So wurde in den französischen Medien auch über den dreißigsten Jahrestag des 9. November 1989 breit berichtet, vielleicht sogar intensiver als zehn oder 20 Jahre zuvor. Unter anderem gab Elise Delève, Journalistin bei France-Culture, einen Überblick über „von der Mauer inspirierte Kunstwerke“
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, weder der Werke noch der Gattungen, möchte ich mit Hilfe der am häufigsten zitierten Künstler die Art und Weise aufzeigen, wie sich die französische Populärkultur die Mauer (per se oder als Symbol der Spaltung und Trennung) und ihre Geschichte angeeignet hat. Wie haben sich die Wahrnehmung und der Umgang mit der Mauer zwischen der Anfangsphase in den 1960er Jahren, in der Zeit des Gewöhnens an die Mauer in den 1970er und 1980er Jahren und bei ihrem Fall entwickelt? Welche Interpretationen werden mit der Erinnerung an die Mauer verbunden?
Die 1960er Jahre: die Verurteilung der „Schandmauer“
Von Frankreich aus gesehen ist der Bau der Mauer die zweite große Berlin-Krise der Nachkriegszeit. Die erste ereignete sich 1948/49 mit der Blockade der Stadt durch die Sowjets und der von den Westalliierten eingerichteten Luftbrücke. Dieses Ereignis hinterließ jedoch in der französischen Kultur kaum Spuren, denn zum einen war der französische Beitrag zur Luftbrücke marginal,
Während des Höhepunkts der zweiten Berlin-Krise im Sommer 1961 war die französische Gesellschaft hingegen bereit, die westlichen Emotionen und die Empörung über den Bau der Berliner Mauer zu teilen, der auch Spuren in der Populärkultur hinterließ. 1962 erschien ein erster Spionageroman mit dem Titel „Le Mur de la honte“ [Die Schandmauer]. Der Autor, Pierre Nord, war ein ehemaliger Widerstandskämpfer und ein Offizier des französischen Geheimdienstes.
Beruht das Genre „Spionageroman“ vor allem auf der Spannung der Intrige, spielt der „Mauerschlager“ oder auch das „Mauer-Chanson“ mit Gefühlen und sentimentalen Handlungsschemata.
Drei Jahre später erzählt Gilbert Bécaud in „La grande Roue“ [Das Riesenrad], das er mit einer schnellen und festlichen Melodie singt, die Geschichte eines jungen Berliners, der auf das Karussell klettert, um einen Blick auf seine Verlobte auf der anderen Seite der Mauer zu erhaschen. Es ist ein Lied der Unerschrockenheit und des Erfindungsgeistes, denn schließlich gelingt es ihm, die Frau zu sehen.
Das dritte Lied mit dem Titel „Berlin“ stammt ebenfalls aus dem Jahr 1968. Jean-Jacques Debout sang von der Liebe zweier junger Berliner Teenager, die von der Grenze dazu verurteilt waren, getrennt voneinander aufzuwachsen: „Ils se sont quittés porte de Brandebourg, sans pouvoir espérer se retrouver un jour“ [Sie verließen sich am Brandenburger Tor, ohne hoffen zu können, sich eines Tages wiederzufinden]. Bei Fernsehauftritten von Debout wird die antikommunistische Botschaft des Liedes durch Bilder von der Unmenschlichkeit der Berliner Mauer im Hintergrund unterstützt. Doch findet sich ein seltsamer Satz im Text, der Fragen aufwirft: „Mais s’il faut des murs à Berlin/Pour préparer nos lendemains/Il nous faudra beaucoup d’amour/Si l’on veut se revoir un jour » [Aber wenn wir Mauern in Berlin brauchen/ um unsere Zukunft anzubahnen/ werden wir viel Liebe brauchen/ wenn wir uns eines Tages wiedersehen wollen]. Da es keine weiteren Quellen oder Erklärungen zu der Zeile „s’il faut des murs à Berlin“ gibt und da auf eine Zeichensetzung verzichtet wurde, die Hinweise gegeben hätte, ob sich „préparer nos lendemains“ auf die Mauer oder die Liebe bezieht, wollen wir hier keine politischen Interpretationen anstellen. Nichts erlaubt in diesem Satz, auf eine Rechtfertigung der Berliner Mauer oder eine symbolische Lektüre der hoffnungslosen Liebesgeschichte als Sehnsucht nach der deutschen Einigung zu schließen. Sie erscheint bei Debout und Bécaud eher als ein Vorwand, um das zeitlose Thema von der unmöglichen Liebe und der Trennung zu behandeln. Dafür besitzen die Werke aus den 1960er Jahren, bei denen die Liebesgeschichte im Hintergrund steht (Nord, Éva), einen genuin politischen Charakter. Die Künstler ergreifen prononciert Position für den Westen und weben die allgegenwärtige Liebesgeschichte in eine antikommunistische Erzählung ein, um vom Osten politische, gesellschaftliche und individuelle Freiheit einzufordern. Die (unglückliche) Berliner oder – wie bei Pierre Nord – deutsch-französische Romanze sollen Emotionen auslösen und über diesen Weg den inhumanen Charakter der Mauer dokumentieren.
