Ein Rückblick von Hans Modrow, Ministerpräsident der DDR a. D. 1989/90 und Mitglied der DDR-Volkskammer 1958 bis 1990. Er starb am 11. Februar 2023 in Berlin im Alter von 95 Jahren. In der Deutschland Archiv-Reihe „Ungehaltene Reden“ ehemaliger Abgeordneter des letzten Parlaments des DDR plädierte Modrow, der zuletzt den Ältestenrat der Partei Die Linke geleitet hat, für eine vielperspektivische Aufarbeitung: "Es wäre Zeit für Glasnost". Modrow regte in seinem Beitrag an, "auch geplatzte Träume, Brüche und verpasste Chancen für den Prozess der Vereinigung und des Zusammenwachsens zu reflektieren".
Vor 30 Jahren – die erste freie Volkskammer der DDR
Zum 30. Mal jährte sich am 5. April 2020 die Konstituierung der Volkskammer. Und am 2. Oktober war der Jahrestag ihrer letzten Beratung. Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit gekommen, mit Denkanstößen zur Lage der Nation, mit dem Blick und der Offenlegung der vielen Zusammenhänge des geschichtlichen Verlaufs vor 30 Jahren zu beginnen?
Das Thema dieser Reihe: „Vor 30 Jahren – erste freie Volkskammerwahlen der DDR“ wirkt dafür wie ein Zwang zur Suche nach Wahrheit und nach Lehren. Wenn es solche gibt, dann auch für die Gegenwart. Denn vieles was wir damals in den sechs Monaten unserer Amtszeit als Abgeordnete beschlossen und auch was wir nicht beschlossen oder übereilt beschlossen haben, wirkt bis heute nach.
Es klingt so, als wären diese Ereignisse ohne Zeit und Raum als Glücksfall zu betrachten. Aber es sind auch geplatzte Träume, Brüche und verpasste Chancen für den Prozess der Vereinigung und des Zusammenwachsens zu reflektieren. Sie sind, so scheint mir, ohne das Vorfeld der Wahl am 18. März 1990 nicht zu betrachten. Als ein Verantwortungsträger dieser Zeit, möchte ich daher zunächst darüber sprechen.
Die Bildung einer Regierung der nationalen Verantwortung
Im Rückblick erscheint mir der 28. Januar 1990 als Schlüsselereignis. Der Runde Tisch hatte sich formiert. Die fünf Parteien der Regierung Modrow wirkten mit und aus den unterschiedlichen Bewegungen der Bürger hatten sich inzwischen auch neue Parteien gegründet. Am 15. und 22. Januar gab die Regierung, vertreten durch den Ministerpräsidenten, einen Bericht zur Lage und forderte die neuen Parteien zur Mitarbeit in der Regierung auf.
In diesen Tagen kreuzten sich die Ereignisse. Die Sowjetunion, sprich der Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) Michail Gorbatschow, war nun bereit, sich mit der aktuellen deutschen Frage zu beschäftigen. Für den 30. Januar war eine Begegnung in Moskau vereinbart. Aber was konnte eigentlich der Gegenstand einer solchen Beratung sein, wenn Moskau keine Initiative zeigte? Und mit welchen politischen Kräften sollte die DDR regieren und mit welchen Stimmen sprechen, wenn es um die Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten geht?
In Absprache mit den Moderatoren und ihrem Mittun wurden Vertreter aller Parteien des Rundes Tisches zu einem Treffen am 28. Januar in das Gästehaus der Regierung eingeladen. Zwei Fragen standen zur gemeinsamen Entscheidung. Werden die Wahlen zur Volkskammer, die zunächst im Oktober, dann aber im Mai stattfinden sollten auf einen noch früheren Termin einberufen und gehen wir den Schritt zur Bildung einer gemeinsamen „Regierung der Nationalen Verantwortung“, in der alle Parteien vertreten sind?
