Meine Zeit in den wenigen Monaten Mitgliedschaft in der frei gewählten Volkskammer war dermaßen intensiv, dass ich meinen könnte, es sei gerade fünf Jahre her.
27 Jahre war ich damals alt und habe mich bei aller surrealistischen Faszination am Geschehen dieser Monate richtiger Weise dazu entschieden, zumindest der Berufspolitik den Rücken zu kehren. Ich arbeite als Fachanwalt für Medizinrecht in Dresden. Freie Judikatur ist freier als das freie Abgeordnetenmandat jemals frei sein kann. Und Freiheit ist mir wichtig, zu wichtig als dass ich mir je vorstellen könnte, wieder Abgeordneter in einer Fraktion unter einem Fraktionsvorsitzenden zu sein. So einfach ist das für mich - und auch so kompliziert.
Wie frei sind Abgeordnete?
Natürlich ist mir die wichtige Funktion der Parteien und die ganz eigene Dynamik parlamentarischer Prozesse bewusst. Aber wie lange könnte ich es aushalten, hohe Dosen von Selbstverleugnung leben zu müssen? Würde ich auch mit 97 Prozent der Politik meiner Fraktion persönlich übereinstimmen (was unwahrscheinlich wäre), mit drei Prozent jedoch keinesfalls und müsste ich aber „berufsmäßig“ auch bei diesen drei Prozent den Arm heben, die für mich falsche Tür benutzen oder die Karte mit der für mich falschen Farbe in eine Plexiglasurne stecken; würde ich mich dann den Fragen meiner Freunde und meiner Familie im zivilen Leben stellen müssen und sie mit vorgegebenen oder mir selbst zurechtgelegten Formeln abspeisen müssen -– wie lange würde ich das aushalten? Warum hast Du wieder für die Verlängerung des Somalia-Mandats der Bundeswehr gestimmt? Doch genug von mir.
„Überwiegend für den Papierkorb gearbeitet“
Wir haben im Plenum und in den Ausschüssen, insbesondere im Verfassungsausschuss und dem Rechtsausschuss, denen ich angehörte, ziemlich viel, ja eigentlich überwiegend für den Papierkorb gearbeitet. Naiv, fleißig, konfrontativ und mit heißem Herzen haben wir, in der Regel mitten in der Nacht, an DDR-Kodifikationen gearbeitet, die nie Gesetz wurden und werden konnten, sollten und durften. Ein Arbeitsgesetzbuch für die DDR, ein Sozialgesetzbuch, gar eine neue Verfassung und sehr viel mehr. Ich möchte mich der Illusion hingeben, dass diese Arbeit, war sie auch auf direktem Wege ganz und gar unnütz, auf einer zweiten, einer letztlich außerparlamentarischen Weise recht erfolgreich war. Nicht uns hätte man das zu verdanken – wir waren ebenso wie die Mehrheit der Menschen in Ost, dann auch West, nur Teil einer großen Inventur, einer systematischen Sichtung der rechtlichen und politischen Verhältnisse der seinerzeitigen Bundesrepublik Deutschland.
Häufig ungläubig staunend über den Status quo 1990: Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz, Strafbarkeit von Abtreibung und Homosexualität, kirchliches Arbeitsrecht, althergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums. Ich erinnere mich noch sehr deutlich an eine Rechtsausschuss-Sitzung, bei der es um den Amtsvormund der Mütter nichtehelicher Kinder ging. Wie ist das bei denen? Mütter nichtehelicher Kinder bekommen automatisch einen Amtsvormund? Mit der Geburt? Weil sie nicht für moralisch fähig gehalten werden, das Sorgerecht allein wahrzunehmen? Ein Gesetz aus dem Jahr 1924.
Nach meiner Erinnerung gab es hierzu kaum Diskussionen und keine einzige abweichende Meinung im Rechtsausschuss: Das ist hier unmöglich! Das machen wir nicht mit. Das machen unsere Frauen nicht mit. Das muss in den Einigungsvertrag! In der Tat blieb die Amtsvormundschaft nach dem Einigungsvertrag bis 1998 (!) gespaltenes Recht. Erst jüngst wurden durch das Kindschaftsreformgesetz die rechtlichen Unterscheidungen zwischen „ehelichen“ und „unehelichen“ Kindern – und somit auch die Bestellung des Zwangsamtsvormundes mit Geburt des „unehelichen Kindes“ in den „alten“ Bundesländern aufgehoben.
Auch eine Veränderung der Bundesrepublik
Das was sich damals entwickelte, zog aus meiner Sicht auch eine „second-line Veränderung“ der Bundesrepublik Deutschland nach sich. Eigentlich gar nicht so schlecht. Ein weiteres Beispiel: Eine Rechtsgrundlage für die Tätigkeit der Damen und Herren Beamten des Bundesverfassungsschutzes, des Militärischen Abschirmdienstes und des Bundesnachrichtendienstes wurde, man mag es kaum glauben, im Jahr 1990 erstmals geschaffen. Das, obwohl das Bundesverfassungsgericht die Schaffung dieser Gesetze bereits im Jahr 1983 ausdrücklich gefordert hatte. Die Liste lässt sich bis heute fortsetzen. Die Bundesrepublik 1990 war nicht dieselbe wie 2020.
Vielleicht, so meine Interpretation, war auch das ein Ergebnis der einigungsbedingten Inventur. Die einen zählen die Schrauben, andere fragen, ob man die vorgefundenen Schrauben überhaupt noch verwenden kann, so rostig und unmodern sie doch schon sind und obwohl es dafür seit Jahrzehnten keine Schraubenzieher mehr gibt. Es gilt allerdings, darauf aufzupassen, dem Zeitgeist politisch nicht das Primat über die Politik zu geben. Ersterer ist zu flüchtig und in Zeiten sozialer Medien zu anfällig für Spinner und Schlimmere und zu sehr der Mode unterworfen. Zum Glück werden Abgeordnete in den deutschen Parlamenten in den Gesetzgebungsverfahren von einer gewissen Behäbigkeit und manchen anachronistischen parlamentarischen Ritualen auch ein Stück weit von Zeitgeistanfälligkeit geschützt.
Politik = Dicke Bretter bohren
Schon gut, wenn Politik nach wie vor sehr dicke Bretter bohren muss und nicht über Twitter & Co automatisiert werden kann. Und doch sickert er durch, der gesunde Menschenverstand und auch der manchmal nicht besonders zielführende Zeitgeist.
Aber der parlamentarische Prozess funktioniert und an einigen Entscheidungen der letzten Jahre lässt sich das gut ablesen: Irgendwann waren „nichteheliche Kinder“ keine rechtliche Kategorie mehr, war männliche Homosexualität auf einmal nicht mehr strafbar, handelten wichtige Regierungsbehörden nicht mehr auf der Grundlage von Geheimerlassen aus dem Jahr 1952. Schwule dürfen heiraten. Auch wenn sie ein paar Jahre durch die sprachliche Merkwürdigkeit von “Verpartnerungen“ gehen mussten, und sogenannte Schwulenheiler werden arbeitslos. Es sind halt dicke Bretter.
Zu viel Lager-Denken und Ideologie
Doch was zählt noch zu den Gründen, die mich davon abgehalten haben, weiter in der Berufspolitik zu bleiben?