„Alles musste eigentlich gleichzeitig geschehen“ erinnert sich in der Deutschland Archiv Reihe “Ungehaltene Reden“ die CDU-Politikerin Maria Michalk aus der Lausitz an ihre Volkskammerzeit vor 30 Jahren. Die später langjährige Bundestagsabgeordnete berichtet von politischen "Mogelpackungen" der damaligen SED-Nachfolgepartei PDS und bedauert, dass manches 1990 versäumt wurde, intensiv zu behandeln. So seien DDR-BürgerInnen nicht auf die Europäische Union vorbereitet worden. Das habe im Osten Deutschlands „Folgen bis heute“
Vor 30 Jahren: „Eine unausweichliche Notwendigkeit der Veränderung“
Grenzenlos war die Freude, als nach den emotionsreichen Ereignissen während der Friedlichen Revolution vor 30 Jahren Menschen ist Ost und West erstmals das Weihnachtsfest im vereinten Deutschland erleben konnten. Die am 18. März 1990 letzte frei gewählte Volkskammer hatte sich zuvor schon wieder aufgelöst, das war am 2. Oktober 1990. Und die erste Bundestagswahl für ein gesamtdeutsches Parlament fand zwei Monate später statt. Was für eine bewegte Zeit voller Entbehrungen, Unsicherheit, Einsatz, Hoffnung, Freude und Anstrengung hatte die Bevölkerung erlebt!
Vor allem für Menschen, die in der DDR ausgeharrt haben, hat sich das gesellschaftliche Leben komplett geändert. Unbestritten haben den Prozess der Friedlichen Revolution und der Deutschen Einheit vor allem diejenigen beschleunigt, die Jahre und Monate zuvor mit den Füßen abgestimmt und die DDR verlassen haben. Sie ließen ihr Hab und Gut zurück für das wertvolle Gut der Freiheit, das in der DDR fehlte. Aber auch das kollektive Verharren der meisten Menschen in ihrer angestammten Heimat und der beharrliche Widerstand nicht weniger der Hiergebliebenen gegen die immer aktiver werdende und die allein bestimmende, scheinbar reformierte SED , machten die unausweichliche Notwendigkeit der Veränderung weltweit für jedermann sichtbar. Die Kerzen in den Händen unzähliger Menschen waren gleichsam das Symbol und die Beschreibung für das Ziel dieser historischen Bewegung.
Bundeskanzler Helmut Kohl erkannte dies und motivierte mit seiner Rede am 19. Dezember 19890 an der Ruine der Dresdner Frauenkirche sehr deutlich zum mutigen Weg der Deutschen Einheit. Auch mich. Als zur Volkskammerwahl am 18. März 1990 gegen alle herbeigeredeten oder gewünschten Prognosen „Die Allianz für Deutschland“ eine bemerkenswerte und klare Mehrheit erreichte war der Auftrag an das Parlament klar. Es ging um Freiheit, Einheit und Wohlstand, so wie es CDU, DSU und DA in ihrem Wahlprogramm vertraten.
Vom repräsentativen Parlament zum Arbeitsparlament
Die Konstituierung des ersten wirklich frei und demokratisch gewählten Parlaments der DDR im April 1990 beendete die Zeit der „repräsentativen Volkskammer“, die neun Legislaturperioden lang nur die zentralistisch beschlossene Politik der SED zu bestätigen hatte. Die 10. Volkskammer war dagegen ein echtes Arbeitsparlament -– und effektives Diskussionsparlament. Schon in der konstituierenden Sitzung zeigte sich, dass die Selbstbefreiung der Menschen eine Meinungspluralität freisetzt, bei deren Umsetzung in Regierungspolitik die Parteien endlich und wirklich zu der im Parlamentarismus verankerten Verantwortung kommen.
Das ganze Ausmaß der Verantwortung und der Erwartungen wurde uns, die wir ohne jegliche Vorbereitung in diese Aufgabe kamen, freilich erst nach und nach bewusst. Doch eines war klar: dieses Parlament tritt an, um sich geordnet und so schnell als möglich abzuschaffen. Dafür wurde eine breite Koalition aus CDU, Deutscher Sozialer Union (DSU), Demokratischem Aufbruch (DA), den Liberalen und der SPD gebildet.
Der Koalitionsvertrag schrieb als Voraussetzung für die Wiedervereinigung Deutschlands die Schaffung einer zur Bundesrepublik Deutschland kompatiblen Länderstruktur, das Einvernehmen mit den Nachbarn und die Einbettung des vereinten Deutschlands in die Europäische Union vor. Die beiden erstgenannten Themen wurden in den folgenden Monaten in der Öffentlichkeit hartnäckig diskutiert. Die Länderwiedereinführung war mit sehr emotionalen Identifikationsfragen verbunden. Das Einvernehmen mit den Nachbarn wurde von der Anerkennung der Oder-Neiße-Friedensgrenze bestimmt.