Nach der Eröffnung an der auch Oberkirchenrat Martin Ziegler mitwirkte, berieten die Gruppe der Parteien der Regierung und der neuen Parteien getrennt, um dann zusammen eine Entscheidung zu treffen. Sie lautete: Die Wahl der neuen Volkskammer soll sogar schon am 18. März 1990 erfolgen. Und am 4. Februar wird der noch amtierenden alten Volkskammer eine gemeinsame „Regierung der Nationalen Verantwortung“ zur Wahl vorgeschlagen.
Dreistufenplan mit Gorbatschow
Da die Haltung Moskaus zum Dreistufenplan zur Vereinigung Deutschlands noch nicht beraten war, konnte diese Frage am 28. Januar noch nicht öffentlich vertreten werden. Während US-Präsident Bush und Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) im ständigen Kontakt miteinander standen und die USA eine Führungsrolle im westlichen Lager ausübte, gab es seitens der Sowjetunion keine Initiative. Der 30. Januar sollte nun auch in Moskau eine Klärung der äußeren Bedingungen bringen, nachdem die inneren Verhältnisse der DDR mit einer relativen Stabilität geordnet worden waren und auch über die Neu-Wahl und Regierungsfrage entschieden worden war.
Die sowjetische Seite, vertreten durch Gorbatschow, den Vorsitzenden des sowjetischen Ministerrats, Ryschkow, Außenminister Schewardnadse und den Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Falin, stimmten bei dem Treffen einem Dreistufenplan zu, der eine Vertragsgemeinschaft, Konföderation und einen Bundesstaat mit einer militärischen Neutralität des vereinten Deutschlands vorsah. Die auf Beschluss der Volkskammer am 4. Februar 1990 gebildete Regierung erhob keine Einsprüche gegen diesen mit Moskau beratenen Dreistufenplan.
Die Volkskammerwahl 1990
Die Neuwahl der Volkskammer am 18. März erfolgte mit größter Zwiespältigkeit. Sie wurde auf Basis des demokratischen Wahlgesetzes durchgeführt. Es gab keine 5-Prozent-Klausel, die Leitung der Wahl erfolgte durch Petra Bläss vom neu gegründeten Unabhängigen Frauenverband, die dafür vom Runden Tisch gewählt und Partnerin der Regierung bei der Gestaltung aller Bedingungen für eine geheime demokratische Wahl wurde. Der Verlauf des Wahlkampfes selbst hatte einmalige, unvergleichbare, urdemokratische, aber auch undemokratische Züge, die man nicht übersehen darf:
Die Allianz für Deutschland, ein von der CDU getragenes Wahlbündnis, hatte ihren Sitz zur Koordinierung und materiellen Absicherung in Westberlin. Den Wahlkampf führte mit Helmut Kohl der Bundeskanzler und Vorsitzende der West-CDU. Der Spitzenkandidat der Ost-CDU, Lothar de Maizière, war und blieb auch nach der Wahl im Schatten der Bundesrepublik in allen Phasen des Geschehens.
Die Sozialdemokraten gingen von einer Fehleinschätzung aus und sahen sich optimistisch als stärkste Kraft, die mit einem Erfolg im Osten auch die Wiederwahl Helmut Kohls im Westen blockieren könnte.
Als aber das Wahlergebnis vorlag mit der CDU als stärkster Kraft, zeigten sich sogar die Sieger überrascht, die SPD erklärte ihre Bereitschaft für eine Große Koalition, die PDS war nicht abgeschlagen, aber schwach und die, die sich ohne die 5-Prozent-Hürde retten konnten, waren zwar enttäuscht, aber doch nicht unzufrieden.
Was sich nach dem 12. April 1990 mit der Übergabe der Regierung Modrow an die neue Regierung de Maizière vollzog, war ein politischer Gegensatz mit großer Tiefe bis zum baldigen Zerfall der Koalition.