Die 1970er und 1980er Jahre: eine komplexere Wahrnehmung der Berliner Mauer
In den folgenden zwei Jahrzehnten würzten oftmals die gleichen Zutaten die französischen Lieder von der Mauer: die unmögliche Liebe zwischen zwei Berlinern (Renauds Lied „Greta“, 1975) und die Spionage im Agentenroman (Claude Rank, „Mission en Prusse rouge“ [Auf Mission im roten Preußen], Paris 1979).
Weniger philosophisch und eher historisch ist die Behandlung der schmerzlichen Trennung von zwei Brüdern bei Daniel Balavoine, der 1977 sein Konzeptalbum „Les Aventures de Simon et Gunther Stein“ [Die Abenteuer von Simon und Gunther Stein] aufnahm.
Das Biotop West-Berlin als Magnet für Künstlerinnen und Künstler
West-Berlin war Ende der 1970er Jahre eine brodelnde Stadt, eine Brutstätte der Kunst, mit ihrem Nachtleben und dem Aufblühen einer alternativen Kultur. Das „Biotop Westberlin“ war kosmopolitisch
Auf diese Weise wurden beide Freunde zu historischen Figuren der Berliner Street-Art, jedoch nicht ohne Hindernisse, wie Noir berichtet: „Ich wurde von Passanten und Anwohnern beleidigt [...] Es war tabu, niemand malte auf die Mauer.“
Der Fall der Mauer (1989 und die 1990er Jahre): Freude, Hoffnungen und Sorgen
Wie überall war der Fall der Berliner Mauer auch für die Franzosen eine Überraschung. Das Lied eignete sich das Ereignis sofort an, schneller und intensiver, als es 1961 beim Bau der Mauer der Fall gewesen war. Noch 1989 sang der italienisch-belgische Künstler Salvatore Adamo – der schon früh vom französischen Publikum „adoptiert“ worden war – „Berlin, ce jour-là“ [Berlin an diesem Tag].
Im Jahre 1990 produzierte der französische Filmemacher Chris Marker auf Wunsch des Fernsehsenders France 2 den Dokumentarfilm „Berliner Ballade“, für den er im gleichen Jahr den Deutsch-Französischen Journalistenpreis erhielt. Als Vertreter eines politisch engagierten Kinos (Le fond de l’air est rouge, 1978) sollte der überzeugte Marxist nun einen Kurzfilm (21 Minuten) über die ostdeutsche Gesellschaft im Frühjahr 1990 drehen. Die Grenzüberquerungen und die Mauer werden schon früh in einen politischen und historischen Kontext gestellt: heute Normalität, gestern eine gefährliche Heldentat und morgen nur noch Erinnerung. Zu Wort kommen in dem Film der Regisseur Jürgen Böttcher, der Sänger Wolf Biermann und der Schriftsteller Stephan Hermlin, die ihre Verbitterung darüber zum Ausdruck bringen, ein weiteres Mal zu den „Besiegten“ der Geschichte zu gehören: schikaniert vom SED-Staat und nun dem verschmähten Kapitalismus ausgeliefert. Die Ergebnisse der ersten und letzten freien Wahl der DDR-Volkskammer von 1990, bei denen auch sie im Vorfeld auf ein Wiederaufleben eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz gehofft hatten, bestärkten sie schließlich in dem Gefühl, zu den ewigen Verlierern zu gehören.
Während Chris Marker Einblicke in die desillusionierte Gefühlswelt ostdeutscher Intellektueller gab, brachte der linke Liedermacher Jean Ferrat seine persönliche Beunruhigung als langjähriger Weggefährte der Kommunistischen Partei zum Ausdruck. Trotz allem wollte er aber seine Hoffnung auf eine humanistische Welt nicht aufgeben, wie in dem Lied „Dans la jungle ou dans le Zoo“ [Im Dschungel oder im Zoo] aus dem Jahre 1991 zum Ausdruck kam. In Anlehnung an eine Metapher des Regisseurs Miloš Forman weigerte er sich, zwischen dem ungezügelten Kapitalismus und der Freiheitsberaubung durch den realexistierenden Sozialismus zu wählen: „Il y aura d’autres choix pour vivre que dans la jungle ou dans le zoo“ [Es wird andere Möglichkeiten zum Leben geben als im Dschungel oder im Zoo].
Allgemein ist festzustellen, dass die Freude über den Mauerfall nach und nach verflog. Auch die französischen Sänger thematisieren jetzt die realen Probleme des deutsch-deutschen Zusammenwachsens. 1994 sang Patrick Bruel „Combien de murs?“ [Wie viele Mauern?] und beschwor die Mauern in den Köpfen [„les murs qu’on a dans la tête“], um schließlich zu fragen, wie viele Mauern sich hinter einer fallenden Mauer verstecken [„Combien de murs se cachent derrière un mur qui tombe?“]. Dabei lässt er offen, ob er mit seinem Lied die ideologische, geopolitische, soziokulturelle oder mentale Dimension von Mauern meint. In einem Interview bedauerte er 1999, dass Politiker nur wenig Lehren aus dem Berliner Mauerfall und dem Ende des Kalten Krieges gezogen hätten. Als Beispiel nannte er den Jugoslawienkrieg Anfang der 1990er Jahre, bei dem jahrelang aufgestaute Nationalismen zum Ausbruch gekommen seien.