Zu wenig Vorbereitung auf Europa
Dass das Einbetten in die Europäische Gemeinschaft (EG) nicht nur mit Rechten, sondern auch mit Pflichten verbunden ist, war eher ohne Bedeutung, hätte aber intensiver öffentlich diskutiert werden müssen. Mit dem Beitrittstag am 3. Oktober 1990 waren DDR-Bürger nicht nur Deutsche im Sinne des Grundgesetzes, sondern auch EUG-Bürger. Eine Vorbereitung auf die EUG, so wie das unsere Nachbarn Jahre später z.B. in Polen und Tschechien absolvieren mussten, gab es nicht. Daher ist das Wissen über die Wirkungsmechanismen der EG beziehungsweise der seit 1992 bestehenden Europäischen Union und vielleicht sogar die Bedeutung der Gemeinschaft insgesamt heute nicht so ausgeprägt wie notwendig.
Der Kanzler der Deutschen Einheit, Dr. Helmut Kohl, hatte recht, wenn er immer wieder feststellte, dass die Deutsche und die Europäische Einigung zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Hier sind die Hausaufgaben noch nicht erledigt.
Festschreibung von Aufarbeitung
Neben den Wirtschafts-, Währungs- und Sozialthemen legte der Koalitionsvertrag im Frühjahr 1990 dezidiert fest, die Aufarbeitung des SED-Regimes und die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) beziehungsweise seiner Nachfolgeeinrichtung, dem Amt für Nationale Sicherheit „AfNS“ zu forcieren. Auch im Einigungsvertrag wurde festgehalten, dass es sowohl eine wissenschaftliche und rechtliche, als auch eine finanzielle Aufarbeitung der SED- Machtmechanismen und ihrer Folgen geben muss. Die Volkskammer hat damit begonnen.
Der gesamtdeutsche Bundestag ist in Folge in diese Herkulesaufgabe eingestiegen mit entsprechenden Gesetzen, die später immer wieder Nachbesserungen erfuhren. Zwei Enquete-Kommissionen haben sich wissenschaftlich mit den Machtmechanismen in der DDR auseinandergesetzt. In der breiten Öffentlichkeit wurden vor allem das von Erich Mielke geführte MfS, die Spitzeltätigkeiten der vielen heimlichen Stasiinformanten und die Stasiakten wahrgenommen. Die Auftraggeberin, nämlich die SED, versuchte sich immer wieder durch Namensänderungen und scheinbaren Veränderungen in der Programmatik ihrer Verantwortung zu entziehen. So stand im Koalitionsvertrag der Auftrag, die völlige Offenlegung des Vermögens der SED, auch der anderen Parteien und Massenorganisationen, durchzusetzen.
Schwer zu sicherndes SED-Parteivermögen
In Folge dieses Auftrages trat am 1. Juni 1990 eine Verfügungsbeschränkung durch Ergänzung des Parteiengesetzes der DDR in Kraft. Das Partei-Vvermögen, das am 7. Oktober 1989 bestanden hat, stand damit unter treuhänderischer Verwaltung. Eine unabhängige Kommission, die vom DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière (CDU) eingesetzte wurde, übte die treuhänderische Verwaltung aus. Sie hatte wie ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss das Recht, Zeugen zu vernehmen, Durchsuchungen und Beschlagnahmungen vornehmen zu lassen. Was geschah vom Herbst 1989 bis Juni 1990? Die SED hat sich zwar wie gesagt mehrfach umbenannt, aufgelöst hat sie sich nie. Ein Manöver, um wenigstens einen Teil ihres Vermögens zu sichern? Zwischen Januar und Juli 1990 verringerte sich das Vermögen der SED von 9,5 auf 3,5 Milliarden Mark der DDR. Da ist Nachfrage erlaubt. Auch heute noch.
Im Herbst 1989 beschäftigte die SED rund 44.000 Mitarbeiter*innen. Im Juli 1990 waren es 1.700. In dieser Zeit hat die SED viele Schenkungen vollzogen. Es wurden auch Gründungszuschüsse ausgereicht. Die Gesellschafter haben notarielle Erklärungen abgegeben, dass sie das Vermögen für die Partei verwalten, also eine sogenannte Treuhanderklärung. Es wurden auch Kredite ausgereicht ohne jegliche Verzinsung, aber mit einer Laufzeit von 99 Jahren. Auch wurde durch die SED/PDS versucht, neue eigene Handelsketten aufzubauen, um dort Güter aus der DDR-Industrie zu verkaufen. Solche Machenschaften hat die Unabhängige Kommission bei anderen Parteien nicht festgestellt. Das geänderte Parteiengesetz wurde am 31. Mai 1990 in der Volkskammer diskutiert und beschlossen. Aber schon damals war klar, dass es de facto zu spät kam.
Abschaffung innerdeutscher Grenzkontrollen
Ohnehin war die Zeit in der Volkskammer äußerst diskussionsreich und sehr schnelllebig. Alles musste eigentlich gleichzeitig geschehen.