Für den Zwei-plus-Vier-Prozess hatte die alte Regierung den Grundsatz beschlossen: Die Beschlüsse der SMAD (Sowjetische Militäradministration) waren rechtens und bleiben Recht. Davon war nicht zuletzt die Bodenreform auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und dann der DDR betroffen. Das galt auch für die Bildung der Treuhandanstalt, die zur Verwaltung des Eigentums des Volkes und seiner weiteren Entwicklung eingesetzt wurde.
Für die DDR galt die Grenze zu Polen an der Oder und Neiße als anerkannt und unantastbar.
Die neue Volkskammer änderte den Auftrag der Treuhandanstalt und setzte Bürger der BRD als Spitzenpersonal in allen Bereichen ein. Der DDR-Finanzminister, Walter Romberg (SPD), sollte sich am Rat von Horst Köhler (er war verbeamteter Staatssekretär) und Thilo Sarrazin (er war Referatsleiter) aus dem Bundesfinanzministerium orientieren, was er nicht so, wie von ihm „erwartet“, tat. Der Ministerpräsident vollzog, so wie es der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) wollte, am 16. August 1990 dessen Abberufung und ließ das Amt provisorisch führen. Die Koalition zerfiel.
Was bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen Bundesaußenminister Hans Dietrich Genscher (FDP) und US-Außenminister James Baker nicht gefiel, ist bis heute nicht ganz klar.
Am 20. August 1990, noch kurz vor der Unterzeichnung des Vertrages in Moskau, musste auch der Außenminister der DDR, Markus Meckel (SPD) seinen Posten räumen. Wie der ehemalige Innenminister Peter-Michael Diestel (er vertrat erst die DSU, dann die CDU) zu wissen glaubt, hatte der Ministerpräsident die Gnade im Westen verloren, was ein Sommertreffen 1990 mit Helmut Kohl in Österreich belegen könnte. Da die Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags aber nicht ohne einen Außenminister der DDR geschehen konnte, wurde nun der Ministerpräsident als amtierender Außenminister zum Einsatz gebracht.
Der Umgang mit Russland
Schauen wir genauer auf das, was damals viele als eine Sternstunde deutscher Demokratie in der DDR betrachteten und blicken auf den Runden Tisch, der am 7. Dezember 1989 erstmals zusammentrat.
Was von ihm bleibt? Ein richtiges Erbe? Außer ein paar Möbelstücken, hat er eigentlich nichts hinterlassen. Was seinen realen Platz im politischen Geschehen gefunden hat, bleibt vor allem mit der „Regierung der Nationalen Verantwortung“ verbunden. Sie besuchte noch am 6. März 1990 die Sowjetunion, hatte eine Begegnung mit Gorbatschow und die beiden Ministerpräsidenten Ryschkow und Modrow führten ein Gespräch zur weiteren Vertrauensbildung.
Was heute, 30 Jahre später, zwischen Deutschland und Russland geschieht, trägt andere Zeichen in die Welt. Über Russlands Entwicklung von Jelzin bis Putin könnte so manches gesagt werden, aber nicht die Panzer und Militärflotte Russlands stehen an deutschen Grenzen. Mit den NATO-Truppen sind es auch deutsche Verbände, die 75 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus an den Grenzen Russlands stehen.
Wenn aus meiner Sicht dem Bürger Steinmeier in diesem Punkt Geschichtsbildung fehlt, ist das seine Sache. Eine andere ist es, wenn sich der Bundespräsident Steinmeier in Berlin als Repräsentant Deutschlands äußert, und das gerade dort, wo im April 1945 die letzte große Schlacht des 2. Weltkrieges zur Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee siegreich, aber mit hohen eigenen Verlusten geführt worden war.