Die meisten französischen Künstler hatten selbst nur wenig direkte Erfahrungen mit der Mauer. Ihre künstlerische Verarbeitung dieses Symbols des Kalten Krieges erfolgte à distance, was jedoch nicht für Thierry Noir galt. Er lebt noch heute in Berlin und arbeitet nicht nur zur Berliner Mauer, sondern an und mit ihrer Materie. Als die Mauer fiel, musste er sein künstlerisches Wirken überdenken. Zusammen mit anderen Künstlern aus dem In- und Ausland beteiligte er sich Anfang 1990 am Projekt der East Side Gallery, die größte Open-Air-Galerie auf mehr als einem Kilometer entlang des Spreeufers. Diese Initiative trug dazu bei, das Wesen der Mauer zu verändern: Einst Teil des ostdeutschen Systems von Unterdrückung und Tod, wird sie zu einem eigenständigen Kunstwerk, das sich die Berliner*innen (verstanden als die internationale Gemeinschaft in Berlin) und wahrscheinlich viele Menschen darüber hinaus aneigneten. Die naiven und farbenfrohen Köpfe von Noir gehören zu den mentalen Repräsentationen Berlins, die in Frankreich weit verbreitet sind (wie in Reiseführern und touristischen Sehenswürdigkeiten gezeigt wird) und für den französischsten unter den Berliner Künstlern einen Bedeutungswandel durchlaufen haben: „Damals habe ich gemalt, um die Mauer verschwinden zu lassen, und jetzt male ich, um sie zu erhalten.“
Fazit
Heute geht es bei der Mauer, in der französischen wie auch in anderen Kulturen, um die Frage nach den Spuren, die sie hinterlassen hat, sowohl in materieller wie in memorieller Hinsicht. Während Thierry Noir 2014 anlässlich großer Gedenkfeiern noch Elemente der alten Mauer malte, thematisierten französische Liedermacher wie Jean-Jacques Goldmann in „Ensemble“ [Zusammen] 2001 bereits die Erinnerung an dieses Symbol des Kalten Krieges und bedauerten, dass das Erleben der Mauer in Vergessenheit geriete: „Etait-ce mai, novembre“. Mit Ironie und Absurdität nähert sich die französische Kultur ihr bisweilen heute: In „Mauer“ (2004) besingt Sébastien Tellier auf Deutsch das Bedauern einer Tennisspielerin, die im Training gegen die Mauer spielte, nun aber ihren „Partner“ verloren hat.
Die Populärkultur thematisierte die „Ostalgie“ hingegen kaum, weniger als einige politische und intellektuelle Persönlichkeiten, die kapitalismuskritisch oder nostalgisch dem verpassten „dritten Weg“ nachtrauern. Es überrascht nicht, dass die Berliner Mauer heute die französische Populärkultur weniger inspiriert, obwohl sie während des Kalten Krieges ein immer wiederkehrendes Thema war, vielleicht, weil es in Frankreich keinen Ort gibt, der einen solchen ideologischen Antagonismus symbolisiert; vielleicht auch, weil Berlin, wo die Franzosen als Verbündete präsent waren, besonders stark bei denjenigen nachhallte, die ihren Militärdienst in der Nähe der Mauer abgeleistet hatten.
Französische Künstler vermieden vor 1990 zumeist die direkte politische Aussage. Sie formulierten ihre Kritik an den Verhältnissen in Berlin eher über das Intime, die unvermeidliche Liebesgeschichte, die Opfer der Teilung wird und unter der Trennung der Liebenden leidet. Für die einen Liebespaare verhindert die Mauer eine glückliche Zukunft, doch triumphiert die Liebe in anderen Fällen über die Politik. Für viele ist die Mauer unüberwindlich, doch erscheint sie bisweilen doch auch als ein fragiles Gebilde, das überwunden werden kann.
Insgesamt folgt der Umgang mit der Mauer in der französischen Kultur einer Entwicklung, die auch anderswo zu beobachten ist: eine ideologische Konfrontation in den ersten Jahren, gefolgt von einem komplexeren und vielfältigeren Diskurs sowie Freude, Hoffnung und erste Sorgen nach ihrem Fall.
Allgemein wurde die Mauer in Frankreich zum einen als Teil der deutschen Geschichte, zum anderen als ein symbolischer und universeller Ort des Kalten Krieges wahrgenommen. Doch dank der Kühnheit der französischen Straßenkünstler Christophe Bouchet und Thierry Noir hat die Mauer seit 35 Jahren auch eine deutsch-französische (Nach-)Geschichte.
Zitierweise: Corine Defrance, "Die Darstellungen der Berliner Mauer in der französischen Populärkultur", in: Deutschland Archiv, 09.06.2020, Link: www.bpb.de/311233.
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