von Grund und Boden wurden stets als kommunistische Ideologie abgetan. Es hat einer Pandemie bedurft, um zu demonstrieren, wie wichtig zum Beispiel ein zur öffentlichen Infrastruktur der Gesellschaft gehörender, nicht profitorientierter Gesundheitsdienst mit vorausschauender Planung und Bestandshaltung ist gegenüber einer vorrangig auf Rendite zielenden Gesundheitswirtschaft. Auch darüber nachzudenken, wie strategische Unternehmen mit marktbeherrschender Position, so die Energie- und Wasserversorgung, auf Basis des Grundgesetzes schrittweise in die öffentliche Hand gebracht werden können, wird wieder aktuell.
2. Die Pandemie zeigt die Verwundbarkeit einer globalisierten Wirtschaft und die Notwendigkeit, die Versorgung mit Grundgütern so weit wie möglich regional zu sichern. Regionalisierung von Produktion, Weiterverarbeitung, Vermarktung und Konsum ist ohnehin ein Gebot, um Transportwege zu reduzieren, die Umwelt zu schonen sowie kulturellen und ökologischen Aspekten des Landschaftsschutzes besser gerecht zu werden.
Was es bedeutet, wenn Lieferketten selbst für lebensnotwendige Dinge wie Antibiotika und andere Medikamente zerreißen, die wegen Kostenersparnis nach China oder Indien ausgelagert wurden, haben wir gerade erlebt. Das neue Virus widerlegt schlagartig die Legende von der nur wohlstandssteigernden Globalisierung. Globale Märkte brauchen Sicherungsnetze. Das Festhalten an der bisherigen Wirtschaftsweise bedeutet Explosion der Lebensrisiken der eigenen wie der Weltbevölkerung.
3. Eine überfällige Antwort auf die aktuelle Krise ist, dass der Marktradikalismus gescheitert ist. Für eine sichere Zukunft gehören Sozialstaat und Demokratie gestärkt, wirtschaftspolitische Interventionen intensiviert, extremer Reichtum umverteilt und globale Handelsbeziehungen reguliert. Die Selbstheilungskräfte des Marktes haben offensichtlich versagt. Der britische Journalist und Buchautor Paul Mason schrieb kürzlich: „Wir haben vierzig Jahre lang so getan, als sei der Markt eine unfehlbare Maschine, intelligenter als ein Mensch es je sein kann, ausgestattet mit dem Recht, gegen menschliche Entscheidungen über unsere sozialen Prioritäten sein Veto einzulegen. Doch 2008 [gemeint ist die globale Finanzkrise, C.L.] erlitt diese Maschine einen Totalschaden.“
Statt prioritärer Kapitallogik eine zuvorderst gemeinwohlorientierte Ökonomie ins Zentrum demokratisch-politischer Tätigkeit zu stellen, ist aus meiner Sicht im Prozess deutsch-deutscher Vereinigung nicht gelungen. Es bleibt nach den Pandemieerfahrungen eine herausfordernde Aufgabe.
Zitierweise: Christa Luft, „Das Alte des Westens wurde das Neue im Osten“, in: Deutschland Archiv, 23.06.2020, Link: www.bpb.de/311489. Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden nach und nach folgen. Eine öffentliche Diskussion darüber ist im Lauf des Jahres 2021 geplant. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Prof. Dr. Christa Luft war stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates und Wirtschaftsministerin der DDR in der Regierung von Hans Modrow (PDS) 1989/90. In der DDR hatte sie sich auf Außenhandel spezialisiert und war ab 1988 Rektorin der Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner“ (HfÖ) in Berlin-Karlshorst. In der letzten DDR-Volkskammer war sie Vorsitzende des Haushaltsausschuss und von 1994 bis 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages für die PDS.
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