Wenn er in seiner Berliner Rede vom 8. Mai 2020 die Rote Armee nicht einmal erwähnt, geht es aus meiner Sicht um einen politischen Affront und eine Missachtung aller Völker der Sowjetunion, die in den Reihen der Roten Armee vertreten waren. Dann fürchte ich, ist Vertrauensbildung abgesagt, obwohl sie gerade 30 Jahre nach der Vereinigung Deutschlands mit einer AfD mit faschistischen Elementen im Deutschen Bundestag ein friedensbildendes Anliegen deutscher Regierungspolitik sein sollte.
Verfassungsfragen
Zum abgeschlagenen Erbe des Runden Tisches mit nachhaltiger Wirkung gehört der Entwurf einer neuen Verfassung der DDR. Für ihre Ausarbeitung war eine Gruppe (wir sagten damals, ein Kollektiv) tätig, in der auch von der Regierung freigestellte Wissenschaftler mitwirkten.
Einen wichtigen Platz mit viel Initiative nahm hier Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/Die Grünen), ein, der von Februar bis April 1990 auch als Minister in mein Kabinett berufen wurde. Die neue Volkskammer schob gewiss nicht zufällig den Entwurf der Verfassung auf die lange Bank der Ausschusssitzungen. Ein parlamentarischer Trick, den wir mit westlichem Einfluss nun kennenlernten. Erst kein Streit um Ablehnung und dann keine Zeit für eine Beratung.
Der Theologe Wolfgang Ullmann war mir Kollege und ab Oktober 1990 auch Freund im Deutschen Bundestag geworden. Die Verfassungsfrage blieb sein Anliegen, wofür er dann auch im Verfassungsausschuss eintrat und für diese Erbschaft aus der DDR kämpfte. Alles, wofür er sich einsetzte, soziale Rechte und anderes mehr, vor allem nicht länger ein Grundgesetz, sondern aktives Handeln nach Artikel 146, wurde abgeschmettert. Er wollte dann nicht länger gegen Mühlenflügel kämpfen und allein auf weiter Flur stehen. Er stellte seine Arbeit im Verfassungsausschuss ein. Der Weg zur Einheit über den Artikel 23 hat leider Spielräume verschlossen, mit der die deutsche Zweiheit noch nach 30 Jahren immer wieder zuschlägt.
Es war auch Wolfgang Ullmann, der neben Gregor Gysi für die letzte Beratung der Volkskammer die Mitgliedschaft von Hans Modrow für den Deutschen Bundestag vorschlug, denn mit der Wiedervereinigung konnten nicht alle Volkskammerabgeordneten in den Bundestag übernommen werden. Die demokratische Absprache der Fraktionen, eigenständig über die Delegierung in den Fraktionen zu entscheiden und diese gegenseitig ohne Debatte im Plenum zu bestätigen, wurde plötzlich in Frage gestellt.
Eingeführt werden sollte nun jedoch eine Art „Lex Modrow“. Alle Entscheidungen sollten im Sammelverfahren gelten, nur über Modrow sollte ein Einzelbeschluss herbeigeführt werden. Gregor Gysi kämpfte für meinen Verbleib auf der PDS-Liste und Wolfgang Ullmann eröffnete eine neue Variante. Wenn eine Einzelabstimmung gefordert werde, dann müsse sie nach demokratischer Ordnung auch für alle gelten. Wir können uns nun fragen, warum Modrow dann ohne weitere Debatte auf der PDS-Liste bleiben konnte.
Ich stellte mir diese Frage, fern von allen Debatten, Vorbehalten und Beschimpfungen im Parlament und anderswo in Tokio, wo ich Ende September 1990 weilte. Der Ministerpräsident Japans, Kaifu, hatte den Ministerpräsidenten a. D. als Gast nach Tokio eingeladen. Für mich galt aufgeschoben ist nicht aufgehoben, denn die Einladung war schon im Dezember 1989 erfolgt. Für Kaifu und den Präsidenten beider Häuser des japanischen Parlaments war es wichtig, den Ex-Ministerpräsidenten und letzten Vorsitzenden einer Parlamentarischen Freundschaftsgruppe DDR – Japan, noch vor dem Ende des Parlaments in der DDR, in alter guter Freundschaft zu begrüßen.