Allein die Tatsache, dass Lothar de Maizièere als Ministerpräsident am 17. April 1990 in der Volkskammer vereidigt wurde, also vier Wochen nach der Volkskammerwahl, dann ist das zu unseren heutigen zeitlichen Abläufen ein Rekord. Genau einen Tag später verständigten sich die Innenministerien Ost und West darauf, die innerdeutschen Grenzkontrollen abzuschaffen. Sichtkontrollen fanden aber weiterhin statt. Beispiel: als die Arbeitsgruppe des Innenausschusses der CDU/DA-Volkskammer einen Monat später in Berlin durch das Brandenburger Tor zum Reichstag lief, um sich dort mit Abgeordneten des Bundestages zu treffen, mussten wir uns ausweisen. Ein Kollege der Gruppe hatte seinen Personalausweis vergessen. Die Grenzkontrolleure waren unnachgiebig. Selbst das Mandat und wir als Zeugen wurden nicht akzeptiert. Er musste zurückkehren. So war die Realität
Mogelpackung Vereinsgesetz
Ein weiteres Beispiel für unvorhersehbare Aufgaben: Iim Februar 1990, also vor der Volkskammerwahl, legte der Übergangsministerpräsident der SED, Hans Modrow, ein neues Vereinsgesetz vor. Es war richtig, die ehrenamtliche Arbeit in ihrer Vielfalt unabhängig von einer Partei in Vereinen neu aufleben zu lassen. Die Mogelpackung wurde uns Abgeordneten erst klar, als stapelweise Anträge auf Geldzuweisungen bei der Volkskammer eingingen. So wollte der neue Jugendweiheverein zum Beispiel 30 Millionen Mark der DDR haben. Auch die Nationale Front, die sich eigentlich in der Auflösung befand, stellte einen Antrag auf einen Millionen-Betrag. Nicht nur der Finanzausschuss, auch der Petitionsausschuss hatten mit solchen Vorgängen viel Arbeit.
Rund um die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, die im ersten Staatsvertrag verankert wurde, sorgten wir Abgeordnete uns nicht nur um den Umtauschkurs der Einkommen und Ersparnisse der Bevölkerung, das war ohnehin das Regierungshandeln während der Verhandlungen. Vielmehr wurden in den Wahlkreisen die Sorgen um die Weiterexistenz der Betriebe und damit der Arbeitsplätze zu einem immer wichtigeren Thema. Die Stimmung in der Bevölkerung wurde immer schlechter.
Ein schweres wirtschaftliches Erbe
Offiziell wurde erwartet, dass dann, wenn die Währungsunion greift und die D-Mark ab 2. Juli 1990 Zahlungsmittel ist, die Märkte wegbrechen werden, insbesondere im Export. Etwa 30 Prozent der Betriebe könnten sofort marktfähig sein, 40 Prozent brauchten Unterstützung. Und 30 Prozent, so wurde geschätzt, werden die Umstellung nicht überstehen. Ein schweres Erbe. Deshalb waren die D-Mark-Eröffnungsbilanzen so wichtig. Sie sollten die Schätzung ans Licht bringen. Wir wollten heftige Inflationsschübe vermeiden, wie sie zu dieser Zeit bereits das öffentliche Leben insbesondere in Polen und Ungarn bestimmten. Es ging um den Zustand des Anlagevermögens und der Arbeitsproduktivität. Die DDR sollte nicht nur ein neuer Markt für etablierte Produkte und Betriebe werden, sondern auch selbst weiter Produktion haben. Das aber wurde vom Kaufverhalten der Menschen beeinflusst.
Doch viele realisierten ihren Traum, endlich Westprodukte kaufen zu können. Das ist sehr menschlich. Das Kaufverhalten hatte gravierende Folgen bei der Einführung der sozialen Marktwirtschaft, die mancherorts mit dem blanken Kapitalismus verwechselt wurde. Obwohl es kein langfristiges Rezept für den von jetzt auf gleich zu realisierenden Prozess der Wiedervereinigung, weder in West, erst recht nicht in Ost, in den Schubkästen der Schreibtische gab, ist die hoch emotionale und von Zeitknappheit geprägte Phase in sechs Monaten durch die Volkskammer sehr effizient genutzt worden.
Eitelkeiten hatten keine Chance. Disziplin war selbstverständlich. Es bleibt die Mahnung, die Leistungen der Menschen zu achten, das DDR-Regime aber nicht zu verharmlosen. Nachträgliche Schönfärbereien sind ein Mittel, die das Aufbauwerk anhalten und die Zukunft zerstören können.
Zitierweise: Maria Michalk, „Ein echtes Arbeitsparlament“, in: Deutschland Archiv, 19.06.2020, Link: www.bpb.de/311727. Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden nach und nach folgen. Eine öffentliche Diskussion darüber ist im Lauf des Jahres 2021 geplant. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
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