Am 2. Oktober 1990, als die Volkskammer ihre letzte Beratung hatte, wurde ich vom Vorsitzenden des Sicherheitsrates, ein Beratungsgremium der Regierung, Suetsugu, im Auftrag des Ministerpräsidenten Kaifu, zu einem Abendessen in einem öffentlichen Restaurant eingeladen. Es war ein Moment in meinem Leben mit tiefen, bleibenden Eindrücken, als der Gastgeber um Verständnis aller Gäste bat, als ich zum letzten Mal aus politischem Anlass die Nationalhymne der DDR vernahm und sich alle Gäste erhoben. Ein Stück deutsch-deutscher Geschichte, die zur heutigen Darstellung nicht passt. Die Archive der DDR-Außenpolitik bleiben verschlossen. Muss man fragen: Warum?
Für den 3. Oktober hatte der damalige Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Japan, Herr Wilhelm Haas, zu einem Staatsempfang anlässlich des Tages der deutschen Einheit eingeladen. Über Nacht war ich nun vom Mitglied der Volkskammer der DDR zum Mitglied des Deutschen Bundestages geworden. Der Mehrheit seiner Gäste war ich, ausgezeichnet vom Tenno mit dem „Orden vom heiligen Schatz mit Schulterband“, kein Unbekannter. Auch 30 Jahre danach gehört in Japan die DDR zur deutsch-japanischen Freundschaft, in der heutigen deutschen Geschichtsschreibung findet sie kaum einen Platz.
Offene Stasiakten, geschlossene BND-Akten?
Nach 30 Jahren Einheit steht für mich noch immer eine offene Frage im Raum. Sie trägt gewiss zum Teil persönlichen Charakter, ist aber dennoch gerade aktuell von größerer öffentlicher Bedeutung. Als Mitglied des Deutschen Bundestages stimmte ich einer Überprüfung meiner Nähe zum Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zu, in dessen Akten Einsicht möglich wurde. Nun war ich ein Bundesbürger, da hätten die Akten des BND doch auch dazu gehört. Ich forderte dazu auf, aber nichts geschah Deshalb ging ich vor Gericht.
Am 27. Februar 2017 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig die Klage „Dr. Hans Modrow gegen die Bundesrepublik Deutschland“ nach gründlicher Prüfung zur Verhandlung angenommen und ein Jahr später weitgehend zu meinen Gunsten entschieden.
Ich hatte damals folgende Erklärung zu den Akten gegeben:
„…Hohes Gericht, vielleicht können Sie meiner Vorstellung nahetreten, bald 30 Jahre nach dem Beitritt der DDR zur BRD zur Darstellung der Geschichte der beiden deutschen Nachkriegsstaaten seit der Vereinigung, dass es der Herstellung des inneren Friedens in Deutschland dienlich wäre, würden wir den einseitigen Umgang mit Geheimdienstakten beenden. Gleiches Recht für alle, sagt unser Grundgesetz. Das heißt für mich: Ostdeutsche haben nicht nur Anspruch darauf, ihre ostdeutschen Stasi-Akten lesen zu dürfen. Ostdeutsche haben auch das Recht zu erfahren, was westdeutsche Geheimdienste während der Zeit des Kalten Krieges über sie zu Papier gebracht und in ihren Archiven abgelegt haben…“.
Aber die mir mittlerweile erteilten Auskünfte sind spärlich und eine wirkliche Einsicht in die Unterlagen gibt es auch nach dem Urteil nur halbherzig und ausgewählt.
Von 1956 bis zum Dezember 2012, so die Auskünfte, stand ich unter Beobachtung des Bundesnachrichtendienstes (BND) und des Verfassungsschutzes der BRD. Ab Dezember 1957 war ich Berliner Vertreter in der Volkskammer der DDR. 1958 kandidierte ich in Westberlin auf der Liste der SED für das Abgeordnetenhaus. Berlin war ein besonderes Gebiet. Westberlin gehörte nicht zur BRD, aber ihr Geheimdienst führte Kalten Krieg auch gegen meine Person. Am 27. Februar 1990 meldete sich ein Überläufer des MfS beim Verfassungsschutz. Er machte weitgehende Aussagen über Hans Modrow, der nun Ministerpräsident der DDR war.
Gewiss ein Zufall, dass 27 Jahre später meine Klage auf Akteneinsicht angenommen und in Leipzig vor dem Bundesverwaltungsgericht verhandelt wurde. Und immerhin, ich erhalte seitdem Auskünfte, manche Texte jedoch mit viel Schwarz. Viele Akten bleiben geschützt. Warum wohl?
Eine Auskunft des BND besagt etwas, was ich mit Erstaunen zur Kenntnis nahm. Im August 1988 erkundigte sich Michail Gorbatschow bei Polens Staatschef Wojciech Jaruzelski ob Hans Modrow als Nachfolger von Erich Honecker geeignet wäre. Mehr erfuhr ich nicht. Glasnost loben, mir keine oder nur ungenügende Transparenz gewähren – wie verträgt sich das? 30 Jahre nach der Einheit möchte ich als Kläger, dem Recht zugesprochen wurde, darüber nicht schweigen.
Gorbatschows unbeantwortetes Plädoyer
Schließlich noch ein Faktum. Am 26. September 1990, zwei Wochen nach der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages in Moskau, schrieb der Präsident Michail Gorbatschow an den Bundeskanzler Helmut Kohl:
„…Ich kann nicht beurteilen, inwieweit die Zahl von achttausend Personen, die man, so heißt es, wegen ‚Landesverrates‘, ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ und nicht zuletzt wegen ‚subversiver Tätigkeit zugunsten eines fremden Staates‘ vor Bundesgerichte stellen will, richtig ist. Hat man erst einen Täter, so wird sich ein passender Paragraph finden lassen, und aus Archiven lässt sich auf Wunsch alles Mögliche herausziehen. Als Kinder des ‚Kalten Krieges‘ wissen wir beide ja, wieviel Unrecht ihn auf beiden Seiten begleitete. Die Bundesrepublik und die DDR bildeten hier natürlich keine Ausnahme. Anstelle von zwei Lebensordnungen, zwei Souveränitäten entsteht nun eine Ordnung. Doch manch einem ist dies offenbar nicht genug. Man will den ehemaligen Gegner zwingen, den bitteren Kelch bis zur Neige zu leeren. Was den ‚Dienst für einen fremden Staat‘ angeht – wir wollen nicht Verstecken spielen -, so zielt man auf die Sowjetunion ab und übersieht dabei ihren Beitrag zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands. Die sowjetische Öffentlichkeit und der Oberste Sowjet, dem noch die Ratifizierung bevorsteht, verfolgen aufmerksam den Einigungsprozeß.“
Die letzte Aussage hat ihre Fortsetzung gefunden, als Valentin Falin mich, nun schon Mitglied im Deutschen Bundestag, im Januar 1991 bat, nach Moskau für eine Konsultation zu kommen. Es ging um die noch immer nicht erfolgte Ratifizierung des Zwei-plus-Vier-Vertrages im Obersten Sowjet.
Worauf Helmut Kohl gegenüber Michail Gorbatschow nicht antwortete und was bei den Zwei-plus-Vier-Verträgen nicht verhandelt wurde, sollte sich in einer Erklärung des Obersten Sowjet zur Ratifizierung wiederfinden. Der Inhalt lautete, dass der Oberste Sowjet der UdSSR erwartet, dass es keine Verfolgung von Mitgliedern der SED und ihrer Führung im Geiste eines primitiven Antikommunismus geben soll und die Menschenrechte gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern der DDR geachtet und eingehalten werden.
Helmut Kohl, der auf das Schreiben Michail Gorbatschows nicht reagierte, legte 1996 in seinem Buch „Ich wollte Deutschlands Einheit“ die Bonner Bewertung des Schreibens von Michail Gorbatschow offen. Der Text sei entweder vom KGB verfasst worden, oder Gorbatschow habe ihn aus taktischen Gründen für die am 15. März 1991 schließlich erfolgte Ratifizierung des Zwei-plus-Vier-Vertrages im Obersten Sowjet der UdSSR mit einer Aussage gebraucht, die ihm sein Präsidentenamt bewahrte und die Bestätigung des Vertrages gesichert hat. Mit dieser Veröffentlichung unterstrich Helmut Kohl wohl auch seine seinerzeitige neue Freundschaft mit Boris Jelzin und eine wachsende Distanz zu Michail Gorbatschow.
Fazit. Der Jurist Michail Gorbatschow hat seine Sicht, seine Forderung und ein spätes Handeln nachvollziehbar gemacht – der Historiker Helmut Kohl gab seine Erzählungen wieder. Nun sind 30 Jahre vergangen, es wäre Zeit für Glasnost.
Es waren damals turbulente Zeiten, die bis heute vielfältige Nachwirkungen hinterlassen haben: 45 Jahre mit Nachkriegsauswirkungen deutscher Teilung und Kalter Kriegsführung. 30 Jahre mit einem größeren Deutschland, nicht so groß, wie es bis zum Zwei-plus-Vier-Vertrag von Seiten der Bundesrepublik, mit offener Grenzfrage gegenüber Polen, noch angestrebt war. Dieses größere Deutschland drängt nun als größte Wirtschaftsmacht Europas mit militärischer Stärke nach Verantwortungsübernahme einer europäischen Führungskraft. Die Corona-Pandemie löst bereits jetzt real erkennbar, wenn auch noch nicht mit allen Auswirkungen, eine weitere Zäsur der Nachkriegszeit aus. Da wird auch Mut zur offenen Darlegung der Geschichte gefragt sein. Und Antifaschismus, ob „verordnet“ oder „vernachlässigt“, wird angesichts des Wiedererstarkens rechtspopulistischer und rechtsextremistischer Denkweisen zur historischen Herausforderung.
Historiker, Akteure, Zeitzeugen sollten nicht den Mainstream der Politik bedienen, sondern sich der Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen stellen.
Zitierweise: Hans Modrow, "„Die deutsche Zweiheit“, in: Deutschland Archiv, 11.2.2023, Erstveröffentlichung am 3.10.2020, Link: www.bpb.de/311489. Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden nach und nach folgen. Eine öffentliche Diskussion darüber ist im Lauf des Jahres 2021 geplant. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Dr. Hans Modrow (Jahrgang 1928) war seit 1973 Erster Sekretär der Bezirksleitung der SED in Dresden und Mitglied im Zentralkomitee der SED. 1949 war er als Kriegsgefangener aus der Sowjetunion in die DDR zurückgekehrt, arbeitete zunächst als Maschinenschlosser in Hennigsdorf und besuchte von 1952 bis 1953 die Komsomol-Hochschule in Moskau. Später studierte er als Fernstudent Gesellschaftswissenschaften und Ökonomie. Seit 1987 galt er als möglicher Nachfolger Erich Honeckers. Während der Friedlichen Revolution vom 13. November 1989 bis 12. April 1990 war er der letzte Vorsitzende des DDR-Ministerrates. Der DDR-Volkskammer gehörte er bis zum 2. Oktober 1990 an. Später war er Abgeordneter im Bundestag und im Europaparlament. Im Februar 1990 wurde er Ehrenvorsitzender der SED-Nachfolgepartei PDS und Vorsitzender des Ältestenrates der Partei Die Linke. Modrow ist am 11. Februar 2023 im Alter von 95 Jahren in Berlin gestorben.
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